OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13.12.2016 - 4 L 52/16
Fundstelle
openJur 2020, 30183
  • Rkr:

Das Gericht ist grundsätzlich nicht verpflichtet, auf eine Änderung seiner verlautbarten vorläufigen Rechtsauffassung hinzuweisen, weil die Beteiligten hiermit jederzeit rechnen müssen.

Gründe

I.

Die Kläger sind Miteigentümer von zwei privaten Wegegrundstücken, die gemeinsam die Privatstraße "S-Weg" bilden und an die für den öffentlichen Verkehr gewidmete D-Straße in Halle (Saale) angrenzen. Mit Bescheid vom 1. Oktober 2013 hat die Beklagte die Kläger zu Straßenreinigungsgebühren für die Reinigung der D-Straße im Jahr 2013 in Höhe von 36,89 € herangezogen. Auf die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht den Heranziehungsbescheid aufgehoben. Zur Begründung heißt es, die Kläger könnten für die Wegegrundstücke nicht zu Straßenreinigungsgebühren herangezogen werden, weil diese Grundstücke durch die D-Straße nicht im straßenrechtlichen Sinne erschlossen würden.

II.

Der hiergegen gerichtete Antrag auf Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) bzw. wegen eines schwerwiegenden Verfahrensmangels im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO hat keinen Erfolg. Das der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegende Vorbringen im Zulassungsantrag (§ 124a Abs. 4 Satz 4, § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht.

1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit einer verwaltungsgerichtlichen Entscheidung (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) sind gegeben, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt wird (vgl. BVerfGE 110, 77 <83>). Daran fehlt es.

Soweit die Beklagte einwendet, dem vom Verwaltungsgericht zur Begründung seiner Entscheidung in Bezug genommenen Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 29. Januar 2010 (27 K 7917/08, juris) liege ein anderer Sachverhalt zugrunde, zeigt sie keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung auf. Das Verwaltungsgericht hat sich den tragenden Rechtssatz im Urteil des Verwaltungsgerichts Köln zu eigen gemacht, katasterrechtlich selbstständige (private) Wegeparzellen, die ausschließlich die Funktion haben, als Zuwegung verkehrsmäßig die Erschließung von der öffentlichen Straße zu Hinterliegergrundstücken zu vermitteln, und in dieser Funktion auch tatsächlich so genutzt werden, seien nicht selbst von der Straße im straßenreinigungsrechtlichen Sinn "erschlossene" Grundstücke. Die Beklagte hat nicht dargelegt, weshalb dieser Rechtssatz nur gelten soll, wenn der Eigentümer eines privaten Wegegrundstückes zugleich für ein privates Hausgrundstück zu Straßenreinigungsgebühren herangezogen wird - so der Sachverhalt im Urteil des Verwaltungsgerichts Köln -, dagegen nicht bei Heranziehung lediglich für ein Wegegrundstück (so der Sachverhalt im angefochtenen Urteil).

Ernstliche Zweifel zeigt die Beklagte auch nicht auf, soweit sie auf das Urteil des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 19. Juli 1990 (14 A 227/88, juris) verweist. Darin ging es nicht um die isolierte Heranziehung für ein Wegegrundstück, sondern um die Frage, ob bei der Bemessung der Straßenreinigungsgebühren für ein Hinterliegerwohngrundstück der dem Grundstückseigentümer gehörige Teil des Wohnweges einbezogen werden kann. Im Übrigen bestehen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit einer Entscheidung nicht schon deshalb, weil sich das Gericht mit einer abweichenden Rechtsansicht nicht ausdrücklich befasst hat.

2. Die Beklagte zeigt auch keinen der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegenden Verfahrensmangel auf, auf dem die Entscheidung beruhen kann (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO). Von der geltend gemachten Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) aufgrund einer "Überraschungsentscheidung" kann keine Rede sein.

Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (vgl. BVerfGE 81, 123 <129>). Der "Mehrwert" der Verbürgung besteht darin, einen angemessenen Ablauf des Verfahrens zu sichern (BVerfGE 119, 292 <296>). Der Einzelne soll nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein, sondern er soll vor einer Entscheidung, die seine Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 ff.>). Die Garantie rechtlichen Gehörs verpflichtet die Gerichte, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 96, 205 <216>; BVerfGK 10, 41 <45>, stRspr). Eng damit zusammen hängt das ebenfalls aus Art. 103 Abs. 1 GG folgende Verbot von "Überraschungsentscheidungen". Von einer solchen ist auszugehen, wenn sich eine Entscheidung ohne vorherigen richterlichen Hinweis auf einen Gesichtspunkt stützt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte (vgl. BVerfGE 84, 188 <190>; 86, 133 <144 f.>; 98, 218 <263>). Allerdings ist dabei zu beachten, dass das Gericht grundsätzlich weder zu einem Rechtsgespräch (vgl. BVerfGE 31, 364 <370>) noch zu einem Hinweis auf seine Rechtsauffassung verpflichtet ist (vgl. BVerfGE 66, 116 <147>; 74, 1 <5>). Auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist, muss daher ein Verfahrensbeteiligter grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen (vgl. BVerfGE 86, 133 <144 f.>).

Der Einwand der Beklagten, das Verwaltungsgericht habe ohne (erneuten) Hinweis seine im Hinweisschreiben vom 26. August 2015 geäußerte Rechtsansicht, die Eigentümer eines privaten Wegegrundstücks könnten grundsätzlich zu Straßenreinigungsgebühren herangezogen werden, geändert, macht keinen Gehörsverstoß deutlich. Wenn das Verwaltungsgericht nicht verpflichtet ist, auf seine Rechtsauffassung hinzuweisen, vermag eine Änderung der geäußerten Rechtsauffassung während des Verfahrens keinen Gehörsverstoß zu begründen, zumal wenn diese Rechtsauffassung - wie hier - ausdrücklich als "vorläufig" gekennzeichnet ist. Es versteht sich von selbst, dass das Gericht während des gesamten Verfahrens den Argumenten der Beteiligten und eigener besserer Erkenntnis offen gegenübersteht. Mit der (stillschweigenden) Änderung der vorläufigen Rechtsauffassung des Gerichts müssen die Beteiligten daher jederzeit rechnen. Etwas anderes kann nur dann gelten, wenn die geänderte Rechtsauffassung zur Berücksichtigung bislang gänzlich unerörterter tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte führt, mit denen die Beteiligten nicht zu rechnen brauchten. Dies ist hier aber weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Der Rechtsaufassung des Verwaltungsgerichts Köln, der das Verwaltungsgericht im angefochtenen Urteil gefolgt ist, haben sich bereits die Kläger im Schreiben vom 4. September 2014 berühmt und hieran im Schreiben vom 23. September 2015 angesichts des richterlichen Hinweisschreibens vom 26. August 2015 ausdrücklich festgehalten. Es lag daher auf der Hand, dass die Frage der straßenreinigungsrechtlichen Erschließung von Wegegrundstücken von zentraler Bedeutung für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts sein würde. Die Beklagte hatte hinreichend Gelegenheit, sich darauf einzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).