OLG Rostock, Beschluss vom 12.02.2020 - 11 Ws Reha 2/20
Fundstelle
openJur 2020, 12238
  • Rkr:
Tenor

Auf die Beschwerde der Betroffenen wird der Beschluss des Landgerichts Schwerin vom 20.09.2019 aufgehoben.

1. Der Beschluss des Referats Jugendhilfe des Rats der Stadt ... vom 20.05.1983, Verf.-Reg.-Nr. 96/1983, mit dem die vorläufige Heimerziehung angeordnet wurde,

und

der Beschluss des Jugendhilfeausschusses des Rats der Stadt ... vom 26.05.1983, Beschl.-Reg.-Nr. 44/1983, mit dem die Heimerziehung in einem Jugendwerkhof angeordnet wurde,

werden für rechtsstaatswidrig erklärt und aufgehoben.

2. Die zu Unrecht erlittene Freiheitsentziehung dauerte vom 20.05.1983 bis zum 29.03.1984 an.

3. Der Betroffenen wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt ... für die 1. Instanz bewilligt.

II.

Der Betroffenen wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt ... für das Beschwerdeverfahren bewilligt.

III.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die notwendigen Auslagen der Betroffenen fallen der Staatskasse zur Last.

Gründe

Die Antragstellerin begehrt mit ihrem Antrag vom 17.07.2017, konkretisiert durch Schriftsatz des Bevollmächtigten der Betroffenen vom 05.06.2019, die strafrechtliche Rehabilitierung wegen ihrer Unterbringung in einem Übergangsheim und einem Jugendwerkhof in der Zeit vom 20.05.1983 bis zum 29.03.1984. Grund für die Einweisung waren ausweislich der Begründung des Beschlusses des Rats der Stadt ... vom 26.05.1983 Erziehungsschwierigkeiten der alleinerziehenden Mutter der Betroffenen, „Arbeitsbummelei" sowie Umgang mit Jugendlichen, die "keinen positiven Einfluss auf sie ausübten".

Die Rehabilitierungskammer hat den Antrag als unbegründet abgelehnt. Aus den beigezogenen Akten ergäben sich keine Hinweise auf eine politische Verfolgung oder auf eine Heimunterbringung aus sachfremden Zwecken.

Mit ihrer Beschwerde gibt die Betroffene in erster Linie zu bedenken, dass seit dem 29.112019 § 10 Abs. 3 StrRehaG neuer Fassung gelte. Danach werde gesetzlich vermutet, dass die Anordnung der Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente, wenn eine Einweisung in ein Spezialheim oder in eine vergleichbare Einrichtung, in der eine zwangsweise Umerziehung erfolgte, stattfand. Diese Vermutung greife zu Gunsten der Betroffenen und sei auch nicht entkräftet. Im Gegenteil habe die Unterbringung der politischen Verfolgung der Betroffenen gedient, was die Betroffene näher ausführt. Die Generalstaatsanwaltschaft verteidigt den angefochtenen Beschluss. Aus den vorliegenden Akten des Jugendhilfeausschusses ergäben sich keinerlei Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung der Betroffenen.

II.

Die gemäß § 13 Abs. 1 StrRehaG statthafte und auch sonst zulässige Beschwerde der Betroffenen hat Erfolg. Die Betroffene ist antragsgemäß zu rehabilitieren. Gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 1 Abs. 1 StrRehaG ist die Anordnung einer Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche, die der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient hat, für rechtsstaatswidrig zu erklären und aufzuheben. Gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 StrRehaG wird vermutet, dass die Anordnung der Unterbringung in einem Heim für Kinder oder Jugendliche der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente, wenn eine Einweisung in ein Spezialheim oder eine vergleichbare Einrichtung, in der eine zwangsweise Umerziehung erfolgte, stattfand. § 10 Abs. 3 StrRehaG, der am 29.11.2019 in Kraft getreten ist, findet vorliegend auch auf im Zeitpunkt des Inkrafttretens schon anhängige Verfahren Anwendung, weil es an einer gesetzlichen Übergangsregelung fehlt (vgl. zur fehlenden Übergangsregelung etwa: BVerwG, Urteil vom 16. Oktober 2008 — 4 C 6/07 —, Rn. 21, juris).

1.Die Vermutung greift zu Gunsten der Betroffenen.

a)

Der Jugendwerkhof ... in dem die Betroffene untergebracht war, ist ein Spezialheim i.S.d. § 10 Abs. 3, 1. Alt. StrRehaG. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 3 der Anordnung über die Spezialheime der Jugendhilfe vom 22. April 1965 (GBI. 1965 II Nr. 53, S. 368) zählten die Jugendwerkhöfe zu den Spezialheimen.

b)

Dagegen ist das Durchgangsheim in ... kein Spezialheim. Denn Durchgangsheime sind nicht in S 2 Abs. 1 der vorbezeichneten Anordnung über die Spezialheime vom 22. April 1965 (a.a.O.) aufgeführt. Jedoch handelt es sich bei einem Durchgangsheim um eine vergleichbare Einrichtung, in der eine zwangsweise Umerziehung erfolgte (§ 10 Abs. 3 Satz 1, 2. Alt. StrRehaG), für welche die Vermutung ebenfalls zur Anwendung gelangt. Das ergibt eine historische Auslegung. So heißt es in der Gesetzesbegründung (Bundestagsdrucksache 19/14427 auf S. 28):

Im Fall der Einweisung eines Kindes oder eines Jugendlichen in ein Spezia/heim, in denen ein System herrschte, das sich aus strengster Disziplinierung, entwürdigenden Strafen, genauester Kontrolle des Tagesablaufs, Abschottung von der Außenwelt und ideologische Indoktrination zusammensetzte, und in dem das Kind oder der Jugendliche zur bedingungslosen Unterwerfung unter die staatliche Autorität gezwungen werden sollte, wird vermutet, dass die Anordnung der Unterbringung der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken diente. Zu den vergleichbaren Einrichtungen können beispielsweise Durchgangsheime zählen, in denen ein solches System angewandt wurde.

Hier diente die Unterbringung im Durchgangsheim der Vorbereitung der Anordnung der Heimerziehung im Jugendwerkhof. Daher ist es gerechtfertigt, beide Einweisungen gleich zu behandeln.

2.

Die Vermutung ist nicht entkräftet. Entsprechende Feststellungen hat die Kammer nicht getroffen, sondern lediglich ausgeführt, dass "keine Anhaltspunkte für eine politische Verfolgung der Antragstellerin oder für andere Zwecke der beanstandeten Anordnungen" vorlägen (S. 5 Beschlussausfertigung). Das entsprach der im Zeitpunkt der Entscheidung gültigen Rechtslage und der Rechtsprechung des Senats (vgl. dazu etwa: Senatsbeschluss vom 15. Juli 2016 - 22 Ws_Reha 43/15 Rn. 9, juris).

Nach der neuen Rechtslage ist dagegen zur Widerlegung der Vermutung erforderlich, dass die Kammer positiv feststellt, die Unterbringung habe nicht auch der politischen Verfolgung oder sonst sachfremden Zwecken gedient. Dazu heißt es in der Gesetzesbegründung (Bundesdrucksache 19/14427, Seite 28):

„Beide Vermutungen können durch die Feststellung widerlegt werden, dass die Anordnung aus anderen Gründen, wie beispielsweise Fürsorgeerwägungen oder zur Vollstreckung einer Jugendstrafe, erfolgt ist."

Derartige Feststellungen kann der Senat nicht mehr treffen. Zwar hat der Jugendhilfeausschuss die Anordnung auch mit Erziehungsschwierigkeiten begründet. Damit steht jedoch nicht fest, dass nicht auch eine politische Verfolgung oder sonst sachfremde Zwecke eine Rolle spielten. Immerhin wurde gegen die Betroffene wegen des Verdachts der unterlassenen Anzeige eines „ungesetzlichen Grenzübertritts" ermittelt (vgl. das Befragungsprotokoll vom 01.06.1982, Bl. 83 des Bd. II der Beiakte 2211-284-82). Die Ahndung eines ungesetzlichen Grenzübertritts gemäß § 313 StGB —DDR diente — wie sich aus § 1 Abs. 1 Nr. e) StrRehaG ergibt — regelmäßig der politischen Verfolgung. Der Hinweis der Generalstaatsanwaltschaft in ihrer Antragsschrift vom 26.112019 auf die Naivität der Jugendlichen vermag diese Vermutung nicht zu entkräften. Von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen die Betroffene wurde mit Verfügung vom 24.06.1982 (Bl. 89 des Bd. II der Beiakte 2211-284-82) u.a. deshalb abgesehen, weil die „durch das Referat Jugendhilfe bereits eingeleiteten Maßnahmen" als ausreichend angesehen wurden. Damit liegt nahe, dass die vorangegangene Unterbringung auch der Sanktionierung der unterlassenen Anzeige diente.

Anhaltspunkte dafür, dass keine Indoktrinierung der Insassen erfolgte, sind ebenfalls nicht ersichtlich. Im Gegenteil heißt es in dem vorgenannten Beschluss des Jugendhilfeausschusses vom 26.05.1983 auf Seite 2:

... muss im Kollektiv des Heimes zu einem disziplinierten, ein sichtigen und bewussten jungen Menschen erzogen werden, der die Normen der sozialistischen Gesellschaftsordnung erfüllt. Die erzieherische Einflussnahme ist bei ihr insbesondere darauf zu richten, dass sie positive Gruppennormen anerkennt und sich in die Gemeinschaft einfügt. (BI. 28, Sonderheft l, Jugendamtsakte).

3.

Aus den vorgenannten Gründen war der Betroffenen auch Prozesskostenhilfe für die l. Instanz zu bewilligen. Zwar entsprach die angefochtene Entscheidung sowohl der seinerzeit gültigen Rechtslage als auch der Rechtsprechung des Senats (s.o. 112). Jedoch wollte der Gesetzgeber mit § 10 Abs. 3 StrRehaG spezifischen Schwierigkeiten begegnen, die sich bei der Unterbringung in sog. Spezialheimen bei der Aufklärung des Sachverhaltes stellten (Bundestagsdrucksache 19/14427, S. 2). Anhaltspunkte dafür, dass nur Antragsteller von der Neuregelung der Darlegungslast profitieren sollten, über deren Antrag nach dem Inkrafttreten entschieden wurde, finden sich nicht in der Gesetzesbegründung.

III.

Aus dem Vorstehenden folgt, dass der Betroffenen auch Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen war. Gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 2 StrRehaG waren die Entscheidungen aufzuheben und gemäß § 12 Abs. 2 Nr. 3 StrRehaG die Dauer der zu Unrecht erlittenen Freiheitsentziehung festzustellen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. Die Entscheidung über die notwendigen Auslagen folgt aus § 14 Abs. 2 StrRehaG.

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