FG Münster, Beschluss vom 16.06.2020 - 4 V 1584/20 AO
Fundstelle
openJur 2020, 31519
  • Rkr:
Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Antragstellerin.

Die Beschwerde wird zugelassen.

Gründe

I.

Die verheiratete Antragstellerin betreibt unter der rubrizierten Anschrift eine Imbissgaststätte "H". Aus dem Betrieb, in dem auch ihr Ehemann mitarbeitet, wird der Lebensunterhalt der Eheleute bestritten. Die Antragstellerin unterhält u.a. bei der E-Bank, ein Bankkonto mit der IBAN DExxxxxxxxxx (im Folgenden: E-Bank-Konto), das als Pfändungsschutzkonto geführt wird.

Nach erfolglosen Versuchen, wegen Steuerrückständen zu vollstrecken, und unter Hinweis auf die fehlende wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Antragstellerin regte der Antragsgegner bei der Stadt N im April 2016 die Einleitung eines Gewerbeuntersagungsverfahrens nach § 35 der Gewerbeordnung an.

Wegen rückständiger Steuerbeträge in Höhe von rd. xxxx € (insbesondere Umsatzsteuer) erließ der Antragsgegner unter dem 18.07.2016 betreffend das E-Bank-Konto eine Pfändungs- und Einziehungsverfügung, die die Antragstellerin nach Aktenlage nicht anfocht. Diese Verfügung schränkte der Antragsgegner im August 2016 nach einer Teilzahlung der Antragstellerin auf xxxx € ein.

Im März 2018 hatten sich die Steuerrückstände auf xxxx € erhöht und der Antragsgegner übersandte diesbezügliche Unterlagen betreffend die Einleitung des Gewerbeuntersagungsverfahrens an den Kreis N. Der Kreis leitete das Verfahren - dessen Ausgang bzw. Verfahrensstand dem Senat nicht bekannt ist - ein.

Einen Ratenzahlungsantrag der Antragstellerin lehnte der Antragsgegner bei einem Steuerrückstand von xxxx € im Juni 2018 ab.

Wegen rückständiger Steuerbeträge in Höhe von rd. xxxx € (insbesondere Umsatzsteuer) erließ der Antragsgegner in Bezug auf das E-Bank-Konto unter dem 08.08.2017 eine (weitere) Pfändungs- und Einziehungsverfügung, die die Antragstellerin nach Aktenlage nicht anfocht.

Nachdem ein neuerlicher Vollstreckungsversuch des Antragsgegners im März 2019 bei der Antragstellerin fruchtlos verlaufen war, bat er beim Kreis N bei Steuerrückständen von xxxx € um Fortsetzung des Gewerbeuntersagungsverfahrens und lud die Antragstellerin zur Abgabe der Vermögensauskunft. Dem kam die Antragstellerin im Mai 2019 nach und gab im Vermögensverzeichnis u.a. an, dass sie xxx € im Rahmen eines Minijobs als Arbeitnehmerin verdiene und ein Erwerbsgeschäft mit einem monatlichen Gewinn von ca. xxxx € führe.

Auf Antrag der Antragstellerin vom 01.04.2020 bewilligte die Bezirksregierung B-Stadt der Antragstellerin mit Bewilligungsbescheid vom selben Tag einen Billigkeitszuschuss aus dem Soforthilfeprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen ("NRW-Soforthilfe 2020") gem. § 53 Landeshaushaltsordnung (LHO) i. V. m. dem Bundesprogramm "Soforthilfen für Kleinstunternehmer und Soloselbständige" (im Folgenden: Corona-Soforthilfe) in Höhe von 9.000 €; auf den Bewilligungsbescheid wird wegen der Einzelheiten, insbesondere im Hinblick auf die Zweckbindung der Corona-Soforthilfe sowie die Nebenbestimmungen, Bezug genommen. Die Antragsunterlagen der Antragstellerin liegen dem Senat nicht vor.

Aufgrund von Problemen bei der Auszahlung der Corona-Soforthilfe auf das von der Antragstellerin zunächst angegebene Konto bei der G-Bank erfolgte die Auszahlung erst am 18.05.2020, und zwar nunmehr auf das E-Bank-Konto der Antragstellerin.

Einen außergerichtlichen Antrag der Antragstellerin vom 20.05.2020, die Kontenpfändung betreffend das E-Bank-Konto einstweilen einzustellen, um die Auszahlung der Corona-Soforthilfe zu ermöglichen, lehnte der Antragsgegner am 27.05.2020 ab. Er wies darauf hin, dass die Corona-Soforthilfe u.a. voraussetze, dass nicht bereits vor dem 01.03.2020 ein Liquiditätsengpass bestanden habe (Ziffer 6.2 des Antragsformulars). Es bestehe die Möglichkeit, mit entsprechenden Nachweisen einen Antrag auf Pfändungsschutz nach Maßgabe des § 319 der Abgabenordnung (AO) und der §§ 850 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO) zu stellen.

Die Antragstellerin hat unter Berufung auf den Beschluss des Finanzgerichts (FG) Münster vom 13.05.2020 1 V 1286/20 AO Antrag auf einstweilige Anordnung gestellt. Sie macht geltend, dass sie auf eine Auszahlung der Corona-Soforthilfe in Höhe von 9.000 € dringend angewiesen sei, weil die Imbissgaststätte ihre Lebensgrundlage darstelle und diese infolge der COVID-19-Pandemie zwangsweise behördlich geschlossen worden sei.

Die Corona-Soforthilfe solle finanzielle Nachteile aufgrund der Zwangsschließungen ausgleichen und die Begleichung unaufschiebbarer Betriebskosten sicherstellen; diese seien in erheblichem Umfang auch bei ihr angefallen. Die Antragstellerin erläutert hierzu, dass sie aufgrund des bestehenden Pfändungsschutzes auf dem Konto bislang 1.073 € habe abheben können. Dies genüge indessen schon nicht, um Miete (3 x 1.000 €), Strom (3 x 460 €) und Versicherungen ("700 € gestundet bis September") zu begleichen, sodass insgesamt 5.080 € dringend zur Zahlung benötigt würden. Ihre Umsätze seien durch die Pandemie um mindestens 60 % zurückgegangen; hieraus seien die fälligen laufenden Ausgaben nicht zu bestreiten.

Die E-Bank habe eine Auszahlung eines Betrages in Höhe der Soforthilfe unter Hinweis auf die Pfändungs- und Einziehungsverfügung des Antragsgegners abgelehnt, weil der Soforthilfe-Betrag nicht dem Pfändungsschutz unterliege und infolgedessen eine entsprechende Bestätigung des Pfändungsgläubigers erforderlich wäre.

Die Antragstellerin beantragt,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die gegen die Antragstellerin bei der E-Bank zugestellte Pfändungs- und Einziehungsverfügung aufzuheben bzw. zeitlich zu begrenzen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen,

hilfsweise die Beschwerde zuzulassen.

Der Antragsgegner hält den Antrag auf Vollstreckungsaufschub für unzulässig, weil die Antragstellerin einen Antrag nach § 319 AO, § 850k Abs. 4 ZPO stellen könne. Ein solcher könne allerdings nicht bereits im Schreiben vom 20.05.2020 gesehen werden, weil sie keinen Nachweis für notwendige Betriebsausgaben erbracht habe und der Antragsgegner die Notwendigkeit der Erhöhung des Pfändungsfreibetrages nicht prüfen könne.

Es bestehe auch kein Anspruch auf Vollstreckungsaufschub. Die Pfändung sei nicht nur nicht unbillig. Die Antragstellerin verhalte sich auch treuwidrig, wenn sie sich auf die Unpfändbarkeit berufe. Denn sie habe auf die Corona-Soforthilfe ersichtlich keinen Anspruch, weil bei ihr bereits vor dem 01.03.2020 ein Liquiditätsengpass bestanden habe; ihr Antrag bei der Bezirksregierung sei insofern zumindest unvollständig gewesen. Die Antragstellerin habe bei ihm, dem Antragsgegner, Steuerrückstände aus der Umsatzsteuer ab dem Veranlagungszeitraum 2014 und aus der Einkommensteuer ab dem Veranlagungszeitraum 2016. Die aktuellen Steuerrückstände beliefen sich auf yyyyy €. Zudem sei ein Gewerbeuntersagungsverfahren eingeleitet und die Antragstellerin habe eine Vermögensauskunft abgegeben.

Es fehle auch an einem Grund für die beantragte einstweilige Anordnung. Es bestehe Pfändungsschutz über § 850k ZPO. Die Antragstellerin habe zudem nicht hinreichend konkret deutlich gemacht, dass die von ihr angegebenen Aufwendungen überhaupt der betrieblichen Sphäre zuzuordnen seien, geschweige denn, dass eine Bedrohung der persönlichen oder wirtschaftlichen Existenz zu befürchten sei. Es erscheine denkbar, dass sie Rücklagen gebildet habe oder die Schließung des Betriebes durch Darlehensverträge überbrücken könne.

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

II.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig, aber unbegründet.

1. Der Antrag ist allein als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Sinne des § 114 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu verstehen. Das ergibt sich bereits aus der ausdrücklichen Bezeichnung durch den fachkundigen Prozessvertreter der Antragstellerin. Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass das Ziel der Antragstellerin, eine (einstweilige) Auskehrung bzw. Freigabe der Corona-Soforthilfe zu erreichen, durch einen im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes grundsätzlich auch in Betracht zu ziehenden Antrags auf Aussetzung und/oder Aufhebung der Vollziehung nach § 69 FGO nicht erreicht werden könnte. Sämtliche für das Antragsbegehren in Betracht zu ziehende Anträge müssten in der Hauptsache mit einer Verpflichtungsklage durchgesetzt werden, für die im einstweiligen Rechtsschutz die einstweilige Anordnung einschlägig ist. Dies gilt unbeschadet dessen, ob man das Begehren, wie es die Antragstellerin tut, als Antrag auf Vollstreckungsaufschub gemäß § 258 AO oder als Antrag auf Änderung der (auch unter Berücksichtigung der Jahresfrist des § 356 Abs. 2 AO bestandskräftigen) Pfändungs- und Einziehungsverfügung oder als Antrag auf Erhöhung des Pfändungsschutzbetrages nach § 850k Abs. 4 ZPO, den der Antragsgegner für statthaft hält, verstünde.

2. Anschließend an diese Darlegungen ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dieser Zielsetzung auch zulässig. Insbesondere kann der Antragstellerin für ihr Begehren ein Rechtsschutzbedürfnis nicht unter Verweis auf eine vom Antragsgegner für einschlägig gehaltene Rechtsschutzmöglichkeit nach § 850k Abs. 4 ZPO,§ 319 AO abgesprochen werden. Denn das Anliegen der Antragstellerin ist im Ziel konkret und mit hinreichender Klarheit dargetan und der Senat hätte infolgedessen und aufgrund der aus seiner Sicht weithin ungeklärten Fragen zur einschlägigen Verfahrensweise bei der Pfändung der Corona-Soforthilfe keine Bedenken, die gerichtliche, aber auch die vorherige außergerichtliche Eingabe der Antragstellerin vom 20.05.2020 und die ablehnende Entscheidung des Antragsgegners rechtsschutzgewährend so auszulegen, dass der für das angestrebte Ziel gewählte Weg (mit-)beantragt war. Dies gilt wiederum - ohne dass sich der Senat insoweit festlegen müsste - sowohl für einen Vollstreckungsaufschub gemäß § 258 AO als auch für eine Änderung der bestandskräftigen Pfändungs- und Einziehungsverfügung als auch für einen Antrag auf Erhöhung des Pfändungsschutzbetrages nach § 850k Abs. 4 ZPO.

3. Der Antrag ist indessen schon deshalb nicht begründet, weil es an einem Anordnungsgrund fehlt.

a) Nach § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (so genannte Regelungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind - was im Streitfall, wie dargelegt, nicht problematisch ist - gegenüber der Aussetzung der Vollziehung subsidiär (§ 114 Abs. 5 FGO).

Nach § 114 Abs. 3 FGO i. V. m. § 920 ZPO obliegt es dem Antragsteller, den Anspruch, aus dem er sein Begehren herleitet (sog. Anordnungsanspruch) und einen Grund für die zu treffende Regelung (sog. Anordnungsgrund) schlüssig darzulegen und deren tatsächliche Voraussetzungen im Sinne des § 294 ZPO glaubhaft zu machen (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 22.12.2006 VII B 121/06, BFHE 216, 38, BStBl II 2009, 839, m. w. N.).

b) Ein derartiger Anordnungsgrund besteht, wenn eine einstweilige Regelung in Bezug auf das streitige Rechtsverhältnis zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Das ist der Fall, wenn ohne eine vorläufige Regelung die wirtschaftliche oder persönliche Existenz des Antragstellers bedroht wäre (BFH-Beschluss vom 22.12.2006 VII B 121/06, a.a.O., m. w. N.). Es müssen daher die durch etwaige Vollstreckungsmaßnahmen ausgelösten Folgen über das hinausgehen, was typischerweise mit der Pflicht zur Steuerzahlung und deren Vollziehung verbunden ist (vgl. m. w. N. Gosch in Gosch, AO/FGO, § 114 Rz. 49 f., s. auch BFH-Beschlüsse vom 15.01.2003 V S 17/02, BFH/NV 2003, 738, vom 15.12.1992 VII B 131/92, BFH/NV 1993, 460 und vom 18.04.1989 VII B 226/88, BFH/NV 1990, 687; s. auch FG München, Beschluss vom 18.08.2011 4 V 2050/11, juris.de).

Dies gilt insbesondere, wenn nicht nur eine vorläufige Maßnahme begehrt wird, sondern die Vorwegnahme der Hauptsache. Denn ein solches Rechtsschutzziel widerspricht grundsätzlich der Funktion des vorläufigen Rechtsschutzes. Eine Regelungsanordnung darf nach ständiger Rechtsprechung nur eine einstweilige Regelung enthalten und das Ergebnis des Hauptprozesses nicht vorwegnehmen oder diesem endgültig vorgreifen. Etwas anderes gilt im Hinblick auf das Gebot effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) nur dann, wenn ohne vorläufigen Rechtsschutz schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BFH-Beschluss vom 27.01.2016 VII B 119/15, BFH/NV 2016, 1586).

Eine Regelungsanordnung im Sinne des § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO kann ferner erlassen werden, wenn zwar nicht die Existenz des Antragstellers von der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes abhängt, aber die Rechtslage klar und eindeutig für die begehrte Regelung spricht und eine abweichende Beurteilung in einem etwa durchzuführenden Hauptverfahren zweifelsfrei auszuschließen ist. In diesem Fall steht auch der Gesichtspunkt einer Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache dem Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht entgegen (BFH-Beschluss vom 13.11.2002 I B 147/02, BFHE 201, 80, BStBl II 2003, 716)

c) Nach diesen Maßgaben liegt ein Anordnungsgrund im Streitfall zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vor. Dies gilt erst recht unter Berücksichtigung der einschlägigen Einschränkungen für eine Vorwegnahme der Hauptsache, die im Streitfall mit der Auskehrung bzw. Freigabe der Corona-Soforthilfe angestrebt wird.

aa) Bereits aus dem pauschalen Vorbringen der Antragstellerin selbst, sie sei auf die Corona-Soforthilfe in Höhe von 9.000 € dringend angewiesen, um laufende Ausgaben zu begleichen, ergibt sich das erforderliche unabweisbare Bedürfnis für eine einstweilige Anordnung nicht, geschweige denn für eine Vorwegnahme der Hauptsache. Die Antragstellerin hat nicht ansatzweise dargetan, welche Folgen sich ergäben, wenn der Senat die einstweilige Anordnung nicht erlassen würde, geschweige denn, welche gravierenden Nachteile - im Sinne einer Bedrohung der wirtschaftlichen Existenz - sie zu befürchten hätte. Ihr Vortrag lässt schon nicht erkennen, dass sie die 9.000 € überhaupt in Gänze benötigt, um die von ihr angegebenen offenen Rechnungen zu begleichen. Sie beziffert lediglich Zahlungsverpflichtungen in Höhe von 5.080 €, von denen im Übrigen nach eigenen Angaben der Antragstellerin 700 € für Versicherungsprämien bereits bis September 2020 gestundet worden sind, die Antragstellerin also aktuell nicht belasten. Dass sich eine Existenzbedrohung ergäbe, wenn die Corona-Soforthilfe nicht umgehend zur Verfügung gestellt würde, ist bereits hieraus nicht zu erkennen. Es kommt hinzu, dass die Antragstellerin nichts dazu mitteilt, ob der Versuch, eine Stundung auch der Miet- und Stromrechnungen zu erreichen, unternommen worden ist. Ferner berücksichtigt die Antragstellerin in ihrem Vorbringen nicht, dass mit dem Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27.03.2020 (BGBl I 2020, 569) mit Wirkung zum 01.04.2020 eine Reihe von Erleichterungen für Schuldner ins Werk gesetzt worden sind, wie z.B. eine Beschränkung der Kündigung von Miet- und Pachtverhältnissen wegen pandemiebedingter Mietrückständen (nunmehr Art. 240 § 2 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch - EGBGB -) sowie ein Leistungsverweigerungsrecht für Verbindlichkeiten aus (sonstigen) Dauerschuldverhältnissen für Kleinstunternehmen (nunmehr Art. 240 § 2 EGBGB).

Auch in der Darstellung ihrer Situation auf der Einnahmeseite bleibt die Antragstellerin vage, wenn sie vorträgt, ihre Umsätze seien durch die COVID-19-Pandemie um "mindestens 60 % zurückgegangen". Der Senat hat angesichts dessen keinerlei Vorstellung davon, welche konkreten Umsätze die Antragstellerin seit Beginn der Pandemie erzielt hat und wie sich die betriebliche Situation zum derzeitigen Zeitpunkt konkret darstellt. Zwischenzeitlich sind die behördlichen pandemiebedingten Einschränkungen weithin abgemildert worden, sodass der Senat - mangels anderweitigen Vortrags - davon ausgeht, dass der Geschäftsbetrieb der Antragstellerin ebenfalls wieder aufgenommen worden ist. Zwar ist dem Senat bekannt, dass sich Restaurationsumsätze trotz der jüngsten "Wiedereröffnung" der Gastronomie im Allgemeinen noch nicht näherungsweise auf dem Niveau der "Vor-Pandemie-Zeit" befinden. Das ändert aber nichts daran, dass sich die Umsatz-Einbußen sowohl während als auch nach der pandemiebedingten Schließung im Einzelfall deutlich unterscheiden können, und zwar unter anderen auch danach, ob ein Außer-Haus-Verkauf möglich und bei der Kundschaft üblich ist.

Es kann in diesem Zusammenhang auch nicht zugunsten der Antragstellerin ausgelegt werden, dass die Antragstellerin bereits im März 2020 über Steuerrückstände in beträchtlicher Höhe verfügte. Wenngleich man hier prima facie erhebliche Zahlungsschwierigkeiten vermuten muss, kann dies schon deshalb nicht ohne weiteres zu einem Anordnungsgrund führen, weil Steuerrückstände bereits seit einigen Jahren in beträchtlicher Höhe bestehen und die Antragstellerin ihren Betrieb unbeschadet dessen fortführen konnte.

bb) Der Senat hält es auch nicht für überzeugend, allein aufgrund der Zwecksetzung der Corona-Soforthilfe, die der Milderung krisenbedingter Einbußen dient, von einem Anordnungsgrund auszugehen, der zur Vorwegnahme der Hauptsache berechtigen würde. Zwar mag man - wie es die Antragstellerin und jedenfalls im Ergebnis auch der 1. Senat (FG Münster, Beschluss vom 13.05.2020 1 V 1286/20 AO) und der 11. Senat (FG Münster, Beschlüsse vom 29.05.2020 11 V 1496/20 AO, vom 08.06.2020 11 V 1541/20 AO) tun - dafür halten, dass von einer Unpfändbarkeit des Anspruchs auf die Corona-Soforthilfe im Sinne des § 851 Abs. 1 ZPO auszugehen ist sowie auch davon, dass sich diese Unpfändbarkeit - entgegen den allgemeinen Grundsätzen (s. etwa Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 319 AO Rz. 7) - auch bei der Auszahlung auf das (Pfändungsschutz-)Konto und ohne gesonderte Pfändungsschutzregelung im einschlägigen § 850k ZPO perpetuiert. All das ändert indessen nichts an den allgemeinen verfahrensrechtlichen Vorgaben des § 114 FGO für eine Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutz. Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Antragstellerin die Corona-Soforthilfe nach den Bewilligungsbestimmungen nicht dazu verwenden dürfte, "Alt-Verbindlichkeiten" gegenüber dem Antragsgegner zu tilgen. Diese Implikationen unter Berücksichtigung der eingangs angedeuteten, verschiedenen in Betracht kommenden Möglichkeiten im Einzelnen zu bewerten, ist jedoch Gegenstand des beim Antragsgegner anhängigen Hauptsacheverfahrens betreffend die Auskehrung bzw. Freigabe der Corona-Soforthilfe. Es fehlt aber im Streitfall, wie dargelegt, gerade an einem unabweisbaren Bedürfnis sofort und im nur summarischen Verfahren über die Freigabe der Soforthilfe zu entscheiden und die Antragstellerin in den Stand zu versetzen, diese nach eigenem Ermessen zu verausgaben und mithin die Hauptsache (voraussichtlich irreversibel) vorwegzunehmen. Der Senat hält es zudem für möglich und nach den Nebenbestimmungen des Bewilligungsbescheides auch für zulässig, dass eine Verwendung für die im dreimonatigen Bewilligungszeitraum aufgelaufenen Verbindlichkeiten erst zu einem Zeitpunkt nach Ablauf des Bewilligungszeitraums erfolgt, wenn und weil die Antragstellerin (schuldlos) erst später die Verfügungsbefugnis über die Beträge erlangt hat. Es ist für den Senat jedenfalls nicht erkennbar, wie dies dem Zweck der Soforthilfe zuwiderlaufen sollte.

Abgesehen davon gibt auch die vorgesehene Verfahrensweise bei der Bewilligung der Corona-Soforthilfe - unabhängig vom konkreten Fall - keinen Anlass dafür, ohne weiteres von einem Anordnungsgrund auszugehen. Denn die Prüfung der Anspruchsvoraussetzungen für die Soforthilfe sollte und konnte vor Bewilligung und Auszahlung der Soforthilfe (schon aus praktischen Gründen) nicht erfolgen. Vielmehr soll dies (ggf.) erst im Nachgang erfolgen und erforderlichenfalls in eine Rückforderung münden. Damit ist- unbeschadet der Zwecksetzung der Soforthilfe - nicht mit der Auszahlung zugleich entschieden, dass die Anspruchsvoraussetzungen für die Auszahlung tatsächlich vorgelegen haben, geschweige denn, dass sich der Empfänger in einer existenzbedrohenden Situation befindet. Allein die Zwecksetzung bzw. -bindung der Corona-Soforthilfe kann angesichts dessen für die Annahme eines Anordnungsgrundes nicht ohne weiteresausreichen, wenn und weil eine Existenzgefährdung nicht zumindest andeutungsweise erkennbar ist; dies gilt jedenfalls dann, wenn der Sachverhalt greifbare Anhaltspunkte dafür bietet, dass der Bewilligungsbescheid aufzuheben sein könnte, weil die Anspruchsvoraussetzungen für die Soforthilfe nicht vorgelegen haben. Dies erscheint im Streitfall, ohne dass der Senat das im summarischen Verfahren, zumal ohne Kenntnis des von der Antragstellerin ausgefüllten Antragsformulars, abschließend beurteilen könnte, aufgrund der bereits vor dem 01.03.2020 bestehenden hohen Steuerrückstände und hierdurch begründeter "wirtschaftlicher Schwierigkeiten bzw. Liquiditätsengpässe" mindestens nicht fernliegend.

Mit der Frage, ob eine "Tatbestandswirkung" des (ressortfremden) Bewilligungsbescheides hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen im konkreten Fall besteht (vgl. etwa BFH-Urteil vom 15.03.2012 III R 82/09, BFHE 236, 539, BStBl II 2013, 226), hat das im Rahmen des Anordnungsgrundes nichts zu tun.

cc) Die begehrte Vorwegnahme der Hauptsache ist im Streitfall auch nicht ausnahmsweise deshalb zulässig, weil ein Misserfolg der Antragstellerin in der Hauptsache zweifelsfrei ausgeschlossen werden könnte. Die Rechtslage erscheint dem Senat insoweit ungeklärt. Er hat insofern bereits eingangs dargelegt, dass für das Rechtsschutzziel der Antragstellerin aus seiner Sicht verschiedene Begründungen gefunden werden können. Die von der Antragstellerin in Bezug genommene Begründung des 1. Senats im Beschluss vom 13.05.2020 1 V 1286/20 AO ist nachvollziehbar, erscheint aber nicht alternativlos. So ließe sich gegen eine Gewährung eines Vollstreckungsaufschubes nach § 258 AO in der vorliegenden Konstellation zum einen ins Feld führen, dass nach dieser Vorschrift einstweilige Maßnahmen - herkömmlich - nur dann in Betracht kommen, wenn vorübergehende Umstände vorliegen, die eine Vollstreckung unbillig erscheinen lassen. Umstände, die - wie hier die Freigabe der Corona-Soforthilfe aufgrund ihrer Zweckbindung/Unpfändbarkeit - zu einer dauerhaften Einstellung oder Beschränkung der Vollstreckung Anlass geben, können bei der Anwendung des § 258 AO nicht berücksichtigt werden (vgl. BFH-Beschluss vom 08.12.1992 VII B 150/92, BFH/NV 1993, 709). Zum anderen ließe sich der Standpunkt einnehmen, dass die (angenommene) Unpfändbarkeit des Corona-Soforthilfe-Betrages nicht zur Unbilligkeit, sondern zur Rechtswidrigkeit der Pfändung oder gar nur zu nachträglich eingetretenen Tatsachen führt. Aber selbst die Annahme der Unpfändbarkeit des Corona-Soforthilfe-Betrages erscheint nicht gänzlich frei von Bedenken. Zum einen tragen die dahingehenden Argumente zwar ohne weiteres die Unpfändbarkeit nach § 851 Abs. 1 ZPO des Anspruches auf die Corona-Soforthilfe selbst. Nicht dieser, sondern das (durch die Auszahlung erhöhte) Kontoguthaben ist indessen Gegenstand der Pfändungs- und Einziehungsverfügung und dessen Pfändungsschutz richtet sich nach § 850k ZPO. Zwar hat der Bundesgerichtshof (BGH) die Unpfändbarkeit eines Anspruchs nach § 851 Abs. 1 ZPO - freilich in einer sehr besonderen Situation und zu § 850k ZPO a.F. - auf den gutgeschriebenen Erfüllungsbetrag durchschlagen lassen (BGH-Beschluss vom 29.03.2006 VII ZB 31/05, NJW 2006, 2040). Es erscheint dem Senat indessen im formalisierten Zwangsvollstreckungsrecht jedenfalls nicht unvertretbar anzunehmen, dass das auf die unpfändbare Forderung vereinnahmte Geld im Grundsatz pfändbar ist (so Loose in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 319 AO Rz. 7). Richtet sich der Pfändungsschutz bei Kontoguthaben indessen allein nach § 850k ZPO, könnte dort gerade kein Schutzmechanismus für die auf dem Konto eingegangene Soforthilfe einschlägig sein (so FG Münster, Beschlüsse vom 13.05.2020 1 V 1286/20 AO; vom 29.05.2020 11 V 1496/20 AO und vom 08.06.2020 11 V 1541/20 AO; Landgericht Köln, Beschluss vom 23.04.2020 39 T 57/20, abrufbar bei juris.de, a.A. Amtsgerichts Passau vom 07.05.2020 4 M 1551/20, abrufbar bei juris.de).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Beschwerde lässt der Senat nach § 128 Abs. 3 FGO, § 115 Abs. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung hinsichtlich des Verständnisses des Anordnungsgrundes sowie anlässlich weiterer, z.T. in der Beschwerde anhängiger Verfahren zur Thematik zu (FG Münster, Beschlüsse vom 13.05.2020 1 V 1286/20 AO; vom 29.05.2020 11 V 1496/20 AO; vom 08.06.2020 11 V 1541/20 AO).

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