SG Koblenz, Urteil vom 07.07.2010 - S 16 AS 212/10
Fundstelle
openJur 2020, 16191
  • Rkr:
Tenor

1. Der Bescheid der Beklagten vom 08.12.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.01.2010 (Geschäftszeichen: 981A - 53102BG0010356 - W 32/10) wird aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Beklagte trägt die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers.

4. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Rechtmäßigkeit zweier Sanktionsbescheide der Beklagten streitig.

Der am ... 1970 geborene Kläger bezieht von der Beklagten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Maßgabe des Zweiten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB II). Die Beteiligten schlossen am 21.10.2009 eine Eingliederungsvereinbarung. Hierin verpflichtete sich der Kläger, während der Gültigkeitsdauer der Eingliederungsvereinbarung am 20.04.2010 mindestens sechs Bewerbungsbemühungen pro Monat nachzuweisen und sich zeitnah, d.h. spätestens am dritten Tag nach Erhalt auf ein Stellenangebot zu bewerben. Dem Kläger wurden mit Abschluss der Eingliederungsvereinbarung zwei Vermittlungsvorschläge ausgehändigt; zunächst wurde er aufgefordert, sich auf eine Stelle als Elektroniker bei der Kreishandwerkerschaft B zu bewerben. Der zweite Vermittlungsvorschlag war auf eine Anstellung als Elektroniker bei der Firma V Personaldienstleistungs GmbH gerichtet.

In der Zeit vom 08.08.2009 bis 07.12.2009 erhielt der Kläger Übergangsgeld durch die Deutsche Rentenversicherung Rheinland-Pfalz in Höhe von 38,85 € kalendertäglich. Mit Bescheid vom 26.10.2009 bewilligte die Beklagte dem Kläger in der Zeit vom 08.11.2009 bis 30.11.2009 Leistungen in Höhe von 109,23 €; in der Zeit vom 01.12.2009 bis 31.05.2010 wurden Leistungen in Höhe von 359,-- € monatlich bewilligt.

Mit Schreiben vom 06.11.2009 bzw. 19.11.2009 hörte die Beklagte den Kläger zu zwei angeblichen Verstößen gegen die Eingliederungsvereinbarung an; der Kläger habe sich auf die ihm am 21.10.2009 ausgehändigten Vermittlungsvorschläge nicht wie vereinbart beworben. Der Kläger teilte daraufhin mit, an Grippe erkrankt zu sein; eine ärztliche Bescheinigung könne er allerdings nicht vorlegen. Daneben sei sein Computer defekt gewesen, so dass das Erstellen von Bewerbungsunterlagen nicht möglich gewesen sei.

Mit Bescheiden vom 08.12.2009 senkte die Beklagte die dem Kläger in der Zeit vom 01.01.2010 bis 31.03.2010 zu gewährende Regelleistung zweimal in Höhe von jeweils 30 % (107,70 €) monatlich ab.

Gegen diese Entscheidungen legte der Kläger am 06.01.2010 Widerspruch ein; er sei dringend auf eine Sicherung seines Existenzminimums angewiesen.

Am 08.01.2010 stellte der Kläger beim Sozialgericht Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Sanktionsbescheide. Dabei trug er vor, aktuell lediglich über Mittel in Höhe von 143,60 € monatlich zu verfügen, was dazu führe, dass er seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten könne. Allein die Stromkosten, die Zuzahlung zu Medikamenten sowie die Telefonkosten und die Kfz-Versicherung würden diesen Betrag bereits übersteigen. Er habe sich auf den ausgehändigten Vermittlungsvorschlag nur deshalb nicht beworben, weil sein Computer defekt gewesen sei und er deshalb keinen Zugriff auf seine Bewerbungsunterlagen gehabt habe. Daneben beziehe sich die Absenkung auf einen Zeitraum, in dem er keinerlei Leistungen von der Beklagten erhalten habe.

Mit Bescheiden vom 14.01.2010 wies die Beklagte die Widersprüche des Klägers als unbegründet zurück. Der Kläger habe sich geweigert, sich um eine ihm zumutbare Beschäftigung zu bewerben. Dazu habe er sich jedoch in der Eingliederungsvereinbarung unter Belehrung über die Rechtsfolgen eines Verstoßes verpflichtet. Einen wichtigen Grund für sein Verhalten habe der Kläger nicht nachweisen können. So sei die angebliche Erkrankung nicht nachgewiesen; hierfür sei die Vorlage einer Krankmeldung erforderlich. Daneben habe der Kläger auch nicht nachweisen können, dass der Computer defekt gewesen sei; dies habe er der Beklagten auch erst im Rahmen der Anhörung mitgeteilt.

Am 09.02.2010 erhob der Kläger Klage.

Mit Beschluss vom 10.02.2010 ordnete das Sozialgericht Koblenz die aufschiebende Wirkung der Klage an, soweit sich diese gegen den Sanktionsbescheid die Bewerbung bei der Firma V Personaldienstleistungs-GmbH richtet.

Der Kläger beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

die Bescheide der Beklagten vom 08.12.2009 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 14.01.2010 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Entscheidungen fest. Eine Bewerbungsverpflichtung des Klägers habe vorliegend bestanden, auch wenn er zu der fraglichen Zeit nicht im Leistungsbezug gestanden habe. Denn dem Kläger sei durchaus bewusst gewesen, dass er hilfebedürftig werden würde. Aus diesem Grund sei er bereits im Vorfeld dazu verpflichtet, alles zu tun, um diesen Zustand abzuwenden. Da vorliegend keine wiederholte Pflichtverletzung gegeben sei, sei es durchaus auch zulässig, eine zweimalige Sanktion in Höhe von jeweils 30 % im gleichen Zeitraum zu verhängen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den der Verwaltungsakte der Beklagten, der zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht wurde.

Gründe

1. Das Gericht durfte vorliegend gemäß § 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG] trotz des Ausbleibens des Klägers verhandeln und auch entscheiden. Dies steht mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör (vgl. Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes [GG ] und § 62 SGG) in Einklang, wonach den an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben ist, sich zu der relevanten Entscheidung vor Erlass der Entscheidung zu äußern, um so auf diese Einfluss nehmen zu können. Denn das Gericht hat einen Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt und den Kläger durch ordnungsgemäße Ladung dazu in die Lage versetzt, seinen Standpunkt in der mündlichen Verhandlung darzutun. Dabei wurde er auf die Möglichkeit hingewiesen, dass ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.

Auch die Tatsache, dass das Gericht ursprünglich das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet hatte, macht eine Vertagung nicht zwingend erforderlich. Denn diese Anordnung stand gemäß § 111 Abs. 1 SGG im Ermessen des Gerichts und dient allein der Sachaufklärung oder der Erörterung der Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten, etwa um eine vergleichsweise Erledigung des Rechtsstreits herbeizuführen (Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, VII Rn. 146, 133 ff; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 111 Rn. 2b). Sie hat dagegen nicht die Funktion, das rechtliche Gehör der Beteiligten sicherzustellen. Daher kann aus der Anordnung des persönlichen Erscheinens nicht zwingend darauf geschlossen werden, dass ohne das Erscheinen der Beteiligten keine Sachentscheidung des Gerichts ergehen könnte oder dürfte (Bundessozialgericht, Beschluss vom 31.01.2008 - B 2 U 311/07 B). Vorliegend konnte die Entscheidung auch ohne das persönliche Erscheinen ergehen, da die Sachlage hinreichend geklärt gewesen ist.

2. Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht erhobene Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 08.12.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.01.2010, mit dem die Nichtbewerbung des Klägers bei der Firma V Personaldienstleistungs-GmbH sanktioniert wird, erweist sich als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Er war daher aufzuheben. Demgegenüber ist der weitere vorliegend angegriffene Sanktionsbescheid rechtlich nicht zu beanstanden.

a) Rechtsgrundlage der von der Beklagten erlassenen Sanktion die Nichtbewerbung bei der Kreishandwerkerschaft B betreffend ist dabei § 31 Abs. 1 SGB II. Nach dieser Vorschrift wird das Arbeitslosengeld II unter Wegfall des Zuschlages nach § 24 SGB II in einer ersten Stufe um 30 v. H. der für den erwerbsfähigen Hilfebedürftigen nach § 20 SGB II maßgebenden Regelleistung abgesenkt, wenn 1. der erwerbsfähige Hilfebedürftige sich trotz Belehrung über die Rechtsfolgen weigert, a) eine ihm angebotene Eingliederungsvereinbarung abzuschließen, b) in der Eingliederungsvereinbarung festgelegte Pflichten zu erfüllen, insbesondere in ausreichendem Umfang Eigenbemühungen nachzuweisen, c) eine zumutbare Arbeit, Ausbildung, Arbeitsgelegenheit, eine mit einem Beschäftigungszuschuss nach § 16a geförderte Arbeit, ein zumutbares Angebot nach § 15a oder eine sonstige in der Eingliederungsvereinbarung vereinbarte Maßnahme aufzunehmen oder fortzuführen oder d) zumutbare Arbeit nach § 16a Abs. 3 Satz 2 auszuführen, 2. der erwerbsfähige Hilfebedürftige trotz Belehrung über die Rechtsfolgen eine zumutbare Maßnahme zur Eingliederung in Arbeit abgebrochen oder Anlass für den Abbruch gegeben hat. Dies gilt gemäß § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II nicht, wenn der erwerbsfähige Hilfebedürftige einen wichtigen Grund für sein Verhalten nachweist.

Zwischen den Beteiligten wurde am 21.10.2009 eine wirksame Eingliederungsvereinbarung getroffen, in der festgelegt wurde, dass sich der Kläger auf Vermittlungsvorschläge der Beklagteninnerhalb von drei Werktagen zu bewerben hat. Die Eingliederungsvereinbarung ist mit einer zutreffenden Rechtsfolgenbelehrung versehen und insgesamt nicht zu beanstanden. Sie ist auch ab dem Zeitpunkt ihres Abschlusses wirksam. Der Vortrag des Klägers, dass er zu dem hier maßgeblichen Zeitpunkt noch gar keine Leistungen der Beklagten, sondern des zuständigen Rentenversicherungsträgers erhalten habe, greift insoweit nicht. Denn nach dem in § 2 SGB II niedergelegten Grundsatz des Forderns ist der Hilfebedürftige zu jeder Zeit dazu verpflichtet, seine Hilfebedürftigkeit zu beenden bzw. diese gar nicht erst eintreten zu lassen. Damit durfte die Beklagte den Kläger bereits im Vorfeld des (nahe bevorstehenden) Leistungsbezugs zur Vornahme von Bewerbungen auffordern, um so eine Hilfebedürftigkeit ggf. vollständig zu vermeiden.

Auch die dem Kläger konkret ausgehändigten Vermittlungsvorschläge unterliegen keinerlei rechtlichen Bedenken. Der Kläger hat sich auf diese entgegen der in der Eingliederungsvereinbarung getroffenen Regelung nicht innerhalb von drei Werktagen beworben; dies ist zwischen den Parteien unstreitig.

Fraglich ist allein, ob der Kläger sein Verhalten durch einen wichtigen Grund rechtfertigen kann; einen solchen hat er im Rahmen des Eilverfahrens allerdings nicht hinreichend glaubhaft machen können. Als wichtiger Grund im Sinne des § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II sind alle Umstände des Einzelfalls anzusehen, die unter Berücksichtigung der berechtigten Interessen des Hilfebedürftigen in Abwägung mit etwa entgegenstehenden Belangen der Allgemeinheit das Verhalten des Hilfebedürftigen rechtfertigen, wobei persönliche, insbesondere familiäre oder gesundheitliche Gründe im Vordergrund stehen (Berlit, in: LPK-SGB II, § 31 SGB II Rn. 61 m.w.N.). Gesetzessystematisch formuliert § 31 Abs. 1 Satz 2 SGB II ein negatives Tatbestandsmerkmal - Fehlen eines wichtigen Grundes für ein der jeweiligen Tatbestandsalternative unterfallendes Verhalten - ohne jedoch die Darlegungs- und Beweislast diesbezüglich vollständig umzukehren (Rixen, in: Eicher/Spellbrink, SGB II, § 31 SGB II Rn. 34, 39; ebenso Berlit, in: LPK-SGB II, § 31 SGB II Rn. 63).

Einen solchen wichtigen Grund hat der Kläger vorliegend nicht hinreichend glaubhaft gemacht. Er hat zwar vorgetragen, dass er sich aufgrund einer Erkrankung nicht bei den angegebenen Stellen beworben habe; die bloße Behauptung reicht für die nötige Glaubhaftmachung und damit letztlich die Annahme eines wichtigen Grundes nicht aus. Der Kläger hat nach eigenen Angaben etwa 14 Tage an einer Grippe gelitten. Ungeachtet der Frage, ob diese Erkrankung in der Tat so schwerwiegend gewesen ist, dass sie die Versendung einer schriftlichen Bewerbung unmöglich gemacht hat, fehlt es vorliegend an einem Nachweis der Erkrankung. Nach § 56 Abs. 1 SGB II ist der Hilfebedürftige im Rahmen des Leistungsbezugs dazu verpflichtet, bei einer Erkrankung spätestens am dritten Tag eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei der Agentur für Arbeit vorzulegen. Eine solche würde letztlich auch hinreichenden Nachweis über die vom Kläger geltend gemachte schwerwiegende Erkrankung erbringen können. Dieser Pflicht ist der Kläger allerdings nicht nachgekommen. Darüber hinaus hat er die Beklagte auch nicht auf sonstige Weise zeitnah, d.h. vor Ablauf der für die Bewerbung auf den Vermittlungsvorschlag vorgesehenen Frist, über seine Erkrankung informiert.

Auch wenn der Kläger weiter vorträgt, er habe sich aufgrund technischer Probleme seines Computers auf die ihm ausgehändigten Vermittlungsvorschläge nicht beworben, so stellt dies keinen wichtigen Grund dar, der die Nichtbewerbung rechtfertigen könnte. Zum Einen stellt sich auch hier das Problem der Glaubhaftmachung. Selbst wenn man aber unterstellen würde, dass der Computer des Klägers tatsächlich defekt gewesen ist, würde dies keinen wichtigen Grund im Sinne des § 31 SGB II darstellen. Der Hilfebedürftige hat nach der Konzeption des SGB II zunächst alles ihm Mögliche zu tun, um seine Hilfebedürftigkeit und damit letztlich den Leistungsbezug zu beenden. Bewerbungen müssen dabei nicht zwingend zu Hause ausgedruckt werden. Ungeachtet der Tatsache, dass es durchaus die Möglichkeit gibt, diese bei Freunden oder in einem öffentlichen Copy-Shop auszudrucken, gibt es bei der Bundesagentur für Arbeit ebenfalls die Möglichkeit, Bewerbungsunterlagen zu erstellen und diese auch auszudrucken. Hätte sich der Kläger mit seinem Computerproblem an die Beklagte gewandt, hätte diese sicherlich auf diese Möglichkeit verwiesen. Damit ist der Hinweis auf den defekten Computer bereits per se nicht dazu geeignet, einen wichtigen Grund im Sinne des § 31 SGB II zu begründen.

b) Allerdings erweist sich die zweite von der Beklagten vorgenommene Sanktionierung, bei der die dem Kläger in der Zeit vom 01.01.2010 bis 31.03.2010 zu gewährenden Leistungen aufgrund eines erneuten Verstoßes gegen die Eingliederungsvereinbarung um weitere 30 % abgesenkt wird, nach der hier durchzuführenden summarischen Prüfung als rechtswidrig. Denn wie die Beklagte zu Recht ausgeführt hat, liegen die Voraussetzungen einer sog. wiederholten Pflichtverletzung nicht vor; eine solche hat die Beklagte folgerichtig auch nicht verhängt. Die von der Beklagten stattdessen vorgenommene zweimalige Verhängung einer einfachen Pflichtverletzung steht dagegen mit den gesetzlichen Vorgaben des § 31 Abs. 2 SGB II nicht in Einklang. Eine solche Vorgehensweise ist gerade im Hinblick auf die Existenz der Rechtsfigur der wiederholten Pflichtverletzung ausgeschlossen.

(1) Der Wiederholungsfall einer Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 3 SGB II begründet einen selbstständigen Absenkungstatbestand. Daher ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob sämtliche Elemente des Sanktionsereignisses erneut zu bejahen sind (Valgolio, in Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB II, § 31 Rn. 111). Dies dürfte hier an sich auch bei der Nichtbewerbung auf den zweiten Vermittlungsvorschlag der Fall sein. Um allerdings von einer wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 3 SGB II sprechen zu können, ist weiterhin erforderlich, dass ein (erstes) Sanktionsereignis nach Abs. 1 mit der Absenkung in der ersten Stufe um 30 % nicht nur eingetreten ist, dieses muss auch per Bescheid festgestellt und dieser dem Hilfebedürftigen ordnungsgemäß bekannt gegeben worden sein (Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.11.2008 - L 7 B 252/08 AS; Valgolio in Hauck/Noftz, Kommentar zum SGB II, § 31 Rn. 99). Diese Anforderungen tragen der edukatorischen Intention der stufenweise Sanktionseskalation, erst ein trotz bereits erfolgter Sanktion erneut eingetretenes Fehlverhalten verschärft zu sanktionieren, Rechnung (siehe dazu SG Düsseldorf, Beschluss vom 17.03.2008 - S 43 AS 397/07 ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 24.09.2007 - L 20 B 169/07 AS ER).

Eine solche Feststellung des ersten Verstoßes gegen die Eingliederungsvereinbarung ist vorliegend jedoch nicht erfolgt; die Beklagte hat das Fehlverhalten des Klägers vielmehr erstmalig mit Bescheid vom 08.12.2009 sanktioniert und an diesem Tag auch den zweiten hier in Frage stehenden Sanktionsbescheid erlassen. Damit kann dem Kläger der Vorwurf der wiederholten Pflichtverletzung, also die nachhaltige Weigerung, den Pflichten nach dem SGB II nachzukommen, obwohl er diesbezüglich bereits einmal sanktioniert worden ist, nicht gemacht werden. Ein Rückgriff auf § 31 Abs. 3 SGB II scheidet damit aus.

(2) In einem solchen Fall, in dem ein und dieselbe Pflichtverletzung zeitgleich mehrfach begangen wird und nach den gemachten Ausführungen aufgrund dieser zeitlichen Komponente nicht von einer wiederholten Pflichtverletzung ausgegangen werden kann, scheidet denknotwendig auch die zeitgleiche Verhängung mehrerer einfacher Sanktionen aus. Denn § 31 Abs. 3 SGB II muss für diese Fälle als lex specialis angesehen werden; diese Regelung schließt nach Sinn und Zweck des Gesetzes einen (mehrfachen) Rückgriff auf die Vorschrift des § 31 Abs. 1 SGB II denknotwendig aus.

Insoweit überzeugt die Ansicht des Sozialgerichts Mannheim (Urteil vom 18.11.2008 - S 11 AS 4027/07) und des Sozialgerichts Reutlingen nicht; diese haben die Ansicht vertreten, dass § 31 Abs. 3 Satz 1 SGB II gegenüber § 31 Abs. 2 SGB II zwar lex specialis sei, sich dieses Verhältnis aber nur auf den eigenen Anwendungsbereich beziehe. Sofern die Voraussetzungen für eine verschärfte Sanktion nach § 31 Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht gegeben seien, könne diese Norm die Anwendbarkeit des § 31 Abs. 2 SGB II folglich nicht sperren. Dies folge auch aus Sinn und Zweck der Vorschrift, die den pflichtenversäumenden Hilfebedürftigen nicht schützen, sondern eine härtere Sanktion ermöglichen solle. Dem vermag sich die Kammer jedoch nicht anzuschließen. Geht man davon aus, dass § 31 Abs. 3 SGB II lex specialis zu § 31 Abs. 2 SGB II ist, dann bedeutet dies, dass eine wiederholte Pflichtverletzung verbunden mit einer erhöhten Absenkung der Regelleistung nur dann möglich ist, wenn die Voraussetzungen des § 31 Abs. 3 SGB II, insbesondere die vorherige Feststellung der Sanktion per Bescheid durch die Behörde, erfolgt ist. Nur in diesem Fall hat der Hilfeempfänger einen erneuten Verstoß trotz Kenntnis der vorangegangen Sanktion begangenen und nur dann ist eine erhöhte Sanktion auf der zweiten Stufe nach der Konzeption des Gesetzes gerechtfertigt. Das Gesetz stellt also zur Annahme einer wiederholten Pflichtverletzung mit anderen Worten erhöhte Anforderungen an den Leistungsträger; dieser darf eine Sanktionierung auf der zweiten Stufe nur dann vornehmen, wenn er zuvor auf der ersten Stufe sanktioniert hat. Würde man mit dem Sozialgericht Reutlingen in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die erste Sanktion nicht durch Sanktionsbescheid geahndet wurde, den gleichzeitigen Erlass mehrerer Sanktionsbescheide auf der ersten Stufe zulassen, so hätte dies zur Folge, dass der Hilfeempfänger, wie vorliegend der Kläger, gegebenenfalls härter bestraft werden würde als in den Fällen der wiederholten Pflichtverletzung nach § 31 Abs. 3 SGB II. Der Leistungsträger hätte es damit letztlich selbst in der Hand, in Umgehung des § 31 Abs. 3 SGB II eine beliebig hohe Sanktion auszusprechen, indem er einzelne Verfehlungen des Hilfeempfängers "kollektiv", aber in einzelnen Sanktionsbescheiden ahnden würde. Dies allerdings widerspricht dem Sinn des § 31 Abs. 3 SGB II.

In § 31 SGB II wurde das Mittel der stufenweisen Leistungskürzung als Reaktion auf ein unwirtschaftliches Verhalten des Hilfeempfängers aufgenommen. Dabei galt es für den Gesetzgeber insbesondere, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und das Übermaßverbot zu beachten; nach diesen verfassungsrechtlichen Vorgaben müssen das gewählte Mittel und der gewollte Zweck in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen (BVerfGE 10, 89, 117; BVerfGE 35, 382, 401). Das bedeutet, dass der Eingriff zur Erreichung des vom Gesetzgeber erstrebten Zieles geeignet, aber auch erforderlich sein muss, das Ziel also nicht auf andere, den Einzelnen weniger belastende Weise ebenso gut erreicht werden kann und dass schließlich das Maß der den Einzelnen treffenden Belastung noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den ihm und der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht (BVerfGE 30, 292, 316 f; BVerfGE 38, 281, 302; BVerfGE 69, 1, 35; Leibholz/Rinck/Hesselberger, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, Art 20 Rn. 776; Maunz/Dürig/Herzog/Scholz ua, Komm zum Grundgesetz, Art 20, Rn. 51, 71 ff). Ähnlich wie die Sperrzeitregelung in § 119 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) beruhen die in § 31 SGB II niedergelegten Sanktionierungsmöglichkeiten letztlich auf dem Grundgedanken, dass sich die Versichertengemeinschaft gegen Risikofälle wehren muss, deren Eintritt der Versicherte selbst zu vertreten hat oder an deren Beendigung er nicht bzw. nur unzureichend mitwirkt (Berlit, in: LPK-SGB II, § 31 Rn. 3). Die Regelung des § 31 SGB II wird den unter dem Blickwinkel der Verhältnismäßigkeit zu stellenden Anforderungen an sich gerecht; dies zeigt sich insbesondere in der Regelung über die wiederholte Pflichtverletzung, die einen schwerwiegenden und nachhaltigen Verstoß des Leistungsempfänger gegen die ihn treffenden Pflichten verlangt, obwohl dieser bereits eine Sanktionierung erfahren hat. Würde man nun die Möglichkeit bejahen, wegen einem letztlich gleich gelagerten Verhalten mehrere einzelne Sanktionen miteinander zu addieren, so wäre der Verhältnismäßigkeitgrundsatz nicht mehr gewahrt. Eine entsprechende Auslegung des § 31 SGB II stünde mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und dem Übermaßverbot nicht (mehr) in Einklang.

Dagegen, mehrere Sanktionen gleichzeitig verhängen zu dürfen, spricht weiterhin auch die von der Beklagten selbst angegebene Rechtsfolgenbelehrung im Anhang an die Eingliederungsvereinbarung, die zwischen den Beteiligten geschlossen wurde. Denn auch hier wird die Möglichkeit aufgezeigt, dass die Leistungen bei einem Verstoß gegen eine Grundpflicht um 30 %, beim Vorliegen einer sog. wiederholten Pflichtverletzung demgegenüber um 60 % abgesenkt werden. Für den Hilfebedürftigen ergibt sich aus dieser Belehrung damit, dass ihm eine Absenkung von 60 % nur dann droht, wenn er zum wiederholten Male gegen seine Pflichten verstößt, wobei die wiederholte Pflichtverletzung wie dargelegt ein zeitliches Aufeinanderfolgen voraussetzt. Geht man nun aber mit der Beklagten davon aus, dass mehrere einzelne Sanktionsbescheide gleichzeitig verhängt werden können und zu einer Addition des Sanktionsbetrages führen, so müsste der Hilfeempfänger, um sein Verhalten entsprechend anpassen zu können, auch in der Rechtsfolgenbelehrung diesbezüglich belehrt werden. Dies ist jedoch nicht der Fall, so dass sich die vorliegende Sanktionshöhe für den Kläger als unerwartet darstellen muss.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Berufung ist gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen, da sie Rechtssache von grundlegender Bedeutung ist und die hier maßgebliche Rechtsfrage in der 2Rechtsprechung ersichtlich uneinheitlich beantwortet wird.

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