Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 18.02.2019 - 9 LA 164/19
Fundstelle
openJur 2020, 10801
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 3 A 480/17

Die Verwertung eines vom Verwaltungsgericht nicht in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittels führt nicht zur Zulassung

der Berufung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO, wenn sich die Gehörsversagung nicht auf das Gesamtergebnis des Verfahrens ausgewirkt haben kann, sondern sich nur auf einzelne Feststellungen bezieht, auf die es für die Entscheidung nicht ankommt.

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das auf die mündliche Verhandlung vom 7. Januar 2019 ergangene Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg – Einzelrichter der 3. Kammer – wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg zuzulassen, mit dem dieses seine auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise auf die Anerkennung als subsidiär Schutzberechtigten und weiter hilfsweise auf die Feststellung nationaler Abschiebungsverbote hinsichtlich Afghanistan gerichtete Klage abgewiesen hat, bleibt ohne Erfolg.

Der vom Kläger allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) liegt nicht vor bzw. ist nicht hinreichend dargelegt worden.

Eine Rechtssache ist grundsätzlich bedeutsam i. S. d. § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG, wenn sie eine höchstrichterlich oder – soweit es eine Tatsachenfrage betrifft – obergerichtlich noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsfähig wäre und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf.

Das Darlegungserfordernis nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, ungeklärten und erheblichen Tatsachen- oder Rechtsfrage und außerdem die Erläuterung voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung besteht. Die Begründungspflicht verlangt, dass sich der Antragsteller mit den Erwägungen des angefochtenen Urteils, auf die sich die aufgeworfene Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung bezieht, substanziiert auseinandersetzt (vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 5.11.2018 – 1 B 77.18 – juris Rn. 9; vom 20.9.2018 – 1 B 66.18 – juris zu §§ 132 Abs. 2 Nr. 1, 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).

Der Kläger hat die Fragen aufgeworfen,

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„ob eine Person, die in Afghanistan Verfolgung seitens der Taliban unterliegt, in Herat ihre Existenz in der Form wird sichern können, die oberhalb des Existenzminimums liegt“ und

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„ob die Sicherheitslage in Herat es zulässt, dass die Person sich dort niederlässt.“

Die erstgenannte Frage ist nicht grundsätzlich bedeutsam im beschriebenen Sinne.

Sie ist nur entscheidungserheblich, soweit sie sich auf Personen bezieht, die zwar in ihrer Heimatprovinz Ghazni von den Taliban verfolgt wurden, bei denen aber eine landesweite Verfolgung nicht zu erkennen ist und es nicht beachtlich wahrscheinlich ist, dass sie zufällig in Herat von den Taliban identifiziert werden. Denn nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts hatte der Kläger allenfalls in seiner Heimatprovinz Ghazni eine drohende Begegnung mit regierungsfeindlichen Kräften. Eine landesweite Verfolgung des Klägers durch die Taliban vermochte das Verwaltungsgericht hingegen nicht festzustellen. Auch hat das Verwaltungsgericht es nicht für beachtlich wahrscheinlich gehalten, dass der Kläger zufällig in Herat von den Taliban identifiziert wird. Diesen Feststellungen des Verwaltungsgerichts ist der Kläger nicht mit begründeten Zulassungsrügen entgegengetreten.

Soweit die erstgenannte Frage entscheidungserheblich ist, ist sie einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren nicht zugänglich. Wie der Senat mit Urteil vom 29. Januar 2019 festgestellt hat, ist bei einer Bewertung aller derzeit bekannten Umstände trotz der widrigen Lebensbedingungen in Afghanistan nicht ersichtlich, dass ein alleinstehender und gesunder junger afghanischer Mann hazarischer Volks- und schiitischer Religionszugehörigkeit ohne familiäres Netzwerk in Afghanistan – selbst dann, wenn er (anders als der Kläger im vorliegenden Verfahren) seit seiner frühen Kindheit im Iran gelebt und keine Berufsausbildung hat – allein aufgrund dieser Umstände nicht in der Lage wäre, unter anderem in Herat ein Existenzminimum zu erwirtschaften (vgl. Senatsurteil vom 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – z. V. b.). Ob eine Person, die dem oben genannten Personenkreis angehört, in Herat ihre Existenz in einer Form sichern kann, dass von ihr i. S. d. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG (i. V. m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG) vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sich dort niederlässt, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Von Bedeutung sind insoweit z. B. das Alter, die Volks- und Religionszugehörigkeit, der Gesundheitszustand, die Sprachkenntnisse, die schulische und berufliche Bildung, die Berufs- und Lebenserfahrung und eine etwaige familiäre oder sonstige Unterstützung.

Eine grundsätzliche Bedeutung der zweitgenannten Frage hat der Kläger nicht in einer den Anforderungen des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG entsprechenden Weise dargelegt.

Das Verwaltungsgericht hat erläutert, dass und weshalb gegen die Stadt Herat als inländische Fluchtalternative nicht die dortige Sicherheitslage spreche. Es hat dabei die sich aus dem UNAMA Annual Report 2017 ergebenden Zahlen der im Jahr 2017 in der Provinz Herat getöteten und verletzten Zivilpersonen (238 Tote und 257 Verletzte) ins Verhältnis zu der für die Provinz Herat geschätzten Einwohnerzahl (ca. 1,9 Mio.) gesetzt. Es ist zu dem Ergebnis gelangt, dass dies trotz eines Anstiegs der Opferzahlen gegenüber dem Vorjahr von 37 % keinem einer Schutzgewährung widersprechenden Risiko entspreche, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden. Weiter hat es ausgeführt, dass auch die Entwicklung der allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan im Jahr 2018 trotz gehäufter Anschläge insbesondere in der Region Kabul im Zuge der Parlamentswahlen im Oktober 2018 zu keiner signifikant abweichenden Betrachtungsweise führe. Die Zahl der landesweiten verletzten und getöteten Zivilpersonen bewege sich nach dem UNAMA Quarterly Report vom 10. Oktober 2018 zum Stichtag 30. September im Jahr 2018 (8.050 Opfer) in etwa auf dem Niveau des Jahres 2017 (8.084 Opfer).

Der Kläger bemängelt, dass sich das Verwaltungsgericht hinsichtlich der Bevölkerungszahl in Herat pauschal auf „EASO“ beziehe und sich der zur allgemeinen Sicherheitslage in Afghanistan im Jahr 2018 herangezogene UNAMA Quarterly Report vom 10. Oktober 2018 weder in der Erkenntnismittelliste finde noch in der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführt worden sei. Aus einer Tabelle auf Seite 140 eines Berichts von EASO von Dezember 2017 gehe hervor, dass in der Provinz Herat die Stadt Herat die meisten Sicherheitsvorfälle aufweise; die Zahl der Sicherheitsvorfälle habe sich im Jahr 2016 gegenüber dem Jahr 2015 um 19 % gesteigert.

Mit diesem Vortrag legt der Kläger eine grundsätzliche Bedeutung der zweitgenannten Frage nicht hinreichend dar. Er setzt sich nicht substanziiert mit den Erwägungen des Verwaltungsgerichts auseinander. Er benennt keine Erkenntnismittel, die Anhaltspunkte dafür bieten, dass für die Provinz Herat andere geschätzte Bevölkerungszahlen zugrunde zu legen sind. Auch stellt er die sich aus dem UNAMA Annual Report 2017 und aus dem UNAMA Quarterly Report vom 10. Oktober 2018 ergebenden Zahlen getöteter und verletzter Zivilpersonen als solche nicht in Frage. Aus der Tabelle auf Seite 140 im EASO Country of Origin Information Report – Afghanistan Security Situation von Dezember 2017 ergibt sich lediglich, dass es in der Provinz Herat zwischen dem 1. September 2016 und dem 31. Mai 2017 insgesamt 730 sicherheitsrelevante Zwischenfälle gab, davon in der Stadt Herat 179. Die Tabelle bietet keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass aufgrund der Sicherheitslage in Herat nicht i. S. d. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG (i. V. m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG) vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sich eine Person dort niederlässt.

Der vom Kläger zutreffend gerügte Umstand, dass das Verwaltungsgericht seinem Urteil mit dem UNAMA Quarterly Report vom 10. Oktober 2018 ein Erkenntnismittel zugrunde gelegt hat, welches es nicht in das Verfahren eingeführt hat, rechtfertigt auch keine Zulassung der Berufung nach dem – vom Kläger auch nicht geltend gemachten – Zulassungsgrund einer Gehörsversagung nach § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylG i. V. m. § 138 Nr. 3 VwGO.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör gebietet es, ein Urteil nur auf solche Tatsachen und Beweismittel zu stützen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Hieraus folgt im gerichtlichen Asylverfahren grundsätzlich die Pflicht des Gerichts, diejenigen Erkenntnismittel, auf die es seine Entscheidung zu stützen beabsichtigt, ordnungsgemäß in das Verfahren einzuführen, damit die Beteiligten sich zu ihnen äußern können. Da das Verwaltungsgericht den UNAMA Quarterly Report vom 10. Oktober 2018 nicht in das Verfahren eingeführt hat, ihn aber bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat, hat es dem Kläger insoweit das rechtliche Gehör versagt.

Zwar gilt nach § 138 Nr. 3 VwGO eine Versagung des rechtlichen Gehörs stets als ursächlich für die angefochtene Entscheidung. Jedoch wird § 138 Nr. 3 VwGO einschränkend ausgelegt, wenn sich die Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht auf das Gesamtergebnis des Verfahrens ausgewirkt haben kann, sondern sich nur auf einzelne Feststellungen bezieht, auf die es für die Entscheidung nicht ankommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 15.9.2008 – 1 C 12.08 – Buchholz 310 § 101 VwGO Nr. 34 = juris Rn. 11; Beschluss vom 4.7.2008 – 3 B 18.08 – juris Rn. 14; Urteil vom 20.11.1995 – 4 C 10.95 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 267 = juris Rn. 15; Urteil vom 16.10.1984 – 9 C 558.82 – Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 164 = juris Rn. 12).

So liegt der Fall hier. Denn der UNAMA Quarterly Report vom 10. Oktober 2018 verhält sich nicht zur Sicherheitslage gerade in der Provinz bzw. Stadt Herat, auf welche das Verwaltungsgericht den Kläger als inländische Fluchtalternative verwiesen hat, sondern zur landesweiten Sicherheitslage. Auch ist dem Bericht zufolge die Zahl der landesweiten zivilen Opfer im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. September im Jahr 2018 gegenüber dem Jahr 2017 leicht gesunken. Somit ist unter keinem Gesichtspunkt erkennbar und vom Kläger auch nicht dargetan worden, dass eine Äußerungsmöglichkeit zu diesem Bericht im Ergebnis zu einer anderen Entscheidung hätte führen können.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).