VG Göttingen, Beschluss vom 20.08.2019 - 3 B 130/19
Fundstelle
openJur 2020, 11078
  • Rkr:

1. Das Verschweigensrecht aus § 64 Abs. 1 des Bundeszentralregistergesetzes (BZRG), wonach die betroffene Person Eintragungen in das Erziehungsregister und die ihnen zugrundeliegenden Sachverhalte nicht zu offenbaren braucht, gilt auch anlässlich einer Bewerbung um die Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Widerruf als Polizeikommissar-Anwärter.

2. Einem Einstellungsbewerber kann nicht deshalb eine arglistige Täuschung im Sinne von § 12 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 BeamtStG vorgeworfen werden, weil er der Einstellungsbehörde trotz Nachfrage verschwiegen hat, dass gegen ihn als Jugendlichen ein Ermittlungsverfahren geführt worden ist, in dem er als Beschuldigter vernommen worden ist, wenn in diesem Verfahren die Staatsanwaltschaft nach § 45 Abs. 1 des Jugendgerichtsgesetzes von der Verfolgung abgesehen hat und wenn diese Entscheidung nach § 60 Abs. 1 Nr. 7 Alt. 1 BZRG in das Erziehungsregister eingetragen worden ist. Denn in dieser speziellen Fallkonstellation besteht nach § 64 Abs. 1 BZRG keine Offenbarungspflicht.

3. Dem Verschweigensrecht des Einstellungsbewerbers aus § 64 Abs. 1 BZRG steht nicht § 64 Abs. 2 BZRG entgegen, wonach die betroffene Person, soweit die jeweilige Behörde ein Recht auf Auskunft aus dem Erziehungsregister hat, dieser gegenüber keine Rechte aus § 64 Abs. 1 BZRG herleiten kann, wenn sie hierüber belehrt wird. Denn nach § 61 Abs. 1 BZRG dürfen der Einstellungsbehörde Auskünfte aus dem Erziehungsregister überhaupt nicht mitgeteilt werden.

Gründe

Der Antrag des Antragstellers,

die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (3 A 129/19) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12.05.2019 wiederherzustellen,

hat Erfolg.

Nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO haben Widerspruch und Klage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Sie entfällt aber unter anderem, wenn – wie im vorliegenden Fall – die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, besonders angeordnet wird (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO). Das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung ist in diesen Fällen gemäß § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO schriftlich zu begründen. Ist die sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes angeordnet worden, kann das Gericht der Hauptsache gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung auf Antrag ganz oder teilweise wiederherstellen. Bei der Entscheidung, ob die Vollziehung ausgesetzt und die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs bzw. einer Klage wiederhergestellt werden soll, hat das Gericht das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes gegen das Interesse des Antragstellers abzuwägen, von der Vollziehung vorläufig verschont zu bleiben. Dabei wird ein gegenüber den persönlichen Belangen des Betroffenen überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung regelmäßig angenommen, wenn der zu beurteilende Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist, während ein überwiegendes Interesse des Betroffenen am Nichtvollzug in der Regel zu bejahen ist, wenn sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtswidrig erweist, weil an der sofortigen Vollziehung offensichtlich rechtmäßiger Entscheidungen stets, an der sofortigen Vollziehung offensichtlich rechtswidriger Entscheidungen niemals ein überwiegendes öffentliches Interesse besteht. Ist bei der im Aussetzungsverfahren des § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Überprüfung der Erfolgsaussichten der eingelegte Rechtsbehelf weder offensichtlich begründet noch offensichtlich unbegründet, wird auf Grund sonstiger, nicht (nur) an den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens orientierter Gesichtspunkte abgewogen, welches Interesse schwerer wiegt.

Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist hier ein überwiegendes persönliches Interesse des Antragstellers an der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsmittels festzustellen. Der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin vom 12.05.2019, mit welchem sie die Ernennung des Antragstellers zum Beamten auf Widerruf zurückgenommen hat, erweist sich bei der gebotenen summarischen Überprüfung der Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs als aller Voraussicht nach rechtswidrig.

Rechtsgrundlage für die Rücknahme der zum 03.04.2018 erfolgten Ernennung des Antragstellers zum Polizeikommissaranwärter unter Berufung in das Beamtenverhältnis auf Widerruf ist § 12 Abs. 1 Nr. 1 BeamtStG i.V.m. § 12 Abs. 1 Satz 1 NBG. Danach ist die Ernennung mit Wirkung für die Vergangenheit von der für die Ernennung zuständigen Behörde schriftlich zurückzunehmen, wenn sie durch arglistige Täuschung herbeigeführt wurde.

Eine arglistige Täuschung liegt vor, wenn der zu Ernennende durch positives Tun (unrichtige Angaben) oder durch Unterlassen (Verschweigen wahrer Tatsachen) bei einem an der Ernennung maßgeblich beteiligten Amtsträger der Ernennungsbehörde einen Irrtum in dem Bewusstsein hervorruft, diesen durch die Täuschung zu einer günstigen Entscheidung zu bestimmen. Dies ist zu bejahen, wenn der Täuschende erkennt oder jedenfalls damit rechnet und in Kauf nimmt, dass die Ernennungsbehörde aufgrund seines Verhaltens für sie wesentliche Umstände als gegeben ansieht, die in Wahrheit nicht vorliegen oder - umgekehrt - der Ernennung hinderliche Umstände als nicht gegeben ansieht, obwohl solche in Wahrheit vorliegen. Das Verschweigen von Tatsachen ist dann eine arglistige Täuschung, wenn die Ernennungsbehörde nach Tatsachen gefragt hat oder der Ernannte auch ohne ausdrückliche Befragung weiß oder in Kauf nimmt, dass die verschwiegenen Tatsachen für die Entscheidung erheblich sind oder sein können. Entscheidend ist dabei, ob hinsichtlich der verschwiegenen Tatsachen eine Aufklärungspflicht besteht, weil der andere Teil nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung redlicherweise Aufklärung erwarten durfte. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Beziehung der Beteiligten durch besondere Treuepflichten geprägt ist (allgemeine Auffassung in der Rechtsprechung, vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01. 1980 - 2 C 50/78 - und Urteil vom 18.09.1985 - 2 C 30.84 -; OVG NRW, Beschluss vom 19.05.2016 - 1 B 63/16 -; Sächs. OVG, Beschluss vom 20.07.2011 - 2 B 45/11 -; Nds. OVG, Beschluss vom 04.02.2009 - 5 LA 479/07 -; VG Halle, Beschluss vom 18.02.2019 - 5 B 159/18 -; VG München, Urteil vom 19.10.2018 - M 21 K 18.922 -; VG Schleswig, Beschluss vom 22.02.2018 - 12 B 12/18 -; VG Augsburg, Urteil vom 26.10.2017 - Au 2 K 17.600 -; VG Minden, Beschluss vom 04.11.2013 - 4 L 639/13 -, m.w.N., alle juris).

Gemessen an diesen Vorgaben ist hier eine arglistige Täuschung durch den Antragsteller bei der gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht festzustellen. Zwar hat der Antragsteller beim Ausfüllen der „Bewerbung für den Eintritt in den Polizeivollzugsdienst des Landes Niedersachsen“ vom 27.10.2016 und vom 25.08.2017 jeweils durch Ankreuzen des entsprechenden Feldes erklärt, dass gegen ihn kein polizeiliches oder staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren geführt wurde. Dies ist objektiv unwahr. Denn gegen den damals knapp 15-jährigen Antragsteller wurde im Sommer 2012 ein Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung geführt, verübt am 29.06.2012 zum Nachteil des Herrn F. G.. Das Verfahren wurde nach verantwortlicher Vernehmung des Antragstellers durch Verfügung des Jugendstaatsanwalts vom 13.09.2012 – 3121 JS 71827/12 – nach § 45 Abs. 1 JGG eingestellt. Nach seinen Angaben im vorliegenden Verfahren erinnerte sich der Antragteller beim Ausfüllen der Bewerbungsunterlagen auch an diesen Vorfall, bei welchem er sich jedoch nicht als Beschuldigter, sondern als Zeuge angesehen haben will. Ob der Antragsteller – wie er an Eides Statt versichert – mit PHK’in H. vom Polizeikommissariat I. im Dezember 2017 über dieses Ermittlungsverfahren gesprochen und damit eine von der Einstellungsbehörde beauftragte Beamtin mehr als 3 Monate vor der Einstellung von dem Ermittlungsverfahren erfahren hat, konnte auch durch das Einholen einer Dienstlichen Erklärung der Beamtin nicht aufgeklärt werden.

Letztlich kommt es darauf aber auch nicht an. Dem Vorwurf der arglistigen Täuschung steht entgegen, dass der Antragsteller berechtigt war, der Antragsgegnerin gegenüber das im Jahr 2012 gegen ihn geführte Ermittlungsverfahren zu verschweigen. Gemäß § 64 Abs. 1 BZRG brauchte der Antragsteller als Betroffener zu seiner Person bestehende Eintragungen in das Erziehungsregister und die ihnen zugrunde liegenden Sachverhalte nicht zu offenbaren. Die gefährliche Körperverletzung vom 29.06.2012 und das Absehen von der Verfolgung nach § 45 Abs. 1 JGG sind im Erziehungsregister gespeichert. Anders als das Verschweigerecht des § 53 BZRG, welches erst eintritt, wenn eine Verurteilung nicht mehr in das Führungszeugnis aufzunehmen oder tilgungsreif geworden ist, muss der Betroffene eine Eintragung in das Erziehungsregister und den Lebenssachverhalt, auf dem sie beruht, von vornherein nicht offenbaren (Hase, BZRG, 2. Aufl. 2014, § 64 Rn. 1). Dabei kommt es nicht darauf an, ob ihm dieses Schweigerecht bewusst ist oder er irrtümlich davon ausgegangen ist, dass er jede ihm seitens der Antragsgegnerin schriftlich oder mündlich gestellte Frage immer wahrheitsgemäß beantworten muss. Denn es handelt sich um eine spezialgesetzlich geregelte Ausnahme, deren Vorliegen allein nach objektiven Tatbestandsvoraussetzungen zu beurteilen ist. Zwar hat der Gesetzgeber das Recht auf Nichtoffenbarung nicht allumfassend eingeräumt, indem § 64 Abs. 2 BZRG Gerichte und Behörden ausnimmt, die einen Auskunftsanspruch aus dem Zentralregister haben. Jedoch ist die Antragsgegnerin weder unter den auskunftsberechtigten Behörden des § 61 Abs. 1 BZRG ausgeführt, noch ist zu erkennen, dass der Antragsteller gemäß § 64 Abs. 2, letzter Halbsatz BZRG belehrt worden wäre. Damit bewahrt letztlich die 2012 verfügte Eintragung in das Erziehungsregister den Antragsteller ausnahmsweise vor dem Vorwurf der arglistigen Täuschung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 und 6 Nr. 2 GKG. Bei Streitigkeiten um die Rücknahme einer Ernennung zum Widerrufsbeamten ist im Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes die Summe der für sechs Monate zu zahlenden Anwärterbruttobezüge im Zeitpunkt der Antragstellung zugrunde zu legen (6 x 1.219,74 € = 7.318,44 €). Eine Reduzierung dieses Werts im Hinblick auf den vorläufigen Charakter des Eilrechtsschutzverfahrens erfolgt nicht, da der Beschluss der Kammer die Entscheidung in der Hauptsache weitgehend vorwegnimmt.

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