Bayerischer VGH, Beschluss vom 03.11.2017 - 13a ZB 17.31228
Fundstelle
openJur 2020, 60866
  • Rkr:
Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.

II. Der Kläger hat die Kosten des Antragsverfahrens zu tragen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg vom 5. April 2017 ist unbegründet, weil die Voraussetzungen des § 78 Abs. 3 Nr. 1 und 3 AsylG nicht vorliegen.

Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung. Dieser Zulassungsgrund setzt voraus, dass die im Zulassungsantrag dargelegte konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war, ihre Klärung im Berufungsverfahren zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des Rechts geboten ist und ihr eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt (vgl. Happ in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 124 Rn. 36).

Der Kläger hält für klärungsbedürftig, ob

1. "für Angehörige der Zivilbevölkerung durch ihre Anwesenheit in Afghanistan aufgrund des Vorliegens eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib oder Leben im Sinne von § 4 I Satz 2 Nr. 3 AsylG in Verbindung mit Art. 15 c RL 2004/83/EG" besteht,

2. "dieser Personenkreis internen Schutz im Sinne von § 3e AsylG in anderen Landesteilen, insbesondere den afghanischen Großstädten finden" kann und 

3. "aufgrund der Situation in Afghanistan für Angehörige der Zivilbevölkerung von einem nationalen Abschiebeverbot im Sinne von § 60 V/VII Satz 1 AufenthG auszugehen" ist.

Der UNHCR habe in seiner Stellungnahme vom Dezember 2016 ("Anmerkungen von UNHCR zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministeriums des Innern") darauf hingewiesen, dass sich die Sicherheitslage seit April 2016 insgesamt nochmals deutlich verschlechtert habe. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum sei nach UNAMA ein Anstieg an Opfern um 4% zu verzeichnen. Auch sei eine Unterscheidung zwischen sicheren und unsicheren Gebieten aufgrund der sich ständig ändernden Sicherheitslage nicht möglich. Daher erwäge insbesondere der Innenminister von Schleswig-Holstein einen Abschiebestopp für Flüchtlinge aus Afghanistan. In einem jüngst erschienen Bericht habe die UNO auf die sich weiter verschlechternde Sicherheitslage in Afghanistan hingewiesen, ebenso Amnesty International am 22. Februar 2017. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden habe mit einem umfangreichen Beweisbeschluss vom 14. März 2017 der veränderten Situation Rechnung getragen. Das Bundesverfassungsgericht habe in seinem Beschluss vom 14. Dezember 2016 (Az. 1 BvR 2557/16) die Frage, ob angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan Abschiebungen derzeit verfassungsrechtlich vertretbar seien, ausdrücklich offen gelassen. Insgesamt sei jedenfalls eine neue Risikobewertung durch den Senat geboten.

Das Verwaltungsgericht hat zu § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ausgeführt, dem Kläger drohe bei einer Rückkehr nach Afghanistan keine ernsthafte individuelle Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts. Zwar sei von einem landesweiten bewaffneten Konflikt auszugehen, trotz der Zunahme der Gewalt könne aber weder für das ganze Land noch für einzelne Gebiete auf eine Extremgefahr im Sinn von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG geschlossen werden (UA S. 8 f.). Es hat dabei insbesondere auf die Opferzahlen Bezug genommen. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG hat das Verwaltungsgericht ebenfalls verneint (UA S. 9 ff.). Für den Kläger ergebe sich keine extreme allgemeine Gefahrenlage.

Das entspricht der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs. Dieser geht weiterhin davon aus, dass für die Zentralregion einschließlich der Herkunftsprovinz des Klägers, Logar, (und auch für ganz Afghanistan) die Voraussetzungen einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG nicht vorliegen und dass auch die Lage in Afghanistan nicht derart ist, dass eine Abschiebung ohne weiteres eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und subsidiärer Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG oder ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG anzunehmen wäre (BayVGH, B.v. 4.8.2017 – 13a ZB 17.30791 – juris unter Bezugnahme auf U.v. 12.2.2015 – 13a B 14.30309 – juris und Verweis auf BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12NVwZ 2013, 1167). Auch in Bezug auf § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist geklärt, dass für aus dem europäischen Ausland zurückkehrende afghanische Staatsangehörige angesichts der aktuellen Auskunftslage im Allgemeinen derzeit weiterhin nicht von einer extremen Gefahrenlage auszugehen ist, die zu einem Abschiebungsverbot in entsprechender Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG führen würde (BayVGH, B.v. 19.6.2017 – 13a ZB 17.30400 – juris; B.v. 4.1.2017 – 13a ZB 16.30600 – juris; U.v. 12.2.2015 a.a.O.; U.v. 30.1.2014 –13a B 13.30279 – juris).

Die klägerischen Ausführungen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bieten keinen Anlass, im Rahmen eines Berufungsverfahrens in eine erneute Risikobewertung einzutreten. Sie berücksichtigen nicht die Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Frage, wann eine für die Gewährung subsidiären Schutzes notwendige erhebliche individuelle Gefährdung anzunehmen sein kann (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4.09BVerwGE 136, 360 = NVwZ 2011, 56). Danach bedarf es für die Feststellung der erforderlichen Gefahrendichte einer wertenden Gesamtbetrachtung auf der Grundlage der quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos (BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13NVwZ-RR 2014, 487; U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10NVwZ 2012, 454). Ausgehend von mindestens 27 Millionen Einwohnern (vielfach wird eine höhere Bevölkerungszahl angenommen) und von 11.418 Opfern in Afghanistan (nach dem vom Kläger genannten Positionspapier von Amnesty International vom 22.2.2017) liegt die Gefahrendichte im Jahr 2016 landesweit erheblich unter 0,12% oder 1:800. Selbst dieses Risiko wäre weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entfernt (BVerwG, B.v. 17.11.2011, a.a.O. Rn. 23). Auch die bisher bekannt gewordenen Zahlen für 2017 liegen in etwa in dieser Größenordnung.

Aus den auch vom Kläger genannten Anmerkungen des UNHCR vom Dezember 2016, die sich auf die UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 beziehen, wonach sich die Sicherheitslage nochmals deutlich verschlechtert habe, folgt nichts anderes. Vor dem Hintergrund anhaltender Besorgnis in Bezug auf die Sicherheitslage werden dort Empfehlungen für den Schutzbedarf ausgesprochen und verschiedene Risikoprofile aufgezeigt, ohne dass Zahlen genannt würden, die die bisherige Einschätzung des Verwaltungsgerichtshofs in Frage stellen könnten. Die dortige Bewertung beruht zudem auf den vom UNHCR selbst angelegten Maßstäben. Des Weiteren sind auch nach dessen Auffassung alleinstehende, leistungsfähige Männer und verheiratete Paare im berufsfähigen Alter in der Lage, ohne Unterstützung von Familie und Gemeinschaft in urbanen und semi-urbanen Umgebungen zu leben (Richtlinien vom 19.4.2016 S. 10). Aus den sonstigen Ausführungen im Zulassungsantrag ergeben sich ebenfalls keine anderen Ausgangsdaten, die darauf schließen ließen, dass die vom Verwaltungsgericht und vom Verwaltungsgerichtshof zugrunde gelegten Erkenntnisse zwischenzeitlich unrichtig oder überholt wären. Dies gilt sowohl hinsichtlich des subsidiären wie des nationalen Abschiebungsschutzes. Die – mittlerweile umgesetzten – Überlegungen des Innenministers von Schleswig-Holstein zu einem Abschiebestopp basieren auf politischen Erwägungen. Der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Dezember 2016 (B.v. 14.12.2017 – 2 BvR 2557/16 – NVwZ-RR 2017, 208) lag ein Folgeantrag eines afghanischen Asylbewerbers zugrunde, dessen Erstverfahren rund 30 Monate zurücklag und dem der Folgeantragsbescheid noch nicht bekannt gegeben worden war. Hier bedürfe es der Überprüfung, ob es Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gebiete, in Fällen der Mitteilung des Bundesamts an die Ausländerbehörde nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG nicht vorliegen, das Bundesamt zur Offenlegung der Gründe hierfür zu verpflichten und dem Asylbewerber Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (BVerfG a.a.O. Rn. 13). Ein Anlass zu einer Neubewertung der bekanntlich angespannten Sicherheitslage ergibt sich weder hieraus noch aus dem vom Kläger genannten Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichts Wiesbaden.

Der weiteren Frage, ob in Afghanistan Schutzalternativen im Sinne von § 3e AsylG bestehen, kann bereits deshalb keine grundsätzliche Bedeutung zukommen, weil diese einer allgemeinen Klärung nicht zugänglich ist. Ihre Beantwortung hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere den individuellen Verhältnissen des Klägers ab, vgl. § 3e Abs. 2 AsylG i.V.m. Art. 4 Richtlinie 2011/95/EU.

Auch ein Verfahrensmangel nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i.V.m. § 138 Nr. 3 VwGO liegt nicht vor. Der Kläger rügt insoweit, das Verwaltungsgericht habe gegen seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verstoßen, indem es seinen in der mündlichen Verhandlung vom 30. März 2017 hilfsweise gestellten Beweisantrag trotz der sich immer weiter verschlechternden Situation in Afghanistan abgelehnt habe.

Das rechtliche Gehör als prozessuales Grundrecht (Art. 103 Abs. 1 GG) sichert den Parteien ein Recht auf Information, Äußerung und Berücksichtigung mit der Folge, dass sie ihr Verhalten eigenbestimmt und situationsspezifisch gestalten können, insbesondere dass sie mit ihren Ausführungen und Anträgen gehört werden (BVerfG, B.v. 30.4.2003 – 1 PBvU 1/02BVerfGE 107, 395/409 = NJW 2003, 1924). Die Ablehnung eines erheblichen Beweisangebots verstößt gegen Art. 103 Abs. 1 GG, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze mehr findet (BVerfG, B.v. 18.6.1993 – 2 BvR 1815/92NVwZ 1994, 60 = juris Rn. 39; B.v. 30.1.1985 – 1 BvR 393/84BVerfGE 69, 141/144 = NJW 1986, 833; BayVerfGH, E.v. 26.4.2005 – Vf. 97-VI-04VerfGH 58, 108 = BayVBl 2005, 721). Liegen zu einer erheblichen Tatsache bereits amtliche Auskünfte oder gutachtliche Stellungnahmen vor, richtet sich die im Ermessen des Gerichts stehende Entscheidung über einen Antrag auf Einholung weiterer Auskünfte oder Gutachten nach § 98 VwGO i.V.m. § 412 Abs. 1 ZPO. Danach kann das Gericht eine weitere Begutachtung anordnen, wenn es die vorliegenden Auskünfte oder Gutachten ohne Rechtsverstoß für ungenügend erachtet (§ 412 Abs. 1 ZPO); einer erneuten Begutachtung bedarf es jedenfalls dann nicht, wenn das Gegenteil der erneut behaupteten Tatsache bereits erwiesen ist (§ 244 Abs. 4 Satz 2 Halbs. 2 StPO). Ungenügend sind Auskünfte und Gutachten insbesondere dann, wenn sie erkennbare Mängel aufweisen, etwa unvollständig, widersprüchlich oder sonst nicht überzeugend sind, wenn das Gutachten von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht oder wenn der Gutachter erkennbar nicht sachkundig ist bzw. Zweifel an seiner Unparteilichkeit bestehen. Das gerichtliche Ermessen kann sich auch dann zu der Pflicht neuerlicher Begutachtung verdichten, wenn durch neuen entscheidungserheblichen Sachvortrag der Beteiligten oder eigene Ermittlungstätigkeit des Gerichts die Aktualität der vorliegenden Auskünfte zweifelhaft oder wenn sonst das bisherige Beweisergebnis ernsthaft erschüttert wird. Schließlich kann die Erforderlichkeit der Einholung weiterer Auskünfte oder Gutachten auch darauf beruhen, dass die Fragestellung der bisherigen Gutachten sich auf Grund tatsächlicher Entwicklungen oder wegen einer Rechtsprechungsänderung als unzureichend erweist. Reichen indes die in das Verfahren bereits eingeführten Erkenntnismittel zur Beurteilung der geltend gemachten Gefahren aus, kann das Gericht einen Beweisantrag auf Einholung weiterer Auskünfte unter Berufung auf eigene Sachkunde verfahrensfehlerfrei ablehnen, wenn es seine Sachkunde ggf. im Rahmen der Beweiswürdigung darstellt und belegt (BVerwG, B.v. 27.3.2013 – 10 B 34.12NVwZ-RR 2013, 620 = juris Rn. 4; B.v. 3.2.2010 – 2 B 73.09 – juris Rn. 9; B.v. 8.3.2006 – 1 B 84.05 – juris Rn. 7; stRspr.).

Gemessen hieran war dem Kläger das rechtliche Gehör nicht versagt. Das Verwaltungsgericht hat den 12 Hauptpunkte umfassenden, den Beweisbeschluss des Verwaltungsgerichts Wiesbaden vom 14. März 2017 (Az.7 K 1757/16.WI/A) wiederholenden Beweisantrag mit ausführlicher Begründung im Urteil vom 5. April 2017 abgelehnt. Es handele sich zum Teil um die Bewertung rechtlicher Fragen, die einer Beweiserhebung nicht zugänglich seien. Teilweise würde die Angabe konkretisierter und individualisierter Tatsachen fehlen oder die Einholung nur allgemeiner Auskünfte bezweckt. Auch sei nicht substantiiert dargelegt, inwieweit die beantragte Beweiserhebung andere bzw. bessere Erkenntnisse bringen würde als die zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisse.

Substantiierte Einwände hiergegen trägt der Kläger nicht vor. Im Übrigen ist angesichts des sechs Seiten und zwölf Haupt- und diverse Unterpunkte umfassenden pauschalen Beweisantrags nicht zu beanstanden, dass das Verwaltungsgericht nicht jeden einzelnen Beweisantragspunkt ausdrücklich abgehandelt hat. Zudem ergibt sich weder aus dem Beweisantrag noch aus dem Zulassungsantrag, dass die herangezogenen Erkenntnismittel im Sinn der vorgenannten Rechtsprechung ungenügend wären. Dass das Verwaltungsgericht die Erkenntnismittel anders als der Kläger bewertet, vermag eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör nicht zu begründen, da aus dem Grundrecht auf rechtliches Gehör ein Anspruch darauf, dass sich das Gericht der Bewertung des Klägers anschließt, nicht hergeleitet werden kann (BayVerfGH, E.v. 2.10.2013 – Vf. 7-VI-12VerfGH 66, 179 = BayVBl 2014, 171).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 83b AsylG.