LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 05.08.2010 - L 5 KR 46/10
Fundstelle
openJur 2020, 16248
  • Rkr:
Tenor

1. Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SozialgerichtsSpeyer vom 18.01.2010 wird zurückgewiesen.

2. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahrennicht zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist die Einstandspflicht der Beklagten für eine Behandlung mit einem Arzneimittel auf Cannabis-Grundlage.

Die 1950 geborene, bei der Beklagten krankenversicherte Klägerin leidet seit mindestens 1999 an einem Blepharospasmus (Lidkrampf). Dieser führt zu einer ausgeprägten Sehbehinderung durch anhaltende Lid- und Gesichtskrämpfe, welche sich durch Wind und Zugluft noch verstärken, zu einer extremen Lichtempfindlichkeit, sodass Lesen und Fernsehen nur sehr eingeschränkt möglich ist, zu einer Gangunsicherheit, zu Beeinträchtigungen bei der Berufsausübung als Krankenschwester, zu Beeinträchtigungen beim Autofahren sowie zu einer schweren reaktiven depressiven Stimmungslage. Nach Angaben der Klägerin besteht deshalb ein Grad der Behinderung (GdB) von 50; wegen der Beeinträchtigungen ist sie seit November 2000 berentet. Ausweislich des vom Sozialgericht (SG) Speyer im Klageverfahren beigezogenen Befundberichts von Dr S, D K f D W, vom 19.09.2008 mit korrigierender Ergänzung vom 13.10.2008 besteht bei der Klägerin wegen des ausgeprägten Blepharospasmus eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität. An Beschwerden gebe die Klägerin eine ausgeprägte Sehbehinderung, zum Teil bis zur funktionellen Blindheit an. Die Monotherapie mit Botulinumtoxin alle drei Monate seit November 1999 habe bis 2002 nur eine unzureichende Wirkung gehabt. Erst seit Hinzunahme der medikamentösen Therapie mit dem Wirkstoff Dronabinol (2,5 mg täglich) sei eine deutliche Besserung der Symptomatik erreicht worden. Die Versorgung mit diesem Wirkstoff als Rezepturarzneimittel lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 28.05.2003 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.10.2003); die hiergegen gerichtete Klage (SG Speyer - S 13 KR 739/03) nahm die Klägerin am 20.01.2006 zurück.

Im April 2006 beantragte die Klägerin die Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Marinol 2,5 mg (Wirkstoff: Dronabinol, Delta-9-THC; ein synthetisches Cannabis-Derivat). Das Medikament verfügt in Deutschland über keine arzneimittelrechtliche Zulassung, in den USA ist es für die Indikationen Appetitlosigkeit verbunden mit Gewichtsverlust bei AIDS-Patienten sowie Übelkeit und Erbrechen während einer Chemotherapie bei Patienten, bei denen die konventionelle antiemetische Therapie nicht anschlägt, zugelassen (vom SG beigezogene Auskunft des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte - BfArM - vom 26.08.2008). Nach Beteiligung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) - Gutachten des Dr. S vom 10.05.2006 und 13.07.2006 - lehnte die Beklagte mit Bescheiden vom 23.07.2007 und 12.10.2007 auch ihre Einstandspflicht für eine Versorgung der Klägerin mit dem Importarzneimittel Marinol ab, da die Voraussetzungen für einen "off-label-use" im Anwendungsbereich Blepharospasmus nicht erfüllt seien. Die Klägerin bezog sich demgegenüber mit ihrem Widerspruch auf den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 06.12.2005 - 1 BvR 347/98, SozR 4-2500 § 27 Nr 5, da der Blepharospasmus für sie eine ihre Lebensqualität nicht nur nachhaltig, sondern extrem beeinträchtigende Dauererkrankung mit funktioneller Blindheit darstelle, die sie nachhaltig bei ihren Alltagsaktivitäten behindere und sie vom gesellschaftlichen Leben ausschließe. Hierzu veranlasste die Beklagte eine MDK-Begutachtung vom 14.01.2008 durch Dr G, die darlegte, bei einem Blepharospasmus sei die Therapie der ersten Wahl die Behandlung mit Botulinumtoxin, bei der nur in 5 % bis 10 % der behandelten Fälle eine unzureichende Wirkung gesehen werde. In derartigen Fällen stünden folgende Maßnahmen zur Verfügung: Dosisverstärkung, Erhöhung der Zahl der Injektionen bzw deren Variation, Wechsel des Medikaments (mehrere zugelassene Botulinumtoxin-Präparate), medikamentöse Zusatztherapie und operative Verfahren. Es könne nicht beurteilt werden, welche Behandlungsalternativen im Falle der Klägerin zur Verfügung stünden, da keine konkreten nachvollziehbaren Angaben zu den bisherigen Behandlungsmaßnahmen vorlägen. Der Blepharospasmus sei eine seltene Erkrankung. Man rechne mit einer Erkrankung auf 10.000 Einwohner. Damit handele es sich jedoch nicht um eine singuläre Erkrankung. Die Erkrankung sei nicht derart selten, dass größere Studien unmöglich seien. Bei einem Blepharospasmus handele es sich nicht um eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung. Durch Widerspruchsbescheid vom 10.04.2008, zur Post gegeben am 11.04.2008, wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück und bezog sich zur Begründung auf die Beurteilung des MDK.

Am 14.05.2008 hat die Klägerin Klage zum SG Speyer erhoben und dargelegt, eine andere Therapieoption als diejenige mit Marinol komme bei ihr nicht in Betracht. Sie werde durch ihren Ehemann, langjähriger niedergelassener Arzt, betreut, der angesichts der persönlichen Bindung sämtliche Behandlungsalternativen ausgeschöpft habe, die auch nur annähernd Erfolg versprechend seien. Zu berücksichtigen sei insbesondere, dass bei Behandlung mit Marinol ausgeprägte Nebenwirkungen, wie sie mit sonstigen Therapieoptionen verbunden seien, nicht aufträten, sodass der Einsatz von Marinol gerechtfertigt sei. Im Übrigen sei bei langjähriger Erkrankung auch eine drohende Erblindung keinesfalls auszuschließen, sodass eine nachhaltige und schwere Erkrankung im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung durchaus gegeben sei. Hinsichtlich der vom MDK aufgezeigten sonstigen Therapiemöglichkeiten sei zu betonen, dass eine Dosisverstärkung von Botox bei ihr zur Lähmung der betroffenen Gesichtsmuskulatur sowie zu inkomplettem Lidschluss mit Austrocknung des Augapfels am unteren Rand, besonders nachts, geführt habe, die Erhöhung der Zahl der Injektionen zu Antikörperbildung und zunehmender Unwirksamkeit des Medikaments führe, ein Wechsel des Botoxpräparates sehr ungünstige therapeutische Wirkungen trotz Dosissteigerung gezeigt habe und medikamentöse Zusatztherapien nicht die gewünschte Wirkung gehabt hätten; operative Behandlungen seien in Anbetracht von Schwere und Folgen des Eingriffs nicht zumutbar. In der mündlichen Verhandlung des SG hat die Klägerin erklärt, sie wende für das Fertigarzneimittel Marinol im Monat etwa 100,00 EUR auf.

Durch Urteil vom 18.01.2010 hat das SG die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Die angefochtenen Bescheide der Beklagten seien rechtmäßig. Die Klägerin habe weder Anspruch auf Versorgung mit dem Fertigarzneimittel Marinol als Sachleistung noch auf Kostenerstattung für das in der Vergangenheit bereits selbst beschaffte Marinol zur Behandlung des Blepharospasmus. Der Anspruch der Versicherten auf die Bereitstellung der für die Krankenbehandlung benötigten Arzneimittel (§§ 27 Abs 1 S 2 Nr 3, 31 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V -) unterliege den Einschränkungen aus §§ 2 Abs 1 S 3 und 12 Abs 1 SGB V. Anspruch bestehe nur auf solche Pharmakotherapien, die sich bei dem vorhandenen Krankheitsbild als zweckmäßig und wirtschaftlich erwiesen haben und deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) 19.03.2002 - B 1 KR 37/00 R - dürfe auch ein zum Verkehr zugelassenes Arzneimittel grundsätzlich nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung in einem Anwendungsgebiet verordnet werden, auf das sich die Zulassung nicht erstreckt (so genannter off-label-use). Zwar würden hiervon nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung unter engen Voraussetzungen Ausnahmen zugelassen. Eine solche komme vorliegend aber schon deshalb nicht in Betracht, weil Fertigarzneimittel mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§§ 2 Abs 1 S 1, 12 Abs 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht nach §§ 27 Abs 1 S 2 Nr 1 und 3, 31 Abs 1 S 1 SGB V umfasst seien, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs 1 Arzneimittelgesetz - AMG -) arzneimittelrechtliche Zulassung fehle (Hinweis auf BSG 27.03.2007 - B 1 KR 30/06 R). Dass der isolierte Hauptwirkstoff von Cannabis - Dronabinol - in den USA unter dem Handelsnamen Marinol als Fertigarzneimittel für die Behandlung chemotherapiebedingter Übelkeit sowie zur Therapie der Kachexie und Appetitstimulation von AIDS-Patienten zugelassen sei, entfalte nicht zugleich auch entsprechende Rechtswirkungen für Deutschland. Damit komme mangels Zulassung von Marinol seine zulassungsüberschreitende Anwendung ebenfalls von vornherein nicht in Betracht. Zu Gunsten der Klägerin folge auch kein Anspruch auf Gewährung von Marinol als Sachleistung aus dem Beschluss des BVerfG vom 06.12.2005. Vorliegend leide die Klägerin bereits nicht an einer lebensbedrohlichen, regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung im Sinne dieser Rechtsprechung. Der Blepharospasmus (Lidkrampf) der Klägerin könne mit einem nicht kompensierbaren Verlust eines wichtigen Sinnesorganes oder einer herausgehobenen Körperfunktion nicht gleichgestellt werden. Dies gelte auch im Hinblick auf die von der Klägerin ins Feld geführte zeitweise funktionelle Erblindung. Hierbei handele es sich gerade nicht um einen dauerhaften, nicht kompensierbaren Verlust einer herausgehobenen Körperfunktion, da die "Erblindung" der Klägerin funktionell, dh durch einen permanenten Lidschluss, jedoch bei weiterem Vorhandensein des Augenlichts und dies auch nur zeitweise hervorgerufen werde. Habe die Klägerin mithin keinen Anspruch auf Gewährung des Fertigarzneimittels Marinol als Sachleistung, stehe ihr auch kein entsprechender Kostenerstattungsanspruch für das in der Vergangenheit auf eigene Kosten angeschaffte Marinol zu (Hinweis auf BSG 27.09.2005 - B 1 KR 28/03 R).

Gegen das ihren Prozessbevollmächtigten am 27.01.2010 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 01.03.2010 (Montag) Berufung eingelegt. Sie macht weiterhin geltend, die Voraussetzungen für den Einsatz des Fertigarzneimittels Marinol im Rahmen eines so genannten off-label-use seien entgegen der Beurteilung des SG gegeben. Mangels geeigneter nachhaltiger Therapieoptionen sei der Einsatz von Marinol in ihrem Falle unabdingbar. Im Falle nicht adäquater Therapie sei das betroffene Sinnesorgan nicht einsetzbar. Damit sei eine herausgehobene Körperfunktion auf Dauer betroffen, weil durch den permanenten Lidschluss eine derartige funktionelle Störung bestehe, die letztendlich einer Erblindung gleichkomme.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 18.01.2010 und die Bescheide der Beklagten vom 23.07.2007 und 12.10.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.04.2008 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, das Präparat Marinol als Sachleistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu gewähren und die für das Mittel in der Vergangenheit aufgewendeten Kosten zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Der Akteninhalt war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Beratung.

Gründe

Die nach §§ 143f, 151 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Das SG hat die Klage unter umfassender Würdigung der zu den maßgeblichen Rechtsvorschriften ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu Recht abgewiesen. Der Senat verweist zur Vermeidung bloßer Wiederholungen zur Begründung auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils (§ 153 Abs 2 SGG).

Die Berufungsbegründung der Klägerin rechtfertigt keine ihr günstigere Entscheidung. Soweit sie weiterhin einen Leistungsanspruch gegen die Beklagte nach den Grundsätzen des so genannten off-label-use geltend macht, hat das SG zutreffend betont, dass mangels arzneimittelrechtlicher Zulassung des Fertigarzneimittels Marinol in Deutschland dessen zulassungsüberschreitende Anwendung von vornherein nicht in Betracht kommt (vgl bereits BSG 18.05.2004 - B 1 KR 21/02 R, SozR 4-2500 § 31 Nr 1 Rn 22). Auch einen Leistungsanspruch der Klägerin nach Maßgabe der Entscheidung des BVerfG vom 06.12.2005 (BvR 347/98) hat das SG mit zutreffender Begründung verneint. Der Blepharospasmus führt bei der Klägerin nach dem korrigierten Bericht von Dr S vom 13.10.2008 zu einer ausgeprägten Sehbehinderung bis hin zur teilweise funktionellen Blindheit. Damit liegt zwar eine durchaus schwerwiegende Erkrankung vor, was insbesondere auch durch die hierdurch verursachte Erwerbsunfähigkeit der Klägerin belegt wird. Es handelt sich bei ihr jedoch nicht um einen dauerhaften, nicht kompensierbaren Verlust einer herausgehobenen Körperfunktion. In ihrer eigenen Beschwerdeschilderung gegenüber der Beklagten (Bl 9 VA) spricht die Klägerin von einer Sehbehinderung bis zur "zeitweiligen funktionellen Erblindung ", einer extremen Lichtempfindlichkeit, hebt Einschränkungen beim Lesen und Fernsehen und eine Gangunsicherheit besonders in ungewohntem Gelände sowie auf Treppen hervor. Autofahren sowie alltäglich notwendige Anforderungen, im Grunde alle Tätigkeiten, die genaues Hinsehen erforderten, könne sie nur noch unter besonderer Anstrengung bewältigen. Zudem verstärke eine reaktive Depression die Auswirkungen des Krankheitsbildes, insbesondere auch durch die mimische Entstellung. Die dargelegte Beeinträchtigung begründet mithin eine erhebliche Einschränkung der Lebensqualität der Klägerin, eine notstandsähnliche Situation vergleichbar einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung ist hieraus jedoch nicht abzuleiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Revisionszulassungsgründe nach § 160 Abs 2 SGG liegen nicht vor.

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