Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 28.08.2017 - 13 PS 221/17
Fundstelle
openJur 2020, 10165
  • Rkr:

Eine Tätigkeit als Angestellter bei einem Unternehmen in privater Rechtsform, an dem eine Person des öffentlichen Rechts mehrheitlich beteiligt ist (hier: Stadtwerke GmbH), ist unabhängig von der dort eingenommenen Stellung im Hinblick auf Leitungs- und Entscheidungsbefugnisse "öffentlicher Dienst" im Sinne des § 22 Nr. 3 VwGO und führt zu einem Ausschluss einer Berufung zum ehrenamtlichen Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit.

Tenor

Der ehrenamtliche RichterA.,A-Straße,A-Stadt,wird auf Antrag der Präsidentin des Verwaltungsgerichts Stade von seinem Amt als ehrenamtlicher Richter in der 3. Kammer des Verwaltungsgerichts Stade entbunden.

Gründe

Die Entbindung des ehrenamtlichen Richters A. beruht auf § 24 Abs. 1 Nr. 1, 2. Alt., Abs. 3 Satz 1, 1. HS. VwGO.

Nach dieser Vorschrift ist ein ehrenamtlicher Richter auf den - hier unter dem 8. August 2017 gestellten, beim Senat am 21. August 2017 eingegangenen - Antrag der Präsidentin des Verwaltungsgerichts von seinem Amt zu entbinden, wenn er nach den §§ 20 bis 22 VwGO nicht mehr zum ehrenamtlichen Richter berufen werden kann. Gemäß § 22 Nr. 3 VwGO stellt die Tätigkeit als Beamter oder Angestellter im öffentlichen Dienst, soweit sie nicht ehrenamtlich ausgeübt wird (beachte hierzu jedoch § 186 VwGO), einen Hinderungsgrund für die Berufung zum ehrenamtlichen Richter dar. Eine derartige Tätigkeit als „Angestellter im öffentlichen Dienst“ liegt hier vor.

Der Begriff des „öffentlichen Dienstes“ ist nach Sinn und Zweck des § 22 Nr. 3 VwGO, dem Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) zu dienen, die richterliche Unabhängigkeit auch hinsichtlich der ehrenamtlichen Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu gewährleisten und das Gericht abstrakt-generell vor dem Verdacht zu bewahren, es schütze die Verwaltung zum Nachteil der Bürger, weit auszulegen. Er erfasst deshalb nicht nur den Bundes- und Landesdienst, sondern auch den Dienst bei Kommunen und sonstigen juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die dem Bereich der mittelbaren Staatsverwaltung zuzuordnen sind, wie etwa die Industrie- und Handelskammern (vgl. 2. Senat des OVG Lüneburg, Beschl. v. 6.6.1961 - II E 7/61 -, DÖV 1961, 910, 911); öffentlich-rechtlich organisierte Religionsgemeinschaften fallen allerdings nicht hierunter, weil sie nicht wenigstens mittelbar staatliche Aufgaben wahrnehmen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.12.1972 - VII C 48.70 -, DÖV 1973, 282 = BeckRS 1972, 31316421; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 15.3.1993 - 16 F 110/93 -, juris Rn. 2; OVG Hamburg, Beschl. v. 5.2.1969 - Verw. I 3/69 -, DÖV 1970, 102). Spitzenverbände, deren sämtliche Mitglieder Körperschaften des öffentlichen Rechts sind, gehören selbst dann zum öffentlichen Dienst, wenn sie als privatrechtlicher Verein organisiert sind (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.1.1984 - 16 E 38/83 -, NVwZ 1984, 593). Darüber hinaus erstreckt sich der Begriff des „öffentlichen Dienstes“ im Sinne des § 22 Nr. 3 VwGO jedoch auch auf sonstige rechtsfähige Gebilde (insbesondere Unternehmen) in privatrechtlicher Rechtsform, an denen die öffentliche Hand mehrheitlich beteiligt ist, d.h. die von juristischen Personen des öffentlichen Rechts beherrscht werden, und zwar unabhängig davon, welche Position im Hinblick auf Leitungs- und Entscheidungsbefugnisse der Angestellte dort im Einzelnen einnimmt (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 23.4.2009 - 2 S 143/09 -, juris Rn. 2; Geiger, in: Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 22 Rn. 6; Stelkens/Panzer, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand: 32. EL Oktober 2016, § 22 Rn. 8; Kopp/Schenke, VwGO, bis zur 20. Aufl. 2014, § 22 Rn. 2). Die in der Judikatur zum Teil vertretenen hiervon abweichenden Ansätze teilt der Senat nicht.

Der bloße Verweis auf die private Rechtsform des den Angestellten beschäftigenden Privatrechtssubjekts und dessen (von Beleihungsfällen - vgl. etwa OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 8.1.2009 - OVG 4 E 19.08 -, juris Rn. 2 f. - abgesehen) damit verbundene grundsätzliche Unfähigkeit, öffentlich-rechtlich (hoheitlich) zu handeln, genügt nach Auffassung des Senats nicht, um dort eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst i.S.d. § 22 Nr. 3 VwGO zu verneinen (so aber Bayer. VGH, Beschl. v. 23.3.2015 - 5 S 15.497 -, juris Rn. 5 f., und v. 31.3.2010 - 5 S 10.330 - sowie - 5 S 10.353 -, jeweils juris Rn. 7; OVG Saarland, Beschl. v. 10.5.2001 - 1 T 7/01 -, NVwZ-RR 2002, 7; OVG Berlin, Beschl. v. 8.7.1999 - 4 E 10.99 -, juris Rn. 3; Sächs. OVG, Beschl. v. 5.8.1997 - 3 S 440/97 -, NVwZ-RR 1998, 324; nunmehr [seit der 21. Aufl. 2015] auch Ruthig, in: Kopp/Schenke, VwGO, 23. Aufl. 2017, § 22 Rn. 2). Angesichts der weithin, aber nicht überall in vergleichbarem Umfang vorgenommenen (formellen) Privatisierung der Wahrnehmung bestimmter öffentlicher Aufgaben hinge es ansonsten von organisatorischen Gegebenheiten etwa der jeweiligen Kommune und damit von Zufälligkeiten ab, ob Angestellte von einer Berufung in das Amt eines ehrenamtlichen Richters ausgeschlossen sind (etwa: bei einem Regie- oder Eigenbetrieb oder einer Anstalt des öffentlichen Rechts) oder nicht (bei einer Eigengesellschaft). Damit würde der die Auslegung der Vorschrift des § 22 Nr. 3 VwGO nach Sinn und Zweck leitenden Zielrichtung, Interessen- und Pflichtenkollisionen abstrakt-generell ohne Rücksicht auf die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit der Beteiligung der Gesellschaft an einem Verwaltungsprozess zu vermeiden, nicht hinreichend Rechnung getragen.

Aus demselben Grunde sind auch Überlegungen, das Eingreifen des Hinderungsgrundes bei Angestellten öffentlich-rechtlich beherrschter, aber privatrechtlich organisierter Unternehmen davon abhängig zu machen, dass es im konkreten Einzelfall zu Interessenkollisionen kommen kann (vgl. etwa Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 6. Aufl. 2014, § 22 Rn. 6), als nicht sachgerecht zu bewerten; bei konkreten Interessenskonflikten ist vielmehr das Rechtsinstitut der Richterablehnung (§ 54 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 42 Abs. 1 ZPO) einschlägig (ebenso Geiger, in: Eyermann, a.a.O.).

Andererseits erweisen sich auch in der obergerichtlichen Rechtsprechung stattdessen vertretende Mittellösungen, die für einen Ausschluss nach § 22 Nr. 3 VwGO fordern, dass der Betreffende innerhalb der von einer Kommune beherrschten privatrechtlichen Gesellschaft wenigstens die (herausgehobene) Stellung eines leitenden Angestellten (mit einem im Vergleich zu § 5 Abs. 3 Satz 2 BetrVG eigenständigen Begriffsgehalt) innehat, zu deren Bejahung etwa die Einräumung von Handlungsvollmacht genügen soll, in der sich die Befugnis zur Repräsentation und Verpflichtung des Unternehmens und damit der öffentlich-rechtlichen Eignerin ausdrücke (vgl. insbesondere OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 14.4.2015 - 16 F 10/15 -, NVwZ-RR 2015, 560, juris Rn. 3 ff. u. 6, v. 19.2.2015 - 16 F 6/15 -, juris Rn. 3 u. 5, v. 17.9. 2012 - 16 F 19/12 -, juris Rn. 5, und - grundlegend - v. 25.10.2001 - 16 F 77/01 -, juris Rn. 6, sowie v. 9.3.2001 - 16 F 18/01 -, NVwZ 2002, 234, juris Rn. 6, 11 ff.; Schnellenbach, Die Aufstellung von Vorschlagslisten für die Wahl der ehrenamtlichen Verwaltungsrichter, NVwZ 1988, 703, 704), als nicht zielführend. Vor dem Hintergrund, dass § 22 Nr. 3 VwGO bereits seinem Wortlaut nach und damit auch für den Grundfall der Beschäftigung bei einer juristischen Person des öffentlichen Rechts jeden - nicht nur den leitenden - Angestellten im öffentlichen Dienst erfasst (vgl. etwa OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 26.4.1985 - 16 E 102/85 -, NVwZ 1986, 1029, 1030, und Hess. VGH, Beschl. v. 3.11.1997 - 1 Y 3779/97 -, NVwZ-RR 1998, 324, juris Rn. 1, für angestellte Hausmeister an Schule bzw. Universität), erscheint die dargestellte Differenzierung zwischen „einfachen“ und „leitenden“ Angestellten nicht einsichtig; abgesehen von den erheblichen Bewertungsunsicherheiten und Abgrenzungsschwierigkeiten im Einzelfall, die damit einhergehen und die dem starken öffentlichen Interesse an einer eindeutigen Bestimmung des Kreises derjenigen Personen, die zu ehrenamtlichen Richter berufen werden können, zuwiderlaufen.

Die zu Art. 137 Abs. 1 GG ergangenen Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts vom 4. April 1978 - 2 BvR 1108/77 -, BVerfGE 48, 64, juris Rn. 66, sowie vom 21. Januar 1975 - 2 BvR 193/74 -, BVerfGE 38, 326, juris Rn. 46, auf die sich die zitierte jüngere Judikatur des Oberverwaltungsgerichts Nordrhein-Westfalen stützt (vgl. insoweit vor allem den Beschl. v. 9.3.2001 - 16 F 18/01 -, juris Rn. 6), zwingen nicht etwa aus Gründen eines Bedürfnisses nach verfassungskonformer Auslegung des § 22 Nr. 3 VwGO zu einer solchen Differenzierung. Denn die genannte Verfassungsbestimmung regelt in sachlicher Hinsicht nur die Ermächtigung an den Bundes- oder Landesgesetzgeber, unter Modifikation der Grundsätze der Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl die Wählbarkeit unter anderem von „Angestellten des öffentlichen Dienstes“ in Volksvertretungen auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene (d.h. Deutscher Bundestag, Landtage, Gemeinderäte, Kreistage) einzuschränken (vgl. Klein, in: Maunz/Dürig/Herzog/Scholz, GG, Stand: 49. EL März 2007, Art. 137 Anm. 46 f.); auf ehrenamtliche Richter betreffende Inkompatibilitätsnormen wie § 22 Nr. 3 VwGO erstreckt sich ihr Regelungsbereich hingegen nicht.

Nach diesen Grundsätzen muss im vorliegenden Fall bei dem ehrenamtlichen Richter A., der als „Leiter Einkauf“ bei der Stadtwerke B. GmbH, einer juristischen Person privaten Rechts, beschäftigt ist, eine hauptberufliche Tätigkeit als „Angestellter im öffentlichen Dienst“ im Sinne des § 22 Nr. 3, 2. Alt. VwGO bejaht werden. Denn an dieser Gesellschaft, die neben erwerbswirtschaftlicher Betätigung auch öffentliche Aufgaben insbesondere der Daseinsvorsorge (u.a. Elektrizitäts-, Gas- und Wasserversorgung) in privatrechtlicher Rechtsform wahrnimmt, ist ausweislich des Beteiligungstableaus auf Bl. 5 der GA mehrheitlich (zu 80%) die Holdinggesellschaft „B. Versorgungs- und Bädergesellschaft mbH“ beteiligt, die wiederum zu 100% von der Hansestadt B., einer kommunalen Territorialkörperschaft des öffentlichen Rechts, getragen wird. Ob der Herrn A. bei der Erfüllung seiner Aufgaben zustehende gewisse Entscheidungsspielraum, seine Weisungsbefugnis gegenüber einem Lagermitarbeiter und die ihm eingeräumte Handlungsvollmacht (vgl. Bl. 8 der GA) dazu führen, dass er als „leitender Angestellter“ anzusehen ist, kann nach dem oben Ausgeführten dahinstehen.

Gemäß § 24 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist der beschließende Senat nach hier erfolgter Anhörung des ehrenamtlichen Richters (§ 24 Abs. 3 Satz 2 VwGO) dazu berufen, die Entscheidung über dessen Entbindung zu treffen.

Der Senat hat die schriftlichen Gründe des Beschlusses, der dem betroffenen ehrenamtlichen Richter und der antragstellenden Präsidentin des Verwaltungsgerichts aufgrund der gegebenen Eilbedürftigkeit zunächst als Tenorbeschluss bekannt gegeben worden ist, nachträglich abgefasst (vgl. zur Zulässigkeit einer solchen Vorgehensweise: BVerfG, Beschl. v. 19.6.2006 - 1 BvQ 17/06 -, juris Rn. 17; BVerwG, Urt. v. 4.10.1999 - 6 C 31.98 -, BVerwGE 109, 336, 343).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 24 Abs. 3 Satz 3 VwGO).