OLG Celle, Beschluss vom 04.06.2019 - 2 Ws 153/19
Fundstelle
openJur 2020, 9734
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 38-83 BRs 9/14
    vorgehend LG Hildesheim

Eine entsprechende Anwendung von § 68c Abs. 3 Nr. 1 StGB auf Fälle, in denen eine Maßregel zugleich mit ihrer Anordnung zur Bewährung ausgesetzt wurde und nach § 67b Abs. 2 StGB Führungsaufsicht eingetreten ist, kommt nicht in Betracht, da es an einer planwidrigen

Regelungslücke fehlt.

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der 6. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover vom 10.05.2019 aufgehoben.

2. Es wird festgestellt, dass die mit Beschluss der 9. Strafkammer des Landgerichts Hildesheim vom 13.05.2014 (20 KLs 13 Js 10857/13) eingetretene Führungsaufsicht beendet ist.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die notwendigen Auslagen des Verurteilten im Beschwerdeverfahren werden der Landeskasse auferlegt.

Gründe

Das von der Generalstaatsanwaltschaft vertretene Rechtsmittel des Verurteilten gegen die unbefristete Verlängerung der Führungsaufsicht hat Erfolg.

I.

Bei dem Verurteilten besteht eine mittelgradige Intelligenzminderung mit ausgeprägten Verhaltensstörungen und zeitweiligen maniformen und psychotischen Symptomen.

Der Verurteilte ist durch Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 13.05.2014 (20 KLs 13 Js 10857/13) wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen verurteilt worden. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB wurde angeordnet, deren Vollstreckung gemäß § 67b Abs. 1 StGB zugleich zur Bewährung ausgesetzt. Das Urteil ist seit dem 13.05.2014 rechtskräftig. Mit Beschluss vom selben Tage wurde gemäß § 67b Abs. 2 StGB festgestellt, dass mit der Aussetzung der Anordnung der Unterbringung Führungsaufsicht eintritt. Die Dauer der Führungsaufsicht wurde auf 5 Jahre festgesetzt.

Dem Urteil liegt eine im Zustand der verminderten Schuldfähigkeit gemäß § 21 StGB begangene Tat zugrunde, bei der der Verurteilte mehrere Päckchen Tabak an der Kasse eines Supermarkts entwendete und den darauf aufmerksam gewordenen Kaufhausdetektiv außerhalb des Kassenbereichs schlug und trat, wobei die Kammer feststellte, dass ab dem Moment der Ansprache durch den Kaufhausdetektiv die Schuldfähigkeit des Verurteilten wegen einer akuten Überforderungssituation im Sinne des § 20 StGB aufgehoben war.

Mit Beschluss vom 04.08.2014 hat die 6. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover die Führungsaufsicht gemäß § 462a StPO übernommen, da dort bereits ein Führungsaufsichtsverfahren gegen den Verurteilten geführt wurde. Durch Urteil des Landgerichts Hannover vom 30.04.2003 im Sicherungsverfahren war die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB angeordnet und bis zum 01.09.2009 vollzogen worden. Mit Beschluss vom 01.09.2009 (71 StVK 19/09) wurde nach § 67d Abs. 2 S. 3 StGB die weitere Vollstreckung der Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt. Mit Beschluss vom 07.11.2014 stellte die 6. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover gemäß § 68e Abs. 1 S. 1 StGB fest, dass die Führungsaufsicht in jenem Verfahren (83/75/71 BRs 4/09) mit Eintritt der neuen Führungsaufsicht erledigt war.

In der angefochtenen Entscheidung vom 10.05.2019 hat die 6. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover die aufgrund des Beschlusses der 9. Strafkammer des Landgerichts Hildesheim eingetretene Führungsaufsicht unbefristet verlängert.

Hiergegen wendet sich die sofortige Beschwerde des Beschuldigten. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, den Beschluss auf die sofortige Beschwerde aufzuheben.

II.

Die zulässig eingelegte sofortige Beschwerde ist begründet.

1.

Die 6. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover hat die unbefristete Verlängerung der Führungsaufsicht über die aus dem Beschluss der 9. Strafkammer des Landgerichts Hildesheim angeordnete Höchstfrist auf § 68c Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StGB gestützt.

Gemäß § 68c Abs. 3 Nr. 1 StGB kann eine Führungsaufsicht über die Höchstdauer unbefristet angeordnet werden, wenn im Falle einer Aussetzung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 2 StGB aufgrund bestimmter Tatsachen Gründe für die Annahme bestehen, dass die verurteilte Person anderenfalls in einen Zustand nach § 20 StGB oder § 21 StGB geraten wird, infolge dessen eine Gefährdung der Allgemeinheit durch die Begehung weiterer erheblicher rechtswidriger Taten zu befürchten ist.

Vorliegend ist die Aussetzung der Unterbringung allerdings nicht nach deren - begonnenem - Vollzug gemäß § 67d Abs.2 StGB, sondern nach § 67b Abs.1 StGB zugleich mit deren Anordnung erfolgt. Ob in diesem Fall eine Verlängerung der Dauer der Führungsaufsicht über die Höchstfrist hinaus nach § 68c Abs. 3 Nr. 1 StGB erfolgen kann, ist - soweit ersichtlich - in Rechtsprechung und Literatur nicht ausdrücklich beantwortet. Der Senat beantwortet die Frage dahin, dass weder eine unmittelbare noch entsprechende Anwendung des § 68c Abs. 3 Nr. 1 StGB auf diesen Fall in Betracht kommt (dies andeutend auch schon Senat, B. v. 15.6.2018, 2 Ws 231/18, juris).

a.

Eine unmittelbare Anwendung des § 68c Abs. 3 Nr. 1 StGB auf den vorliegenden Sachverhalt kommt nicht in Betracht, da dem der eindeutige Wortlaut der Vorschrift entgegensteht. § 68c Abs. 3 Nr. 1 StGB verweist ausdrücklich auf § 67d Abs. 2 StGB. Diese Norm regelt (nur) die Aussetzung einer bereits vollzogenen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus oder einer Entziehungsanstalt nach § 67d Abs. 2 StGB.

b.

Die Voraussetzungen einer analogen Anwendung sind nicht gegeben. Das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG stünde einer solchen Anwendung nicht grundsätzlich entgegen, da die Vorschriften über die Maßregeln der Besserung und Sicherung keinen Strafcharakter haben (BVerfGE 109, 182 ff., Schönke/Schröder/Hecker, 30. Aufl. 2019, StGB § 1 Rn. 24 mwN). Der Senat hält zwar die Interessenlage für vergleichbar, es fehlt aber an einer planwidrigen Regelungslücke.

aa.

§ 68c Abs. 3 Nr. 1 StGB in seiner aktuellen Fassung ist durch das „Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht und zur Änderung der Vorschriften über die nachträgliche Sicherungsverwahrung“ vom 13.04.2007 (BGBl. 2007, 513) in das Strafgesetzbuch eingefügt worden. Zuvor war lediglich die - der heutigen Regelung in § 68c Abs. 2 StGB im Wesentlichen entsprechende - Möglichkeit gegeben, die unbefristete Dauer der Führungsaufsicht anzuordnen, sofern die verurteilte Person nicht in Weisungen nach § 56c Abs. 3 Nr. 1 StGB einwilligt oder einer Weisung, sich einer Heilbehandlung oder einer Entziehungskur zu unterziehen, nicht nachkommt.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung (Bt-Drs. 16/1993) zur Neuregelung des § 68c Abs. 3 StGB führt aus:

„Die in Absatz 3 getroffene Regelung ermöglicht es den Gerichten, in zwei Fällen die Führungsaufsicht über die Höchstdauer hinaus unbefristet zu verlängern: Nach der in Nr. 1 getroffenen Regelung kann die nach Aussetzung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 67d Abs. 2 StGB eingetretene Führungsaufsicht unbefristet verlängert werden, wenn Gründe für die Annahmen bestehen, dass die betroffene Person andernfalls alsbald wieder in ihre psychische Krankheit oder Störung zurückfallen wird. Sie trägt damit einem Bedürfnis der Praxis Rechnung. So kommt es nicht selten vor, dass z. B. schizophrene Probandinnen oder Probanden gegen Ende der Bewährungs- und Führungsaufsichtszeit bereits ankündigen, künftig die zur Stabilisierung ihres seelischen Gesundheitszustands erforderlichen Medikamente nicht mehr einnehmen zu wollen. In diesen Fällen scheidet die Anordnung nach § 68c Abs. 2 StGB aus, da die verurteilte Person der ihr erteilten Weisung, sich einer Heilbehandlung durch Einnahme der Medikamente zu unterziehen, während der Dauer der Führungsaufsicht sehr wohl nachkommt. Durch die Verlängerung der Führungsaufsicht kann hier künftig eine dauerhafte Überwachung und Betreuung sichergestellt werden.“ (BT.Drs. 16/1993, S. 21).

In der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses (Bt.Drs. 16/4740) zum Gesetzentwurf der Bunderegierung wird hierzu ausgeführt:

„Hinsichtlich der Führungsaufsicht enthält der Gesetzentwurf im Wesentlichen die folgenden Regelungen:

(…)

– Möglichkeit zur unbefristeten Verlängerung der Führungsaufsicht bei früheren Patientinnen und Patienten forensisch-psychiatrischer Kliniken, die ohne weitere Betreuung im Rahmen der Führungsaufsicht alsbald wieder in ihre psychische Krankheit oder Störung zurückfallen würden, und in Fällen schwerer Sexualstraftaten bei fortbestehender Gefährlichkeit der Täterin oder des Täters, s. § 68c Abs. 3 StGB-E;“ (Bt.Drs. 16/4740, S. 2).“

bb.

Eine Vergleichbarkeit der Interessenlage dürfte zwar gegeben sein. Bei einer bereits mit ihrer Anordnung nach § 67b StGB zur Bewährung ausgesetzten Maßregel besteht theoretisch ebenfalls das Risiko, dass die verurteilte Person „der ihr erteilten Weisung, sich einer Heilbehandlung durch Einnahme der Medikamente zu unterziehen, [nur] während der Dauer der Führungsaufsicht (…) nachkommt“.

cc.

Es fehlt aber an einer planwidrigen Regelungslücke. Eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes als Voraussetzung für eine "gesetzesimmanente Rechtsfortbildung" (dazu etwa BGH, Urt. v. 05.02.1981 - III ZR 66/80, NJW 1981, 1726, 1727; Urt. v. 04.05.1988 - VIII ZR 196/87, NJW 1988, 2109, 2110; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., S. 373) ist vom Standpunkt des Gesetzes und der ihm zugrundeliegenden Regelungsabsicht zu beurteilen. Das Gesetz muss also, gemessen an seiner eigenen Regelungsabsicht, unvollständig sein (BGH, Urteil vom 13. November 2001 - X ZR 134/00 -, BGHZ 149, 165-178, Rn. 35).

Für die Annahme, dass der Gesetzgeber bei Neuschaffung des § 68c Abs. 3 Nr. 1 StGB angesichts der ausdrücklichen Erwähnung der Aussetzung nach § 67d Abs. 2 StGB in der Begründung des Gesetzentwurfs den Fall des Eintritts befristeter Führungsaufsicht nach Aussetzung nach § 67b StGB planwidrig übersehen haben könnte, bleibt kein Raum. Dies folgt auch aus der Beschlussempfehlung des Rechtsauschusses, der ausdrücklich ausführt, dass die Regelung des § 68c Abs. 3 Nr. 1 StGB-E die Anordnung unbefristeter Führungsaufsicht „bei früheren Patientinnen und Patienten forensisch-psychiatrischer Kliniken“ ermögliche.

Dies gilt insbesondere, da der Gesetzgeber im Rahmen des Änderungsgesetzes § 67b StGB erkennbar vor Augen hatte, da mit dem Änderungsgesetz auch § 68c Abs. 3 a. F. StGB – zur Regelung des Beginns der Führungsaufsicht – in § 68c Abs. 4 geändert und inhaltlich ergänzt wurde, und nunmehr sowohl den Eintritt der Führungsaufsicht nach Aussetzung einer Maßregel nach § 67b Abs. 2 StGB als auch nach § 67d Abs. 2 StGB ausdrücklich erfasst.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO analog.