VG Magdeburg, Urteil vom 04.07.2016 - 3 A 199/15
Fundstelle
openJur 2020, 30163
  • Rkr:

So lange für einen Asylantragsteller die Möglichkeit einer Anerkennung nach § 26 AsylG besteht, ist der eigene Asylantrag nicht eindeutig aussichtslos i. S. d. § 30 Abs. 3 AsylG.

Das Gericht ist nicht verpflichtet, die Spruchreife der Sache hinsichtlich eines minderjährigen Kindes herzustellen, wenn die Asylanträge der gesetzlichen Vertreter noch nicht materiell-rechtlich durch das Bundesamt geprüft worden sind und das Kind keine eigenen Asylgründe geltend macht.

Tatbestand

Die minderjährige Klägerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation und tschetschenischer Volkszugehörigkeit.

Die Klägerin wurde am 27. April 2015 in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Am 6. Mai 2015 wurde ein Asylantrag mit Eingang des Schreibens der Ausländerbehörde der Stadt A-Stadt vom 4. Mai 2015 beim Bundesamt (Bundesamt) als gestellt erachtet (Az. ).

Von einer persönlichen Anhörung wurde abgesehen. Die gesetzlichen Vertreter der Klägerin wurden mit Schreiben vom 15. Mai 2015 aufgefordert, schriftlich die Gründe darzulegen, die zu der Annahme berechtigen, dass bei der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft vorliegt oder der Klägerin ein ernsthafter Schaden nach dem § 4 AsylVfG a. F. droht. Eine Stellungnahme der gesetzlichen Vertreter erfolgte nicht.

Die Asylanträge der Eltern der Klägerin wurden mit Bescheid vom 14. Oktober 2013 als unzulässig abgelehnt (Az. der Beklagten 5635999-160). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Asylanträge seien gemäß § 27 a AsylVfG a. F. unzulässig, da Polen aufgrund der dort bereits gestellten Asylanträge gemäß Art. 16 Abs. 1 lit. d Dublin II Verordnung für die Behandlung der Asylanträge zuständig sei.

Nach Ablauf der Überstellungsfrist wurde der Asylantrag der Eltern der Klägerin im nationalen Verfahren geprüft. Mit Bescheid vom 17. Juni 2015 lehnte die Beklagte diese Anträge auf Asyl ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht bestünden. Da die Eltern der Klägerin bereits in einem sicheren Drittstaat gemäß § 26 a AsylVfG a. F. Asylverfahren erfolglos betrieben hätten, handele es sich bei den Asylanträgen in der Bundesrepublik Deutschland um Zweitanträge im Sinne des § 71 a AsylVfG a. F. Es mangele an einer erforderlichen Sachlagenänderung i. S. d. § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, da die Kläger hierzu nichts vorgetragen hätten und die Beklagte daher davon ausginge, dass keine andere Sachlage als bereits bei der Asylantragstellung in Polen vorliege.

Diesen Bescheid hob das Verwaltungsgericht Magdeburg - 3. Kammer - in dem Verfahren 3 A 189/15 MD mit rechtskräftigem Urteil vom 9. Mai 2016 auf.

Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 23. Juni 2015 lehnte die Beklagte den Asylantrag sowie den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Klägerin als offensichtlich unbegründet ab. Subsidiärer Schutz wurde ebenfalls nicht zuerkannt. Weiter stellte die Beklagte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen. Die Klägerin wurde fristgebunden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen und anderenfalls die Abschiebung in die Russische Föderation angedroht. Wegen der Begründung wird auf den streitgegenständlichen Bescheid (Blatt 28 ff. der Beiakte A) verwiesen.

Am 8. Juli 2015 hat die Klägerin Klage erhoben.

Zur Begründung trägt sie vor, dass die Asylanträge der Eltern nicht unanfechtbar abgelehnt worden seien. Aus diesem Grund bestehe noch die Möglichkeit einer Anerkennung nach § 26 AsylG, weshalb eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet rechtswidrig sei.

Der Kläger beantragt (sinngemäß),

den Bescheid des Bundesamtes vom 23.06.2015 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin Flüchtlingsschutz nach § 3 AsylG zu gewähren sowie hilfsweise die Voraussetzungen subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG festzustellen, sowie weiter hilfsweise Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG festzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung bezieht sie sich auf die Gründe des angefochtenen Bescheides.

Wegen der näheren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung des Gerichts.

Gründe

Die Kammer kann durch die Einzelrichterin entscheiden, weil der Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG mit Beschluss vom 7. September 2015 auf die bestellte Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen wurde.

Das Gericht kann zudem gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Klägerin mit Schriftsatz vom 24. Mai 2016 und die Beklagte mit ihrer allgemeinen Prozesserklärung vom 26. Februar 2016 auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet haben.

Die zulässige Klage ist überwiegend begründet.

Der Bescheid des Bundesamtes vom 23. Juni 2015 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Die Voraussetzungen für die Ablehnung des Antrages der Klägerin als offensichtlich unbegründet i. S. d. § 30 AsylG liegen im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts nicht vor.

a) Nach § 30 Abs. 1 AsylG ist ein Asylantrag offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft offensichtlich nicht vorliegen. Als offensichtlich unbegründet kann ein Asylantrag nur angesehen werden, wenn nach vollständiger Erforschung des Sachverhalts im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung vernünftigerweise kein Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt die Ablehnung des Antrags nach dem Stand der Rechtsprechung geradezu aufdrängt (BVerfG, Beschl. v. 02.05.1984 - 2 BvR 1413/83 -, BVerfGE 67, 43). Weder wurde der vollständige Sachverhalt ermittelt, noch drängt sich die Ablehnung des Asylantrages der Klägerin auf. Wie in dem Verfahren der gesetzlichen Vertreter der Klägerin (3 A 189/15 MD) festgestellt, wurde der Asylantrag ihrer Eltern noch nicht unanfechtbar abgelehnt. Auch wurde dieser Antrag noch nicht materiell geprüft. Es wurde lediglich mit Bescheid vom 14. Oktober 2013 festgestellt, dass der Asylantrag unzulässig und die Republik Polen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig sei und sodann mit Bescheid vom 17. Juni 2015 festgestellt, dass die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorliegen würden. Letzterer Bescheid wurde mit Urteil vom 9. Mai 2016 durch das erkennende Gericht aufgehoben, sodass die Beklagte nunmehr verpflichtet ist, die Asylgründe der gesetzlichen Vertreter der Klägerin erstmals in der Bundesrepublik Deutschland materiell-rechtlich zu prüfen. Danach besteht für die Klägerin - die selbst keine Verfolgungstatbestände für sich in Anspruch nimmt - die Möglichkeit der Anerkennung nach § 3 oder § 4 AsylG im Wege des § 26 Abs. 2 AsylG. Solange für einen Asylantragsteller die Möglichkeit einer Anerkennung nach § 26 AsylG besteht, ist der eigene Asylantrag nicht eindeutig aussichtslos. Leiten Asylbewerber ihre Verfolgungsschicksale von einer Bezugsperson i. S. d. § 26 AsylG ab, ist eine Ablehnung als offensichtlich unbegründet erst möglich, nachdem das Bundesamt den Asylantrag des Stammberechtigten überprüft und ebenfalls als offensichtlich unbegründet oder unanfechtbar abgelehnt hat. Besteht hingegen die Möglichkeit einer Anerkennung als Asylberechtigter bzw. eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Wege des Familienasyls bzw. -flüchtlingsschutzes, so ist der betreffende Antrag nicht eindeutig aussichtslos (VG Würzburg, Beschl. v. 19.03.2012 - W 6 S 12.30068 -, juris). Ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die noch anfechtbare Ablehnung des Asylbegehrens einer Bezugsperson i. S. v. § 26 AsylVfG als einfach unbegründet für eine Ablehnung des minderjährigen Antragstellers als offensichtlich unbegründet wegen der bestehenden Akzessorietät nicht genügt (so VG Köln, Beschl. v. 15.10.2013 - 25 L 1487/13.A -; VG Ansbach, Beschl. v. 03.08.2007 - AN 9 S 07.30546 -, beide: juris), so muss dies erst Recht auch für den vorliegenden Sachverhalt gelten, in welchem das Asylbegehren der Bezugspersonen noch nicht materiell-rechtlich geprüft worden sind.

b) Die obigen Ausführungen gelten auch für eine etwaige Ablehnung des Asylantrages nach § 30 Abs. 2 AsylG als offensichtlich unbegründet. Danach ist ein Asylantrag insbesondere offensichtlich unbegründet, wenn nach den Umständen des Einzelfalles offensichtlich ist, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält. Auch hier hat die Beklagte (noch) keine Sachverhaltsaufklärung dahingehend unternommen, ob sich die Klägerin selbst oder die Familie der Klägerin nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält.

c) Eine Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet kann auch nicht auf § 30 Abs. 3 AsylG gestützt werden. Die Nr. 1 bis 6 liegen offensichtlich nicht vor. Auch die Voraussetzungen des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG sind nicht erfüllt. Danach ist ein unbegründeter Asylantrag ist als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn er - wie vorliegend - für einen nach dem AsylG handlungsunfähigen Ausländer gestellt wird oder nach § 14 a AsylG als gestellt gilt, nachdem zuvor die Asylanträge der Eltern oder des allein personensorgeberechtigten Elternteils unanfechtbar abgelehnt worden sind. Vorliegend wurden weder im Zeitpunkt des Bescheides (worauf es nach § 77 Abs. 1 AsylG auch nicht ankommt), noch im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts die Asylanträge der Eltern unanfechtbar abgelehnt. Wie mit rechtskräftigem Urteil des erkennenden Gerichts vom 9. Mai 2016 entschieden, wurden die Asylanträge der Eltern weder durch die Republik Polen noch durch die Bundesrepublik Deutschland rechtskräftig abgelehnt.

Ob das Asylbegehren der Bezugsperson materiell Erfolg verspricht, ist ohne Belang, sodass eine dahingehende Inzidentprüfung nicht durchzuführen ist (VG Köln, Beschl. v. 15.10.2013 - 25 L 1487/13.A -, juris).

2. Hinsichtlich des Antrages, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ist die Klage nur teilweise begründet. Ein Anspruch auf eine Verpflichtung der Behörde zur Anerkennung der Klägerin als Flüchtling besteht nicht, weil die Sache nicht spruchreif ist (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Die Sache ist spruchreif, wenn das Verwaltungsgericht zu einer abschließenden Entscheidung über den Erlass des Verwaltungsaktes in der Lage ist. Daran fehlt es hier. Es erfolgte zwar eine schriftliche Anhörung der gesetzlichen Vertreter der Klägerin, diese äußerten sich allerdings nicht gegenüber dem Bundesamt. Insoweit wurden weder im verwaltungsbehördlichen noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren eigene Asylgründe für die Klägerin geltend gemacht. Damit hängt die Entscheidung über den Asylantrag der Klägerin - wie festgestellt - von der Entscheidung über den Antrag ihrer Eltern ab. Das Bundesamt hat diese Entscheidung noch nicht getroffen. Es obliegt vorliegend auch nicht dem erkennenden Gericht, das Asylbegehren der Eltern inzident im vorliegenden Verfahren zu überprüfen. Hierzu wäre eine Anhörung der Eltern vor dem erkennenden Gericht notwendig. Die Kammer sieht sich nicht verpflichtet, diese Anhörung durchzuführen und damit die Spruchreife herbeizuführen. Zwar ist das Gericht vor dem Hintergrund der Amtsaufklärungspflicht gem. § 86 VwGO grundsätzlich verpflichtet, alle für die Entscheidung maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs auf Erlass des Verwaltungsaktes in eigener Verantwortung festzustellen und die Streitsache in vollem Umfang spruchreif zu machen. Es kann sich aber ausnahmsweise aus dem materiellen Recht ergeben, dass das Gericht - trotz der Rechtswidrigkeit der Ablehnung eines beantragen Verwaltungsaktes - die Verwaltung nicht zu dessen Vornahme verpflichten kann. Dies gilt primär in Fällen, in denen der Behörde ein Ermessen oder ein Beurteilungsspielraum eingeräumt worden ist, aber auch bei rechtlich gebundenen Verwaltungsakten - wie hier der Entscheidung über den Asylantrag -, wenn das materielle Recht die vorherige Durchführung eines ordnungsgemäßen behördlichen Verfahrens zwingend voraussetzt. Dies ist anzunehmen, wenn das materielle Recht der vorherigen Durchführung eines Verwaltungsverfahrens ausnahmsweise eine so wesentliche Bedeutung für den Erlass eines Verwaltungsaktes beimisst, dass es dessen Rechtmäßigkeit zwingend an dessen Absolvierung bindet. Das gerichtliche Verfahren vermag in diesen Fällen das behördliche nicht zu ersetzten, was zur Folge hat, dass im Rahmen der Verpflichtungsklage keine Verurteilung zur Vornahme des Verwaltungsaktes erfolgen kann. Vor dem Hintergrund des Gewaltenteilungsgrundsatzes kann dies insbesondere dann der Fall sein, wenn es sich z. B. um Entscheidungen einer mit besonderen Spezialkenntnissen ausgestatteten Behörde handelt (vgl. statt vieler: VG Osnabrück, Urt. v. 14.10.2015 - 5 A 390/15 -, juris). Bei Beachtung dieser Vorgaben besteht vorliegend aufgrund der asylverfahrensrechtlichen Besonderheiten schon dem Grunde nach kein Anspruch des Asylantragstellers auf eine Verpflichtung der Behörde, diesem die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

3. Die Entscheidung über die Ablehnung der Gewährung subsidiären Schutzes (Ziffer 3), der Feststellung von Abschiebungsverboten (Ziffer 4) und die Abschiebungsandrohung (Ziffer 5) sind bei einer rechtswidrigen Ablehnung eines Asylantrages als offensichtlich unbegründet ebenfalls rechtswidrig. Nach § 4 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 2 AufenthG ist subsidiärer Schutz nur dann zu gewähren und deren Voraussetzungen überhaupt zu prüfen, wenn zuvor der Antrag auf Asyl sowie auf Flüchtlingsanerkennung abgelehnt wurde. Wie sich aus den Ausführungen unter 2. ergibt, hat dies das Bundesamt aber noch zu überprüfen. Aus diesem Grund können auch die Feststellungen zu Ziffer 3 nicht aufrechterhalten bleiben. Gleiches gilt für die Ziffern 4 und 5. Auch hier liegt jedoch keine Spruchreife vor, sodass die Klägerin keinen Anspruch auf die begehrte Verpflichtung zur positiven Feststellung hat.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Da die Klägerin mit ihrem Antrag zu 2. nur teils obsiegt hat, hat sie unter Zugrundelegung des Interesses der Klägerin an der Verpflichtung 1/3 der Kosten zu tragen, die Beklagte hat 2/3 der Kosten zu tragen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.