VG Aachen, Urteil vom 10.06.2020 - 9 K 2584/19.A
Fundstelle
openJur 2020, 31146
  • Rkr:

Die Aussetzung der Vollziehung einer Abschiebungsanordnung nach Italien aufgrund der Covid-19 Pandemie führt nicht zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist nach Maßgabe der Dublin-III-VO.

Tenor

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. August 2019 wird aufgehoben.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens trägt die Beklagte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleitung in Höhe von 110 % des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Der Kläger ist nach eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger vom Volk der Esan und am geboren. Am 17. Juli 2019 wurde der Kläger erkennungsdienstlich behandelt. Eine am 22. Juli 2019 durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) eingeholte Eurodac-Auskunft ergab, dass er am 7. Juni 2017 in Italien einen Asylantrag gestellt hat (Treffer Kategorie 1).

Bei seiner Anhörung beim Bundesamt am 13. und 14. August 2019 gab der Kläger im Wesentlichen an, in Nigeria nach dem Tod seines Vaters mit seiner Mutter und seiner Schwester zusammengelebt zu haben. Die Wohnumstände seien gut gewesen. Allerdings sei sein Vater Mitglied eines Kults gewesen. Nach dessen Tod habe er dort ebenfalls Mitglied werden sollen. Dies habe er wegen seines christlichen Glaubens abgelehnt. Die Mitglieder des Kults, unter ihnen sein Onkel, hätten ihn und seine Familie bedroht und belästigt. Er sei mit seiner Familie aus dem Haus vertrieben worden, in dem sie gelebt hätten. Er habe sein Heimatland daher am 15. April 2016 verlassen und sei zunächst zu einem Freund nach Niger geflohen. Dort sei es ebenfalls gefährlich gewesen, weswegen er über Libyen zunächst nach Italien weitergereist sei. Dort habe er sich ab dem 5. Februar 2017 ca. 2,5 Jahre aufgehalten. Auf seinen Asylantrag habe er in Italien einen positiven Bescheid erhalten. Er habe dann das Camp verlassen und auf der Straße leben müssen. Dort habe er sich nicht sichergefühlt. Deswegen sei er am 13. Juli 2019 nach Deutschland eingereist.

Am 16. August 2019 richtete das Bundesamt ein Wiederaufnahmegesuch an Italien. Hierauf antwortete Italien mit Schreiben vom 28. August 2019, zur Aufnahme des Klägers gemäß Art. 12 Abs. 1 sowie Art. 18 Abs. 1 lit. d) Dublin-III-VO bereit zu sein.

Mit Bescheid vom 29. August 2019, zugestellt am 4. September 2019, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 2.) und ordnete die Abschiebung der Kläger nach Italien an (Ziffer 3.). Zudem wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf fünfzehn Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 4.).

Der Kläger hat am 11. September 2019 Klage gegen diesen Bescheid erhoben und zugleich einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage gestellt.

Der Kläger macht im Wesentlichen geltend, die Unzulässigkeitsentscheidung sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten. Zuletzt macht er zudem geltend, dass die seitens der Beklagten erklärte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung nicht mit unionsrechtlichen Vorgaben im Einklang stehe. Insofern sei einerseits zu beachten, dass diese Aussetzung den Kläger mittelbar belaste. Andererseits seien auch die Belange des zuständigen Mitgliedstaats in den Blick zu nehmen. Zwischen den Gedanken effektiven Rechtsschutzes und der Beschleunigung sei ein angemessener Ausgleich zu finden. Vor diesem Hintergrund sei im vorliegenden Fall fraglich, ob der Beschleunigungsgedanke wirklich zurückstehen könne.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. August 2019 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf den streitgegenständlichen Bescheid.

Mit Beschluss vom 1. Oktober 2019 ist der Eilantrag des Klägers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der vorliegenden Klage abgelehnt worden (9 L 1037/19.A).

Mit Schreiben vom 22. Oktober 2019 hat die Beklagte Italien mitgeteilt, dass am 11. September 2019 ein Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung erhoben worden sei und diese aufschiebende Wirkung zum 1. Oktober 2019 wieder entfallen sei, weswegen die Überstellungsfrist am 1. April 2020 ende.

Mit Rundschreiben an die Dublin-Abteilungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union vom 24. Februar 2020 hat das italienische Innenministerium mitgeteilt, dass aufgrund der Gesundheitssituation in Italien ab dem 25. Februar 2020 keine Dublin-Überstellungen mehr durchgeführt würden. Mit Rundschreiben vom 25. Februar 2020 hat das italienische Innenministerium klargestellt, dass dies alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union und alle Zielflughäfen in Italien betreffe.

Mit Schreiben vom 25. März 2020 hat die Beklagte mitgeteilt, dass die Vollziehung der Abschiebungsanordnung im streitgegenständlichen Bescheid nach § 80 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ausgesetzt werde. Im Hinblick auf die Corona-Krise seien Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten. Daher setze das Bundesamt diese Überstellungen bis auf weiteres aus. Der Vollzug sei vorübergehend nicht möglich. Die Erklärung gelte unter dem Vorbehalt des Widerrufs.

Mit Schreiben vom 25. März 2020 hat die Beklagte Italien mitgeteilt, dass am 25. März 2020 ein Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung erhoben worden sei und eine Überstellung derzeit nicht möglich sei.

Am 26. März 2020 hat der Kläger gemäß § 80 Abs. 5 VwGO einen Antrag gestellt, die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung aufzuheben. Dieser Antrag ist mit Beschluss vom 4. Mai 2020 abgelehnt worden (9 L 253/20.A).

Die Beklagte hat mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 und die Kläger mit Schreiben vom 5. Juni 2020 das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten dieses Verfahrens, der Eilverfahren 9 L 1037/19.A und 9 L 253/20.A sowie den elektronisch beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen.

Gründe

Die statthafte Klage,

vgl. nur Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32/14 -. juris, Rn. 13 ff.; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG NRW), Urteil vom 16. September 2015 - 13 A 800/15.A -, juris, Rn. 22 ff.,

über die im Einverständnis der Beteiligten durch den Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) entschieden werden konnte, ist zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Rechtsgrundlage für Ziffer 1. des streitbefangenen Bescheids ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) des Asylgesetzes (AsylG). Hiernach ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-VO) für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist.

Dies ist zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) der vorliegenden Klage jedenfalls deswegen nicht (mehr) der Fall, weil die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers auf die Beklagte übergegangen ist.

Dieser Zuständigkeitsübergang folgt aus Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO. Hiernach geht die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung des Asylantragstellers nicht innerhalb einer Frist von sechs Monaten durchgeführt wird. Nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO beginnt diese Überstellungsfrist mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO aufschiebende Wirkung hat. Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-VO bezieht sich hierbei auf einen Rechtsbehelf gegen die Überstellungsentscheidung, in Deutschland mithin auf einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG.

Einen solchen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung hat der Kläger zunächst mit seinem rechtzeitig gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der vorliegenden Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids (9 L 1037/19.A) eingelegt. Denn ein solcher Antrag führt nach § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG dazu, dass eine Abschiebung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig ist. Mit der - ablehnenden - endgültigen Entscheidung über diesen Antrag am 1. Oktober 2019 wurde die Überstellungsfrist jedoch erneut in Gang gesetzt.

Vgl. bereits zur Dublin-II-VO BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 - 1 C 15/15 -, juris, Rn. 11.

Der weitere, am 26. März 2020 gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO (9 L 253/20.A) führte demgegenüber nicht zu einem Neubeginn der Überstellungsfrist, da diesem Antrag die Wirkung des § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylG nicht zukam und dieser mit Beschluss vom 4. Mai 2020 als unzulässig abgelehnt wurde. In der Folge entfaltete die vorliegende Klage gegen die in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids enthaltene Abschiebungsanordnung nach § 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG weiterhin keine aufschiebende Wirkung.

Die seitens der Beklagten am 25. März 2020 erklärte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung hat den Beginn dieser Frist zuletzt ebenfalls nicht erneut nach hinten verschoben.

Zwar hat das Bundesamt nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO grundsätzlich die Befugnis, nach Ermessen die Vollziehung auszusetzen. Regelungen des Asylgesetzes und der Verwaltungsgerichtsordnung schließen eine solche Aussetzung nicht aus.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 22 ff.; a.A. Pfersich, ZAR 2019, 202, 202.

Daher führt die Aussetzung der Vollziehung seitens der Behörde nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO jedenfalls nach Maßgabe des deutschen Verwaltungsprozessrechts grundsätzlich dazu, dass der betreffende Verwaltungsakt bis zur Unanfechtbarkeit der Entscheidung in der Hauptsache bzw. bis drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist des gegen eine solche Entscheidung gegebenen Rechtsmittels (vgl. § 80b Abs. 1 Satz 2 VwGO) nicht vollzogen werden darf. Einem Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO fehlt in der Folge jedenfalls das Rechtsschutzbedürfnis.

Vgl. zuletzt VG Aachen, Beschluss vom 8. Juni 2020 - 9 L 354/20.A -, n.v.; VG Osnabrück, Beschluss vom 12. Mai 2020 - 5 B 95/20 -, juris; VG Bremen, Beschluss vom 7. Mai 2020 - 2 V 2814/19 -, juris; a.A. VG Wiesbaden, Beschluss vom 31. März 2020 - 6 L 724/19.WI.A -, juris.

Unionsrechtlich führt eine solche Aussetzungsentscheidung aufgrund des Eintritts der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung zu einer Verschiebung des Beginns der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO.

Vgl. Europäischer Gerichtshof (EuGH), Urteil vom 13. September 2017 - C-60/16 -, juris, Rn. 71.

Die Aussetzung der Vollziehung erweist sich hier jedoch nach unionsrechtlichen Maßstäben als rechtswidrig und daher unbeachtlich.

Vgl. im Ergebnis ebenso Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 15. Mai 2020 - 10 A 596/19 -, juris, Rn. 20; Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2020 - 5 A 255/19 -, juris, Rn. 15 ff.; a.A. VG Osnabrück, Beschluss vom 12. Mai 2020 - 5 B 95/20 -, juris, Rn. 14 ff.

Nach Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO können die Mitgliedstaaten zwar vorsehen, dass die zuständigen Behörden - in Deutschland mithin das Bundesamt - beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Auch besteht in Deutschland mit § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO - wie soeben dargelegt - grundsätzlich eine solche Möglichkeit. Diese nationale Rechtsvorschrift ist allerdings mit Blick auf Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO unionsrechtskonform auszulegen und anzuwenden.

Unionsrechtliche Grenzen bei der Auslegung und Anwendung von § 80 Abs. 4 VwGO ergeben sich insofern bereits aus dem Wortlaut dieser Vorschrift. Denn hiernach kann lediglich vorgesehen werden, dass die zuständigen Behörden die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung (Englisch: "pending the outcome of the appeal or review"; Französisch: "en attendant l'issue du recours ou de la demande de révision") aussetzen können. Eine vom Abschluss eines konkreten Rechtsmittels losgelöste Aussetzung ist hiernach nicht vorgesehen.

Vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 15. Mai 2020 - 10 A 596/19 -, juris, Rn. 20; a.A. VG Osnabrück, Beschluss vom 12. Mai 2020 - 5 B 95/20 -, juris, Rn. 15.

Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist in der Folge jedenfalls, dass der Asylantragsteller bereits einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 26.

Die unionsrechtlichen Grenzen der Aussetzung der Vollziehung einer Überstellungsentscheidung sind indes nicht nur anhand des Wortlauts des Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO, sondern auch aus den Bestimmungen dieser Verordnung insgesamt, ihrem allgemeinen Aufbau, ihren Zielen und ihrem Kontext sowie insbesondere ihrer Entwicklung im Zusammenhang mit dem System, in das sie sich einfügt, zu beurteilen.

Vgl. EuGH, Urteil vom 7. Juni 2016 - C-63/15 -, juris, Rn. 35; Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 -, juris, Rn. 57.

Insofern ist Folgendes zu beachten: Das Dublin-System, zu dem die Dublin-III-VO gehört, soll nach deren Erwägungsgründen 4 und 5 zuvörderst eine rasche, klare und praktikable Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung des internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden.

Vgl. EuGH, Urteil vom 16. Februar 2017 - C-578/16 PPU -, juris, Rn. 57; Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 -, juris, Rn. 58.

Der für das Dublin-System hiernach grundlegende Beschleunigungsgedanke,

vgl. OVG NRW, Beschluss vom 8. Dezember 2017 - 11 A 1966/15.A -, juris, Rn. 8,

kommt insbesondere in der Fristenregelung des Art. 29 Dublin-III-VO zum Ausdruck, auf deren richtige Anwendung sich ein Asylantragsteller in der Folge auch berufen kann.

Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 -, juris, Rn. 66 ff.

Umgekehrt hat der Gerichtshof jedoch bereits mit Blick auf die Verordnung Nr. 343/2003 (Dublin-II-VO) festgestellt, dass der Unionsgesetzgeber nicht die Absicht hatte, dem Erfordernis der zügigen Bearbeitung der Asylanträge den gerichtlichen Schutz der Asylbewerber zu opfern.

Vgl. EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009, C-19/08, juris, Rn. 48.

Diese Feststellung gilt erst recht mit Blick auf die Dublin-III-VO, weil der Unionsgesetzgeber die Verfahrensgarantien, die Asylantragstellern im Rahmen des Dublin-Systems gewährt werden, mit dieser Verordnung erheblich weiterentwickelt hat.

Vgl. EuGH, Urteil vom 7. Juni 2016 - C-63/15 -, juris, Rn. 57.

Zwischen diesen Zielsetzungen ist ein angemessener Ausgleich zu schaffen. Der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO soll insofern verhindern, dass Asylanträge monate- oder gar jahrelang nicht geprüft werden; zugleich soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass dem jeweiligen Mitgliedstaat keine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht, in der nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln sind, oder der Beschleunigungsgedanke zulasten eines effektiven Rechtsschutzes verwirklicht wird.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 26; von einem Spannungsverhältnis von effektiver Rechtsschutzgewähr und Beschleunigungsziel spricht auch Berlit, jurisPR-BVerwG 5/2019 Anm. 4, C.

Nach diesen Maßstäben erweist sich die Aussetzungsentscheidung im vorliegenden Fall als unionsrechtswidrig.

Dies folgt bereits daraus, dass die Aussetzungsentscheidung hier nicht dazu dient, dem Kläger effektiven Rechtsschutz zu gewähren, indem eine Prüfung der Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung in einem anhängigen Rechtsbehelf ermöglicht wird. Das Fehlen einer solchen Zielsetzung wird schon daran deutlich, dass die Aussetzung nicht - wie von Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO grundsätzlich vorgesehen - bis zum Abschluss eines solchen Rechtsbehelfs, sondern lediglich "bis auf weiteres" und unter "Vorbehalt des Widerrufs" erfolgt ist und sich die Beklagte mithin offenhält, diese Entscheidung noch während des laufenden Verfahrens wieder aufzuheben.

Vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 15. Mai 2020 - 10 A 596/19 -, juris, Rn. 20; Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2020 - 5 A 255/19 -, juris, Rn. 19.

Auch objektiv hat die Aussetzungsentscheidung keine Sicherung der Effektivität des durch den Kläger mit der vorliegenden Klage eingelegten Rechtsbehelfs zur Folge. Denn angesichts der Covid-19 Pandemie sowie der Erklärung Italiens, bis auf weiteres keine Dublin-Überstellungen mehr anzunehmen, droht zurzeit ohnehin keine Überstellung des Klägers. Umgekehrt behält sich die Beklagte gerade vor, die Aussetzungsentscheidung aufzuheben, sobald eine Überstellung wieder möglich ist - mithin genau zu dem Moment, in dem wieder ein Bedürfnis des Klägers nach Sicherung der Effektivität seines Hauptsacherechtsbehelfs entstünde. Hinzu tritt zuletzt, dass die Überstellungsfrist im konkreten Einzelfall zum Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung nur noch wenige Tage lief und eine Überstellung des Klägers in diesem Zeitraum nach Kenntnis des Gerichts nicht geplant war. Folglich hätte dem Kläger wahrscheinlich selbst dann keine Überstellung mehr gedroht, wenn solche Überstellungen grundsätzlich noch möglich gewesen wären.

Unter diesen Umständen trägt eine Aussetzungsentscheidung offenkundig alleine dem Umstand Rechnung, dass sich eine Überstellung nach Italien zurzeit als unmöglich erweist. Der hiermit seitens der Beklagten alleine beabsichtigten Verlängerung der Überstellungsfrist steht mithin keine Rechtsschutzerwägung gegenüber, welche einen derartigen Eingriff in den für das Dublin-System zentralen Beschleunigungsgedanken und die Interessen des Asylantragstellers rechtfertigen könnte.

Vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, Urteil vom 15. Mai 2020 - 10 A 596/19 -, juris, Rn. 20; Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2020 - 5 A 255/19 -, juris, Rn. 16.

Dies gilt auch vor dem Hintergrund der - ebenfalls zu beachtenden -

vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 27,

Interessen des zuständigen Mitgliedstaats. Denn keine Vorschrift der Dublin-III-VO erlaubt für den Fall der aktuellen Covid-19 Pandemie, vom Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der in Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO vorgesehenen Frist abzuweichen.

Vgl. ebenso Europäische Kommission, COVID-19: Hinweise zur Umsetzung der einschlägigen EU-Bestimmungen im Bereich der Asyl- und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung vom 17. April 2020, 2020/C 126/12, S. 5.

Ebenso wie in individuell gelagerten Fällen,

vgl. EuGH, Urteil vom 16. Februar 2017 - C-578/16 PPU -, juris, Rn. 89,

fällt das Risiko einer Unmöglichkeit der Überstellung nach der Systematik der Dublin-III-VO mithin auch in derartigen Konstellationen in die Sphäre des ersuchenden Mitgliedstaats. Greift der ersuchende Mitgliedstaat - im hiesigen Fall die Beklagte - nunmehr jedoch in einer Vielzahl von Verfahren pauschal auf Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO zurück, führt dies zu einer nicht mit den Zielsetzungen des Dublin-Systems zu vereinbarenden Risikoverlagerung auf den zuständigen Mitgliedstaat.

Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu dieser Frage,

vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -; Urteil vom 9. August 2016 -1 C 16/16 -, beide juris,

steht dem nicht entgegen. Auch das Bundesverwaltungsgericht sieht eine Aussetzungsentscheidung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO in Verbindung mit § 80 Abs. 4 VwGO nur dann als unionsrechtlich zulässig an, wenn sie auch der Sicherung der Effektivität des Rechtsschutzes des Asylantragstellers dient; umgekehrt dürfe die Aussetzungsentscheidung nicht alleine dazu dienen, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 27.

Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht ebenfalls festgestellt, dass eine Aussetzungsentscheidung jedenfalls dann möglich wäre, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestünden, da die Belange eines Asylantragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes dann offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken hätten.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, juris, Rn. 27.

Solche Zweifel bestehen vorliegend deswegen, weil eine Überstellung des Klägers zurzeit faktisch unmöglich ist; denn der Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG setzt tatbestandlich voraus, dass die Überstellung nicht nur rechtlich zulässig - vgl. § 60a AufenthG - sondern zeitnah auch tatsächlich möglich ist.

Vgl. nur Pietzsch, in: Kluth/Heusch (Hrsg.), BeckOK Ausländerrecht, 24. Auflage Stand 1. Mai 2019, § 34a AsylG, Rn. 9; Müller, in: Hofmann (Hrsg.), Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 34a AsylG, Rn. 11; im hiesigen Kontext zuletzt VG Aachen, Urteil vom 6. März 2020 - 9 K 3086/18.A -, juris, Rn. 89 ff.

Anders als in dem vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenen Einzelfall,

vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 5/2019 Anm. 4, D. ("sehr spezielle Verfahrenskonstellation im nationalen Rechtsschutzsystem"),

folgt hieraus in der vorliegenden Konstellation allerdings gerade kein (überwiegendes) Rechtsschutzinteresse des Asylantragstellers an der behördlichen Aussetzung des Vollzugs der Überstellungsentscheidung. Denn aus denselben Gründen, aus denen sich diese vorliegend nach Maßgabe des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG als potentiell rechtswidrig erweist, droht - wie oben dargelegt - faktisch gerade kein Vollzug derselben.

Insofern geht es der Beklagten offenkundig auch nicht darum, in einer Schwebesituation unklarer oder umstrittener Rechts- oder Tatsachenlage adäquat zu reagieren, indem vor einer Überstellung zunächst eine Klärung durch die Gerichte ermöglicht wird.

Vgl. Berlit, jurisPR-BVerwG 5/2019 Anm. 4, D.

Denn da die Beklagte als Grund für ihre Aussetzungsentscheidung angibt, dass eine Überstellung aufgrund der Covid-19 Pandemie derzeit nicht möglich sei, räumt sie zumindest implizit ein, dass es auch aus ihrer Sicht zurzeit an den Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsanordnung fehlt.

Vgl. Schleswig-Holsteinisches VG, Gerichtsbescheid vom 18. Mai 2020 - 5 A 255/19 -, juris, Rn. 18.

Im Übrigen hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich offengelassen, wo die Willkür- oder Missbrauchsschwelle verläuft, welche eine - von Rechtsschutzerwägungen zumindest mitgetragene - Aussetzungsentscheidung nicht überschreiten darf.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 8. Januar 2019 - 1 C 16.18 -, Rn. 27.

Die hiernach rechtswidrige Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG kann zuletzt auch nicht auf Grundlage eines anderen Unzulässigkeitstatbestands - insbesondere nicht auf Grundlage von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG - aufrecht erhalten werden.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 13. März 2020 - 11 A 3925/19.A -, juris.

Die in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids getroffene Feststellung, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen, ist in der Folge mangels Rechtsgrundlage ebenfalls rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Da kein unzulässiger Asylantrag vorliegt, kann diese Entscheidung nicht auf - den allein in Betracht kommenden - § 31 Abs. 3 Satz 1 Alt. 2 AsylG gestützt werden.

Die auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG basierende Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids ist ebenfalls rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Nach dieser Vorschrift ordnet das Bundesamt, soll der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Italien ist nach den vorstehenden Ausführungen für die Durchführung des Asylverfahrens indes nicht (mehr) zuständig.

Schließlich erweist sich die in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheides enthaltene Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots in der Folge ebenfalls als rechtswidrig. Denn diese setzt nach §§ 11 Abs. 1 Satz 1, 75 Nr. 12 AufenthG ihrerseits eine bestehende Abschiebungsanordnung oder -androhung voraus.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO in Verbindung mit § 83b AsylG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11 Alt. 2, 711, 709 Satz 2 der Zivilprozessordnung.

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