OLG Hamburg, Urteil vom 09.05.2019 - 3 U 184/18
Fundstelle
openJur 2020, 8794
  • Rkr:

1. Wird im Patentanspruch der Begriff der „normalen Verwendung“ benutzt, so ist es für die Auslegung dieses Begriff entscheidend, dass der Anspruch auch die komplementäre Angabe der „anormalen Verwendung“ enthält. Das Begriffspaar „normal“ und „anormal“ legt den Schluss nahe, dass es sämtliche denkbaren Verwendungen umfassen soll, da durch den Umstand, dass der eine Begriff die Negation des anderen darstellt, eine dritte Verwendungsform sprachlogisch undenkbar ist.

2. Beschreibt die Patentschrift die anormale Verwendung eines Kinderrückhaltesystems für Kraftfahrzeuge als eine, die mit einer Kollision von hinten verbunden ist, dann erfasst eine „normale Verwendung“ jede kollisionsfreie Fahrt einschließlich extremer Verkehrssituationen.

3. Ergibt die Auslegung der Patentschrift für ein Kinderrückhaltesystem, dass das Patent die Aufrechterhaltung einer Verriegelung des Rückhaltesystems bei jeder „normalen Verwendung“, nämlich einer kollisionsfreien Fahrt, fordert, so dass es erst beim Vorliegen einer „anormalen Verwendung“, nämlich einem Aufprall von hinten, zu einem Lösen der Verriegelung kommt, dann ist das Patent für ein Kinderrückhaltesystem nicht verletzt, wenn die angegriffene Ausführungsform eine – insbesondere vorbekannte – Verriegelung aufweist, die sich auch bei einer kollisionsfreien Fahrt lösen kann. Dafür, dass letzteres bei der angegriffenen Ausführungsform nicht geschehen kann, trägt die Anspruchstellerin die Darlegungs- und Beweis- bzw. Glaubhaftmachungslast.

Tenor

Auf die Berufung der Antragsgegnerin wird das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 27. September 2018, Geschäfts-Nr. 327 O 91/18, abgeändert:

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 5. Januar 2018 wird zurückgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits hat die Antragstellerin zu tragen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

A.

Die Antragstellerin nimmt die Antragsgegnerin im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes unter dem Gesichtspunkt einer Patentverletzung auf Unterlassung in Anspruch.

Die Antragstellerin ist Inhaberin des europäischen Patents EP 2 161 160 B2 betreffend ein Kinderrückhaltesystem zur Verwendung in einem Fahrzeug in Verbindung mit einer ISOFIX-Basis (Anlage AST 6). Die zugrundeliegende Anmeldung erfolgte am 07.09.2009 und wurde am 10.03.2010 veröffentlicht. Das Patent beansprucht eine norwegische Priorität vom 08.09.2008 (Dokument NO 20083819). Die Bekanntmachung des Hinweises auf die Patenterteilung erfolgte am 27.11.2013. Die Bundesrepublik Deutschland ist in der Veröffentlichung als Vertragsstaat benannt und das Patent steht hier in Kraft. Das erteilte europäische Patent war Gegenstand eines Einspruchsverfahrens vor dem Europäischen Patentamt. Die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts erhielt das Verfügungspatent nach Maßgabe der Entscheidung vom 22.11.2016 aufrecht. Wegen der Einzelheiten wird insoweit auf die als Anlage AST 6 zur Akte gereichte Einspruchsentscheidung Bezug genommen.

Das Verfügungspatent betrifft ein Kinderrückhaltesystem, das mit einer ISOFIX-Basis verwendet werden kann. Anspruch 1 des Verfügungspatents lautet in seiner im Einspruchsverfahren geänderten Fassung:

„A child restraint system (1) for use in a vehicle, said system comprising a base (2) having a lower surface resting on a sitting portion of a vehicle seat (13), where the base (2) is provided for engagement with anchorage means (12) in the vehicle seat (13), thereby providing a pivot connection between the base (2) and the anchorage means (12), a child seat (3) connected to the base (2), wherein the base (2) further comprises an impact absorbing mechanism (7) in form of at least one ISOFIX connector (4) and at least one blocker element (9),characterized in thatthe at least one ISOFIX connector (4) is arranged in a void (8) in the base (2), and the blocker element (9) is arranged into a recess (14) in the base (2), such that a stud (11) of the blocker element (9) will protrude through the recess (14) into the void (8), the stud (11) abutting against and locking the ISOFIX connector (4) under normal utilization of the child restraint, thereby preventing the at least one ISOFIX connector (4) to be moved into the base (2), the blocker element (9) being brought out of abutment with the ISOFIX connector (4) under abnormal utilization of the child restraint, thereby allowing the ISOFIX connector (4) to slide into the base (2).”

In deutscher Übersetzung:

„Kinderrückhaltesystem (1) zur Verwendung in einem Fahrzeug, wobei das System eine Basis (2) umfasst, welche eine untere Fläche hat, welche auf einem Sitzabschnitt von einem Fahrzeugsitz (13) ruht, wobei die Basis (2) zur Ineingriffnahme mit einem Verankerungselement (12) in dem Fahrzeugsitz (13) bereitgestellt ist, wodurch eine Schwenkverbindung zwischen der Basis (2) und dem Verankerungselement (12) bereitgestellt ist, wobei ein Kindersitz (3) mit der Basis (2) verbunden ist, wobei die Basis (2) ferner einen Aufprall-Absorptionsmechanismus (7) in der Form von zumindest einer ISOFIX-Verbindung (4) und zumindest ein Blockierelement (9) umfasst,dadurch gekennzeichnet,dass die zumindest eine ISOFIX-Verbindung (4) in einem Zwischenraum (8) in der Basis (2) angeordnet ist, und das Blockierelement (9) in einer Aussparung (14) in der Basis (2) angeordnet ist, so dass ein Ansatzstück (11) von dem Blockierelement (9) durch die Aussparung (14) in den Zwischenraum (8) vorragen wird, wobei das Ansatzstück (11) bei einer normalen Verwendung von der Kinderrückhaltung gegen die ISOFIX-Verbindung (4) anschlägt und diese verriegelt, wodurch verhindert wird, dass die zumindest eine ISOFIX-Verbindung (4) in die Basis (2) bewegt wird, wobei das Blockierelement (9) bei einer anormalen Verwendung von der Kinderrückhaltung aus dem Anschlag mit der ISOFIX-Verbindung (4) gelöst wird, wodurch es der ISOFIX-Verbindung (4) ermöglicht wird, in die Basis (2) zu gleiten.“

Der deutsche Teil des Verfügungspatents wird vor dem Bundespatentgericht mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen (Anlagen AG 11 und AG 20), über welche noch nicht entschieden worden ist.

Die Antragsgegnerin betreibt unter der Domain de.b.com eine deutschsprachige Internetseite, auf der u.a. der Autokindersitz „O. spin 360“ beworben wurde (Anlage AST 1). Auf der Unterseite de.b.com/o-distributors wurde unter der Überschrift „Vertrieb weltweit“ für Deutschland die O. GmbH genannt (Anlage AST 3).

Der Kindersitz „O. spin 360“ (Anlage AST 11) wird zusammen mit einer ISOFIX-Basis in einem Kraftfahrzeug montiert. Wegen der Einzelheiten wird auf die Bedienungsanleitung in Anlage AST 10 = AG 5 Bezug genommen. Der „O. spin 360“ ist seit September 2016 in Deutschland erhältlich (Anlage AG 6).

Die Antragstellerin hat die Auffassung vertreten, der „O. spin 360“ verletze den Anspruch 1 des Verfügungspatents in wortsinngemäßer Weise. Insbesondere seien die Merkmale 4 bis 6 gemäß der Merkmalsgliederung in Anlage AST 8 verwirklicht.

Der Kindersitz „O. spin 360“ weise einen Aufprall-Absorptionsmechanismus („impact absorbing mechanism“) in Form von zumindest einer ISOFIX-Verbindung („ISOFIX connector“) und einem Blockierelement („blocker element“) auf. Dass durch den Mechanismus Aufprallenergie absorbiert werde, belege ein Crashtest, den die Antragstellerin von dem Testinstitut der TASS International Homologations B.V. (im Folgenden: TASS) habe durchführen lassen (Anlagen AST 12 und AST 13). Dabei seien zwei „O. spin 360“ getestet worden, nämlich ein handelsüblicher und einer, bei dem die ISOFIX-Arme durch Bolzen blockiert worden seien, so dass sie im Zuge des Aufpralls nicht in die Basis hätten gleiten können. Der Versuch zeige, dass bei dem handelsüblichen „O. spin 360“ im Falle eines Heckaufpralls die ISOFIX-Arme teilweise in die Basis glitten und Aufprallenergie absorbiert werde, wodurch der handelsübliche „O. spin 360“ nicht so stark rotiere wie derjenige mit den blockierten ISOFIX-Armen, die nicht in die Basis hätten gleiten können.

Die ISOFIX-Verbindung sei in einem Zwischenraum („void“) in der Basis gemäß Merkmal 5 angeordnet. Der Zwischenraum werde durch die Ausformung der unteren und oberen Halbschale der Basis und durch den dadurch entstehenden Hohlkörper gebildet. Der Kindersitz „O. spin 360“ weise ferner in Form der silberfarbenen Querstange zwei Blockierelemente auf, deren abgeschrägte Ansatzstücke („studs“) durch Aussparungen („recesses“), nämlich Durchgangsbohrungen in dem Rahmen, in den Zwischenraum, also den Hohlraum der Basis, ragten. Unter „normaler Verwendung“ („normal utilization“) verriegelten die Blockierelemente die ISOFIX-Verbindung (Merkmal 6.a). Während der Installation könnten die seitlichen Einstellknöpfe an der Basis gedrückt werden, um die Verriegelung der ISOFIX-Arme durch die Blockierelemente zu lösen, sodass die Position der Basis und damit des Kindersitzes gegenüber der Autositzrückenlehne eingestellt werden könne. Nach Freigabe der Einstellknöpfe rasteten die Blockierelemente in der richtigen Position in den ISOFIX-Armen ein. Durch die Verriegelung unter „normaler Verwendung“ werde verhindert, dass die ISOFIX-Verbindung in die Basis bewegt werde. Dass dies bei dem „O. spin 360“ der Fall sei, werde durch einen weiteren Testbericht des TASS vom 09.05.2018 belegt (Anlage AST 26). Bei dem zu Grunde liegenden Test seien ein „O. spin 360“ und ein Autokindersitz „MaxiCosi Cabriofix mit Easyfix Basis“ getestet worden. Es sei ein Bremsvorgang mit einer durchschnittlichen Bremsverzögerung von 3,92 m/s², also 0,4g, simuliert worden. Die ISOFIX-Verbindung des „O. spin 360“ sei dabei in ihrer ursprünglichen Stellung geblieben, während sich die ISOFIX-Verbindung bei dem „MaxiCosi“ in die Basis bewegt habe. Dieser Test sei durch einen weiteren Test durch das Institut der CSI S.p.A. gemäß dem Testbericht vom 12.09.2018 bestätigt worden (Anlage AST 35). Bei diesem Test des „O. spin 360“ habe der Sensor am Testfahrzeug eine maximale Bremsverzögerung von 0,43 g und der Sensor am Kindersitz eine maximale Bremsverzögerung von 0,54 g gemessen.

Im Fall eines Heckaufpralls würden die Blockierelemente des „O. spin 360“ aus dem Anschlag mit der ISOFIX-Verbindung gelöst, wodurch es der ISOFIX-Verbindung ermöglicht werde, in die Basis zu gleiten (Merkmal 6.b). Hierzu seien die Ansatzstücke angeschrägt. Es gebe im Zwischenraum der Basis, der die ISOFIX-Arme aufnehme, nach der bestimmungsgemäßen Installation noch ausreichend Platz, um weitere Anteile der ISOFIX-Arme aufzunehmen.

Die Antragstellerin hat behauptet, dass der in ihrem Unternehmen für die Beobachtung und Analyse von Autokindersitzen von Wettbewerbern zuständige Mitarbeiter M. von dem „O. spin 360“ und der Möglichkeit einer Patentverletzung durch diesen am 08.12.2017 Kenntnis erlangt habe (Anlage AST 14). Es sei daraufhin der Test bei TASS in Auftrag gegeben worden, der am 22.12.2017 durchgeführt worden sei und dessen Ergebnis am 04.01.2018 vorgelegen habe.

Die Antragstellerin hat beantragt,

der Antragsgegnerin bei Meidung der gesetzlich vorgesehenen Ordnungsmittel zu verbieten,

Kinderrückhaltesysteme zur Verwendung in einem Fahrzeug, wobei das System eine Basis umfasst, welche eine untere Fläche hat, welche auf einem Sitzabschnitt von einem Fahrzeugsitz ruht, wobei die Basis zur Ineingriffnahme mit einem Verankerungselement in dem Fahrzeugsitz bereitgestellt ist, wodurch eine Schwenkverbindung zwischen der Basis und dem Verankerungselement bereitgestellt ist, wobei ein Kindersitz mit der Basis verbunden ist, wobei die Basis ferner einen Aufprall-Absorptionsmechanismus in der Form zumindest einer ISOFIX-Verbindung und zumindest einem Blockierelement umfasst,

in der Bundesrepublik Deutschland anzubieten, in den Verkehr zu bringen, zu gebrauchen und/oder zu einem dieser Zwecke einzuführen oder zu besitzen,

bei denen die zumindest eine ISOFIX-Verbindung in einem Zwischenraum in der Basis angeordnet ist, und das Blockierelement in einer Aussparung in der Basis angeordnet ist, so dass ein Ansatzstück von dem Blockierelement durch die Aussparung in den Zwischenraum vorragen wird, wobei das Ansatzstück bei einer normalen Verwendung von der Kinderrückhaltung gegen die ISOFIX-Verbindung anschlägt und diese verriegelt, wodurch verhindert wird, dass die zumindest eine ISOFIX-Verbindung in die Basis bewegt wird, wobei das Blockierelement bei einer anormalen Verwendung von der Kinderrückhaltung aus dem Anschlag mit der ISOFIX-Verbindung gelöst wird, wodurch der ISOFIX-Verbindung ermöglicht wird, in die Basis zu gleiten.

Die Antragsgegnerin hat beantragt,

den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin hat die Auffassung vertreten, der „O. spin 360“ mache von dem Verfügungspatent keinen Gebrauch, da die Merkmale 4 bis 6 gemäß der Merkmalsgliederung der Antragstellerin (Anlage AST 8) nicht verwirklicht seien.

Es liege kein „Aufprall-Absorptionsmechanismus“ gemäß Merkmal 4 vor, da für das Lösen des Blockierelements aus dem Anschlag und das Hineingleiten der ISOFIX-Verbindung kaum Energie benötigt werde. Der Energiebetrag sei lediglich mit 15 bis 23 Joul anzusetzen, was angesichts der bei einem Unfall auftretenden Energien zu vernachlässigen sei. Dass keine nennenswerte Energieabsorption auftrete, habe sich auch in verschiedenen Tests gezeigt. Zum einen sei ein Test im W. Testing Laboratory Center in China durchgeführt worden, bei dem ein handelsüblicher „O. spin 360“ verwendet worden sei sowie einer, bei dem die Verstellstangen entfernt worden seien, so dass die ISOFIX-Verbindung frei in die Basis hinein und heraus habe gleiten können. Der Test habe ergeben, dass sämtliche Beschleunigungswerte nahezu identisch gewesen seien. Zum anderen seien Versuche bei der J. S. Systems GmbH in Berlin durchgeführt worden (Anlage AG 36 bis AG 38). Dabei sei zum einen ein „O. spin 360“ so installiert worden, dass die ISOFIX-Arme vor dem Aufprall nicht vollständig eingefahren gewesen seien, so dass der vermeintliche „Aufprall-Absorptionsmechanismus“ seine Wirkung habe entfalten können. Zum anderen sei ein „O. spin 360“ verwendet worden, der sich vor dem Aufprall bereits in einer Position befunden habe, bei der die ISOFIX-Verbindung soweit wie möglich in die Basis eingefahren gewesen sei, so dass ein etwaiger „Aufprall-Absorptionsmechanismus“ nicht habe wirken können. In beiden Fällen sei der Kindersitz durch den Aufprall gleich weit nach oben geschwenkt worden. Dass in dem Crashtest von TASS gemäß den Anlagen AST 12 und AST 13 der manipulierte „O. spin 360“ höher geschwenkt sein solle als der handelsübliche, sei nicht mit einer Energieabsorption zu erklären, sondern damit, dass sich der manipulierte Kindersitz auf einer Kreisbahn mit dem größeren Radius bewegt habe. Dies zeige ein weiterer bei Joyson durchgeführter Test. Dabei sei ein „O. spin 360“ verwendet worden, bei dem die Verstellstangen entfernt worden seien. Dieser Sitz sei bei dem Test zunächst auf die Rückenlehne des Fahrzeugsitzes geprallt und sodann von dieser zurückgestoßen worden, so dass sich der Radius der Kreisbahn, auf der der „O. spin 360“ nach oben geschwenkt sei, wieder vergrößert habe. Dieser Sitz sei höher geschwenkt als der handelsübliche, bei dem die ISOFIX-Verbindung nicht wieder aus der Basis habe herausgleiten können. Dementsprechend komme der von der Antragsgegnerin befragte Herr Dr.-Ing. H. J., technischer Leiter der Unfallforschung der Medizinischen Hochschule Hannover, zu dem Ergebnis, dass durch den von der Antragstellerin behaupteten „Aufprall-Absorptionsmechanismus“ keine „für das Kind spürbare Menge von Energie“ absorbiert werde (Anlage AG 37).

Die ISOFIX-Verbindung befinde sich nicht in einem Zwischenraum gemäß Merkmal 5, sondern schlicht im Hohlraum der Basis. Es werde kein „spezieller Zwischenraum für die ISOFIX-Verbindung innerhalb der Basis geschaffen“ wie er in der Figur 5 des Verfügungspatents dargestellt werde.

Das Blockierelement befinde sich nicht in einer Aussparung gemäß Merkmal 6, sondern ebenfalls frei im Innenraum der Basis. Das Ansatzstück des Blockierelements rage nicht aus einer solchen Aussparung in den Zwischenraum, um bei normaler Verwendung gegen die ISOFIX-Verbindung anzuschlagen und diese zu verriegeln gemäß Merkmal 6.a. Dieses Merkmal sei so auszulegen, dass die Verriegelung bei jeder normalen Verwendung gegeben sein müsse. Würde das Merkmal anders interpretiert, so wäre das Patent auch dann erfüllt, wenn die Verbindung nur bei einem parkenden Fahrzeug unbeweglich sei und sich bei Auftreten jeglicher Beschleunigung von selbst löse. Die Antragsgegnerin habe durch ihre Patentanwälte einen Test in einer Tiefgarage durchführen lassen, bei dem rückwärts gefahren und dann mit einer Bremsverzögerung von etwa 5 m/s² bis 6,5 m/s², also 0,5 g bis 0,65 g, gebremst worden sei. Dies habe eine normale Verwendung des „O. spin 360“ dargestellt. Dennoch seien die ISOFIX-Arme in die Basis des Kindersitzes geglitten, weil sich die Verriegelung gelöst habe (Anlagen AG 15 und AG 29).

Die Antragsgegnerin hat ferner die Auffassung vertreten, dass auch kein Verfügungsgrund vorliege. Zum einen fehle es an der Dringlichkeit, denn es sei unglaubwürdig, dass die Antragstellerin erstmals im Dezember 2017 Kenntnis von der streitgegenständlichen Ausführungsform erlangt habe. Zum anderen fehle es dem Verfügungspatent an der Rechtsbeständigkeit. Der Gegenstand des Verfügungspatents sei nicht neu gegenüber dem deutschen Gebrauchsmuster DE 20 2007 012 746 U1, veröffentlicht am 24.01.2008 (Anlage AG 21), der internationalen Patentanmeldung WO 2006/021749 A1, veröffentlicht am 02.03.2006 (Anlage AG 22), sowie den offenkundigen Vorbenutzungen in Form der Kindersitze „R. Duo Plus“ (Anlage AG 24) und „Re. Y. Profi Plus“ (Anlage AG 31), die beide vor dem Prioritätstag des Verfügungspatents erhältlich gewesen seien.

Das Landgericht hat die Antragsgegnerin mit Urteil vom 27.09.2018 antragsgemäß verurteilt. Der Antragstellerin stehe mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein auf Unterlassung gerichteter Verfügungsanspruch gemäß Art. 64 Abs. 1 und 3 EPÜ i. V. m. § 9 S. 2 Nr. 1 PatG zu, weil die angegriffene Ausführungsform das Verfügungspatent wortsinngemäß verletze. Sie verwirkliche nicht nur die Merkmale 0 bis 3 des Anspruchs 1 des Verfügungspatents, sondern auch dessen im Streit stehenden Merkmale 4 bis 6. Es bestehe ein Verfügungsgrund, wobei insbesondere von der Rechtsbeständigkeit des Verfügungspatents auszugehen sei, da nicht zu erwarten sei, dass das Verfahren vor dem Bundespatentgericht zur Nichtigkeit des Patents führen werde. Die darin gemachten Entgegenhaltungen seien sämtlich als nicht neuheitsschädlich anzusehen. Wegen der Einzelheiten wird auf das Urteil des Landgerichts vom 27.9.2018 Bezug genommen.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Antragsgegnerin mit ihrer Berufung. Sie wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Sie führt dabei insbesondere aus:

Der Antragstellerin sei es nicht gelungen, in der angegriffenen Ausführungsform einen Aufprall-Absorptionsmechnismus nachzuweisen, wie ihn das Verfügungspatent voraussetze. Deren Verstellmechanismus absorbiere tatsächlich keine Aufprallenergie. Die patentgemäße Lösung setze zudem eine sichtbare Verminderung der Rotationsbewegung des Kindersitzes durch Absorption eines Teils der Aufprallenergie voraus, indem das Blockierelement die ISOFIX-Verbindung in normalen Verwendungssituationen verriegele und bei anormaler Verwendung des Sitzes im Falle eines Aufpralls freigebe. Dies erfordere eine Verriegelung bis zur Aufprallschwelle, die bei der angegriffenen Ausführungsform nicht gegeben sei. Wegen der Gesetze der Schwerkraft sei eine Rotation des Sitzes erst ab einer Beschleunigung von 1g denkbar. Die Antragsgegnerin habe aber nachgewiesen, dass die angegriffene Ausführungsform bereits bei einer Beschleunigung von 0,6g nicht mehr verriegele. Aussparung und Zwischenraum seien nach dem Anspruch 1 des Verfügungspatents voneinander abzugrenzende Räume innerhalb der Basis. In der angegriffenen Ausführungsform liege der Verstellmechanismus weder in einer Aussparung noch existiere ein hierzu abgrenzbarer Zwischenraum. Schließlich bewerte das Landgericht den neuheitsschädlichen Stand der Technik nur unzureichend. Die Gebrauchsmusterschrift gemäß Anlage AG 21 wirke sich ebenso wie die Druckschrift gemäß Anlage AG 22 neuheitsschädlich aus. Auch die Vorbenutzungen gemäß der Anlagen AG 24 und AG 31 stünden der Neuheit des Verfügungspatents entgegen. Schließlich fehle es auch an der Passivlegitimation der Antragsgegnerin.

Die Antragsgegnerin beantragt,

das Urteil des Landgerichts Hamburg vom 27. September 2018 in der Sache 327 O 91/18 abzuändern und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung vom 5. Januar 2018 zurückzuweisen.

Die Antragstellerin beantragt,

die Berufung mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass es am Ende des Klagantrags heißen soll: „, wie aus der Anlage AG 16 ersichtlich.“

Die Antragstellerin verteidigt das erstinstanzliche Urteil und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag. Das Landgericht habe die einstweilige Verfügung zu Recht erlassen, weil die angegriffene Ausführungsform von Anspruch 1 des Verfügungspatents Gebrauch mache. Die Antragstellerin habe die Patentverletzung durch die zur Akte gereichten von maßgeblichen europäischen Einrichtungen durchgeführten Tests belegt. Die von der Antragsgegnerin in der angegriffenen Ausführungsform gewählte Konstruktion „schlucke“ Energie, wenn es zu einem Unfall komme. Die Energieabsorption müsse nach den Vorgaben des Verfügungspatents weder nennenswert noch sichtbar sein. Die von der Antragsgegnerin vorgelegten Testergebnisse seien sämtlich nicht verwertbar, weil die Tests jeweils an gravierenden Mängeln litten. Die von der Antragsgegnerin angeführte Schwelle einer Krafteinwirkung von 1g sei unzutreffend und nicht einschlägig, da die erfindungsgemäße Lösung schon eingreife, bevor die Schwelle für das Auftreten einer Aufwärtsbewegung überschritten sei. Sie solle bereits im Anfangsstadium verhindert oder zumindest reduziert werden. Anspruch 1 spreche lediglich von „einer normalen Verwendung“ und „einer anormalen Verwendung“, daher komme der patentrechtliche Grundsatz zum Tragen, dass eine nachgewiesene Verletzungssituation reiche. Es komme nicht darauf an, dass eine Verriegelung bei jeder „normalen Verwendung“ gegeben sei. Das EPA habe bei seiner Einspruchsentscheidung zudem auch keine Extremsituationen wie Übergas und Vollbremsungen im Blick gehabt, sondern „eine normale Verwendung im Straßenverkehr“, also eine herkömmliche Fahrsituation. Der Rechtsbestand des Patents sei nicht zweifelhaft, weil die in das Nichtigkeitsverfahren eingeführten Entgegenhaltungen sämtlich nicht als neuheitsschädlich anzusehen seien.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die von den Parteien zur Akte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 4.4.2019 Bezug genommen.

B.

Die zulässige Berufung der Antragsgegnerin ist begründet.

Der Antragstellerin steht der geltend gemachte Verfügungsanspruch überwiegend wahrscheinlich nicht zu. Der Senat hält an dem in der mündlichen Verhandlung mitgeteilten Ergebnis seiner Vorberatung vor dem Hintergrund der Erörterungen in der mündlichen Verhandlung und der dortigen Inaugenscheinnahme der angegriffenen Ausführungsformen und der entgegengehaltenen Kinderrückhaltesysteme, insbesondere des MaxiCosi Cabriofix/Easyfix, nicht fest. Er ist nach weiterer Abwägung der im Streitfall maßgeblichen tatsächlichen Umstände und rechtlichen Gesichtspunkte zu dem Ergebnis gelangt, dass der Antragstellerin ein Unterlassungsanspruch nach Art. 64 Abs. 1 und 3 EPÜ i. V. m. § 9 S. 2 Nr. 1 PatG nicht zusteht.

Nach diesen Vorschriften ist es jedem Dritten verboten, ohne Zustimmung des Patentinhabers ein Erzeugnis, das Gegenstand des Patents ist, herzustellen, anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen. Die Voraussetzungen eines darauf gestützten Unterlassungsanspruchs liegen nicht vor, weil die angegriffene Ausführungsform gemäß Anlage AG 16 überwiegend wahrscheinlich nicht von dem Verfügungspatent Gebrauch macht.

I.

Bei Erteilung des europäischen Patents EP 2 161 160 B2 (Anlage AST 6) waren nach dem Stand der Technik bereits Kinderrückhaltesysteme unter Nutzung einer ISOFIX-Verbindung bekannt. Als nachteilhaft werden nach dem Verfügungspatent die auftretenden Kopfbewegungen im Falle eines (Heck-)Aufpralls beschrieben, die daraus resultieren, dass bei ISOFIX-Verbindungen eine schwenkbare Zange in eine Öse greift. Zur Lösung dieses Problems waren bereits verschiedene Vorschläge nach dem Stand der Technik bekannt, wie etwa ein dritter Verankerungspunkt oder ein unterseitiges Unterstützungselement.

Die Aufgabe der streitgegenständlichen Erfindung ist es, eine Lösung für das vorbenannte Problem zu liefern, die das Unfallverhalten des Kinderrückhaltesystems verbessert, einen einfachen Einbau des Kindersicherheitssitzes in das Fahrzeug ermöglicht und zugleich die Gefahr einer Fehlbedienung minimiert. Das Besondere an der Lehre der Erfindung besteht insbesondere darin, die Arretierung und Anordnung der ISOFIX-Verbindung so auszugestalten, dass es den arretierten ISOFIX-Verbindungen ermöglicht wird, im Falle des Heckaufpralls in die Basis zu gleiten und auf diese Weise Aufprall-Energie zu absorbieren.

Anspruch 1 des Verfügungspatents schlägt zur Lösung dieser Problematik vor:

„A child restraint system (1) for use in a vehicle, said system comprising a base (2) having a lower surface resting on a sitting portion of a vehicle seat (13), where the base (2) is provided for engagement with anchorage means (12) in the vehicle seat (13), thereby providing a pivot connection between the base (2) and the anchorage means (12), a child seat (3) connected to the base (2), wherein the base (2) further comprises an impact absorbing mechanism (7) in form of at least one ISOFIX connector (4) and at least one blocker element (9),characterized in thatthe at least one ISOFIX connector (4) is arranged in a void (8) in the base (2), and the blocker element (9) is arranged into a recess (14) in the base (2), such that a stud (11) of the blocker element (9) will protrude through the recess (14) into the void (8), the stud (11) abutting against and locking the ISOFIX connector (4) under normal utilization of the child restraint, thereby preventing the at least one ISOFIX connector (4) to be moved into the base (2), the blocker element (9) being brought out of abutment with the ISOFIX connector (4) under abnormal utilization of the child restraint, thereby allowing the ISOFIX connector (4) to slide into the base (2).”

Die Merkmale dieses Anspruchs lassen sich in deutscher Übersetzung wie folgt gliedern:

0. Kinderrückhaltesystem (1) zur Verwendung in einem Fahrzeug, wobei das System eine Basis (2) umfasst,

1. welche eine untere Fläche hat, welche auf einem Sitzabschnitt von einem Fahrzeugsitz (13) ruht,

2. wobei die Basis (2) zur Ineingriffnahme mit einem Verankerungselement (12) in dem Fahrzeugsitz (13) bereitgestellt ist, wodurch eine Schwenkverbindung zwischen der Basis (2) und dem Verankerungselement (12) bereitgestellt ist,

3. wobei ein Kindersitz (3) mit der Basis (2) verbunden ist,

4. wobei die Basis (2) ferner einen Aufprall-Absorptionsmechanismus (7) in der Form von zumindest einer ISOFIX-Verbindung (4) und zumindest ein Blockierelement (9) umfasst,

dadurch gekennzeichnet,

5. dass die zumindest eine ISOFIX-Verbindung (4) in einem Zwischenraum (8) in der Basis (2) angeordnet ist,

6. und das Blockierelement (9) in einer Aussparung (14) in der Basis (2) angeordnet ist,

a. sodass ein Ansatzstück (11) von dem Blockierelement (9) durch die Aussparung (14) in den Zwischenraum (8) vorragen wird, wobei das Ansatzstück (11) bei einer normalen Verwendung von der Kinderrückhaltung gegen die ISOFIX-Verbindung (4) anschlägt und diese verriegelt, wodurch verhindert wird, dass die zumindest eine ISOFIX-Verbindung (4) in die Basis (2) bewegt wird,

b. wobei das Blockierelement (9) bei einer anormalen Verwendung von der Kinderrückhaltung aus dem Anschlag mit der ISOFIX-Verbindung (4) gelöst wird, wodurch es der ISOFIX-Verbindung (4) ermöglicht wird, in die Basis (2) zu gleiten.

II.

Es ist überwiegend wahrscheinlich davon auszugehen, dass die angegriffene Ausführungsform das Merkmal 6.a nach der oben angeführten Merkmalsgliederung des Verfügungspatents nicht verwirklicht.

1. Dieses Merkmal

(“and the blocker element (9) is arranged into a recess (14) in the base (2), such that a stud (11) of the blocker element (9) will protrude through the recess (14) into the void (8), the stud (11) abutting against and locking the ISOFIX connector (4) under normal utilization of the child restraint, thereby preventing the at least one ISOFIX connector (4) to be moved into the base (2)”)

sieht u. a. vor, dass bei einer „normalen Verwendung” eine Verriegelung verhindert, dass die ISOFIX-Verbindung in die Basis bewegt wird.

a. Wie der Durchschnittsfachmann auf dem Gebiet der Konstruktion von Kinderrückhaltesystemen die Kombination der Merkmale versteht, ergibt sich ausgehend vom Patentanspruch (Art. 69 Abs. 1 S. 1 EPÜ, § 14 S. 1 PatG) aus dem technischen Zusammenhang seiner Merkmale, sowie aus dem Inhalt der Beschreibung und Zeichnungen (Art. 69 Abs. 1 S. 2 EPÜ, § 14 S. 2 PatG). Durch Heranziehung der Beschreibung zur Auslegung der Patentschrift wird sichergestellt, dass der tatsächliche Sprachgebrauch des Patents hinreichende Beachtung findet. Der Fachmann orientiert sich also an dem in der Patentschrift zum Ausdruck gekommenen Zweck eines Merkmals, womit der technische Sinn der in der Patentschrift benutzten Worte und Begriffe – nicht die philologische oder logisch-wissenschaftliche Begriffsbestimmung – entscheidend ist, die Patentschrift gleichsam ihr eigenes Lexikon darstellt (BGH, GRUR 2016, 169 – Luftkappensystem; BGHZ 150, 149, 156 – Schneidmesser I; BGH, GRUR 1999, 909 – Spannschraube). Auch die Ausführungen in einer Einspruchsentscheidung stellen gewichtige sachkundige Äußerungen dar, die vom Verletzungsgericht zur Kenntnis zu nehmen und bei seiner Auslegung zu würdigen sind (BGH, GRUR 1998, 895 Ls. - Regenbecken).

b. Für die Auslegung des Begriffs der „normalen Verwendung“ („normal utilization“) ist die im Patentanspruch angelegte komplementäre Rolle der „anormalen Verwendung“ („abnormal utilization“) entscheidend, wie sie im Merkmal 6.b nach der o. g. Gliederung zum Ausdruck kommt. Der Anspruch beschreibt in seinem Merkmal 6.a für die „normale Verwendung“ die Funktion der Verriegelung („locking the ISOFIX connector“) und für die „anormale Verwendung“ das Lösen der Verriegelung und Hineingleiten in die Basis („brought out of abutment (...), thereby allowing the ISOFIX connector (4) to slide into the base“). Es wird mithin einer bestimmten Verwendungsform eine bestimmte Funktionsweise des Patents zugeordnet. Das Begriffspaar „normal“ und „anormal“ legt den Schluss nahe, dass es sämtliche denkbaren Verwendungen umfassen soll, da durch den Umstand, dass der eine Begriff die Negation des anderen darstellt, eine dritte Verwendungsform sprachlogisch undenkbar ist. Jede Verwendung ist nach dem Anspruch des Verfügungspatents mithin als „normal“ oder „anormal“ zu qualifizieren.

c. Dabei wird der Fachmann die „anormale Verwendung“ als eine solche verstehen, die mit einer Kollision, genauer: einem Aufprall von hinten, verbunden ist. Dies lässt sich der Beschreibung der Patentschrift entnehmen:

„If the vehicle is involved in a crash from behind, where the vehicle, due to the crash, is exposed to sudden deceleration, then the blocker element will be forced out of abutment with the ISOFIX connector to slide into the base“ [0012].

Auch die Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts vom 22.11.2016 (Anlage AST 5) bekräftigt dieses Verständnis:

“More particularly, and contrary to the Opponent’s line of argument in this respect, identifying the claimed abnormal driving condition as a collision situation (crash from behind) appears to derive clearly from several, consistent parts of the text of the description as cited by the Opponent himself (see e. g. column 2, line 50 of the patent specification, or the comparison between prior art arrangements and invention as illustrated in Figs. 3 and 4 of the drawing)” (Begründung, Ziffer 4, Absatz 2).

d. Ausgehend von dem sprachlichen Dualismus des Begriffspaars “normal” / ”anormal” wird der Fachmann die „normale Verwendung“ als jede andere Verwendung verstehen, welche nicht als „anormal“ im obigen Sinne einzustufen ist. Bezogen auf den Zweck des Patents bedeutet dies, dass eine „normale Verwendung“ immer dann vorliegt, wenn keine Kollisionssituation gegeben ist. Auch dieses Verständnis deckt sich mit der Auslegung der Einspruchsabteilung:

“Along the same lines, the skilled person would derive inter alia from said passages as a matter of course (...) that a normal driving condition of the vehicle simply means the absence of a collision situation during the drive.” (Einspruchsentscheidung vom 26.11.2016, Anlage AST 5, Begründung, Ziffer 4, Absatz 2).

Dieses Verständnis der Begriffe bedeutet, dass „normale Verwendung“ jede kollisionsfreie Fahrt einschließlich extremer Verkehrssituationen erfasst, also auch die Vollbremsung während einer Rückwärtsfahrt.

e. Es ist davon auszugehen, dass der Patentanspruch jeder Verwendungsart genau eine bestimmte Funktionsweise zuordnet, nämlich jeder „normalen Verwendung“ die Verriegelung im Sinne von Merkmal 6.a und jeder „anormalen Verwendung“ das Lösen der Verriegelung und Hineingleiten des ISOFIX-Verbinders in die Basis. Entgegen der Auffassung des Landgerichts genügt es zur Verwirklichung des Merkmals nicht, dass es überhaupt eine „normale Verwendung“ gibt, in welcher eine Verriegelung gegeben ist. Die Verwirklichung des Merkmals 6.a erfordert es vielmehr, dass die Verriegelung bei jeder „normalen Verwendung“ aufrechterhalten bleibt und es erst beim Vorliegen einer „anormalen Verwendung“, also einem Aufprall von hinten, zu einem Lösen der Verriegelung kommt.

Dieses Verständnis legt auch die Entscheidung der Einspruchsabteilung nahe. Diese hat sich insbesondere mit der Entgegenhaltung D10, dem „MaxiCosi Cabriofix/Easyfix“, und der Frage auseinandergesetzt, inwieweit im Verfügungspatent gegenüber dem darin offenbarten Mechanismus ein Entwicklungsschritt zu erkennen ist. Insoweit hat die Einspruchsabteilung unter der Überschrift „Novelty“ ausgeführt:

“In the prior use seat, sliding intrusion of the ISOFIX connector into the base under abnormal utilization of the child restraint was unmistakably proven by the means of the video A6, however, no trace of the opposite function as claimed can be found even only in the form of any implicit suggestion therein. In other words, once normal or abnormal utilization of the child restraint as claimed are regarded as clear to the skilled person, as established earlier when discussing both sufficiency of disclosure and amendments, no reasonable doubt can remain as to this feature being novel over the prior use seat” (Einspruchsentscheidung vom 26.11.2016, Anlage AST 5, Begründung, Ziffer 6.3, Absatz 2).

Die Neuheit der streitgegenständlichen Erfindung ist somit nicht maßgeblich in dem Lösen der Verriegelung und Hineingleiten des ISOFIX-Verbinders in die Basis zu sehen, sondern in der gegenteiligen Funktion („opposite function“). Dies wird unter der Überschrift „Inventive Step“ (Ziffer 6.4, Absatz 1) weiter ausgeführt:

“The prior art represented by D10 or said prior use MaxiCosi Cabriofix/Easyfix addresses safe assembly and adjustment of a child seat on an adult seat while contemplating only by way of example a collision situation (see col. 2, line 15 within paragraph [0007], but never mentions such collision situations as a main focus for the arrangement proposed therein – let alone a crash from behind – and critically for the assessment of inventive step in the case in point, never addresses or implements even only accidentally the claimed choice of preventing movement of the at least one ISOFIX connector into the base under normal utilization conditions according to said feature “5.2a)”.

Dies stellt klar, dass die vorbekannten Nutzungen gleichsam zufällig Merkmale des streitgegenständlichen Patents offenbaren, weil sie sich im Falle einer Kollision in vergleichbarer Weise verhalten. Um das Patent vom Stand der Technik und damit auch von Mechanismen abzugrenzen, welche die sichere Montage und Einstellung des Kindersitzes zum Gegenstand haben, hielt die Einspruchsentscheidung es für erforderlich, den Patentanspruch im kennzeichnenden Teil, nämlich im hier maßgeblichen Merkmal 6.a, um den Einschub „preventing the at least one ISOFIX connector (4) to be moved into the base“ zu ergänzen.

Versteht man dieses Erfordernis in Würdigung des Einspruchsverfahrens als ein solches, das dazu dient, die Besonderheit des Patents gegenüber dem Stand der Technik abzugrenzen, wie er insbesondere von der dortigen Entgegenhaltung D10 („MaxiCosi Cabriofix/Easyfix“) repräsentiert wird, wird der Fachmann das Merkmal 6.a so verstehen, dass eine Verriegelung für jede „normale Verwendung“ zu fordern ist. Ließe man es nämlich genügen, dass es überhaupt „normale Verwendungen“ gibt, bei welcher eine Arretierung verhindert, dass der ISOFIX-Verbinder in die Basis gleitet, wäre dieses Merkmal bereits durch die Vorbenutzung D10 offenbart gewesen. Auch dieser Sitz besitzt nämlich einen Einstellmechanismus, der erst nach Überwindung eines – wenn auch deutlich geringeren – Widerstandes ein Hineingleiten des Verbinders in die Basis ermöglicht. Dies hat die Inaugenscheinnahme dieses Sitzes durch den Senat in der mündlichen Verhandlung vom 5.4.2019 bestätigt. Es ist überwiegend wahrscheinlich davon auszugehen, dass sich zumindest bei sanften langsamen Fahrten die Arretierung des „MaxiCosi“ nicht lösen wird und deshalb eine Verriegelung bei einer solchen „normaler Verwendung“ gegeben ist. Eine Abgrenzung des Verfügungspatents gegenüber dem Stand der Technik und insbesondere den vorbekannten Montage- und Einstellmechanismen wird über das Merkmal 6.a deshalb erst möglich, wenn man dieses so versteht, dass die Verriegelung bei jeder „normalen Verwendung“ bestehen bleibt und erst bei „anormalen Verwendungen“, d. h. in Aufprall-Situationen, gelöst wird.

2. Die Antragstellerin hat nicht glaubhaft gemacht, dass die Verriegelung der ISOFIX-Verbindung der angegriffenen Ausführungsform bei jeder „normalen Verwendung“ ein Hineingleiten in die Basis verhindert. Sie hat zwar verschiedene Tests vorgelegt, mit welchen sie das Verhalten der angegriffenen Ausführungsform bei Bremsvorgängen belegen möchte, legt aber weder dar noch macht sie glaubhaft, dass die Verriegelung bei sämtlichen „normalen Verwendungen“, also sämtlichen (auch extremen) Fahrsituationen, gegeben bleibt. Dass etwa bei Vollbremsungen bei schneller Rückwärtsfahrt keine Bremsverzögerungen oberhalb von 0,54g auftreten können (dies ist der höchste Wert des CSI-Tests gemäß Anlage AST 35) wird von der Antragstellerin weder dargelegt noch glaubhaft gemacht. Da eine Verwirklichung des Merkmals 6.a des Anspruchs 1 des Verfügungspatents aber eine solche Verriegelung bei sämtlichen „normalen Verwendungen“ erfordert, kann nicht mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit von der Verwendung des Verfügungspatents durch die angegriffene Ausführungsform ausgegangen werden. Darauf, welchen Aussagewert die von der Antragsgegnerin durchgeführten Tests haben, mit welchen sie belegen möchte, dass sich die Verriegelung der angegriffenen Ausführungsform bei starken Bremsvorgängen löst, kommt es vor dem Hintergrund der die Antragstellerin treffenden Darlegungs- und Glaubhaftmachungslast nicht an. Diese Tests legen allerdings nahe, dass sich bei der angegriffenen Ausführungsform schon im normalen Fahrbetrieb bei Beschleunigungswerten unterhalb solcher, die in Unfallsituationen entstehen, die ISOFIX-Verbindung aus der Verriegelung löst und in die Basis gleitet.

III.

Offen bleiben kann nach den vorstehenden Ausführungen, ob die angegriffene Ausführungsform die weiteren Merkmale des Patentanspruchs verwirklicht. Insbesondere muss nicht entschieden werden, ob auch dem Begriff des Aufprall-Absorptionsmechanismus (Merkmal 4) mit Blick auf den Stand der Technik zu entnehmen ist, dass das Merkmal nicht schon dann verwirklicht ist, wenn im Kollisionsfall Energie lediglich zufällig und geringfügig absorbiert wird, ohne dass dies als solches Einfluss auf den mit der Erfindung bezweckten Schutz des in dem jeweiligen Sitz transportierten Kindes hätte (vgl. die oben zitierte Einspruchsentscheidung vom 26.11.2016 zu Montage- und Einstellvorrichtungen, Anlage AST 5, Begründung Ziffer 6.4, Absatz 1).

IV.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 Satz 1. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 6, 713 ZPO.

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