LAG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 26.09.2019 - 1 Ta 90/19
Fundstelle
openJur 2020, 7358
  • Rkr:

1. Der Gegenstandswert in einem Beschlussverfahren, das auf die Unterlassung einer Betriebsänderung vor Abschluss des Interessenausgleichsverfahrens gerichtet ist, richtet sich nach der Anzahl der von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer.

2. Entgegen Ziff. II. 1.2 des Streitwertkatalogs der Arbeitsgerichtsbarkeit ist der Ausgangswert des § 23 Abs. 3 RVG aber nicht für jeden betroffenen Arbeitnehmer um die in Ziff. II. 14.7 des Streitwertkatalogs genannten Beträge zu erhöhen (jeweils 25 % für den 2. - 20. betroffenen AN; 12,5 % für den 21. - 50 betroffenen AN, jeweils 10 % für jeden weiteren betroffenen AN).

3. Auszugehen ist vielmehr grundsätzlich vom doppelten Regelwert des § 23 Abs. 3 RVG, bei zusätzlichen wirtschaftlichen Belastungen durch die Verzögerung der Betriebsänderung vom dreifachen Regelwert.

4. Dieser Wert ist für jede der Stufen in § 17 Abs. 1 KSchG - bei ausschließlichem Personalabbau § 112 a BetrVG - anzusetzen (mit LAG Hamburg vom 28.12.2017 - 4 Ta 8/17; LAG Schleswig-Holstein vom 8.10.2012 - 3 Ta 164/12; LAG Niedersachsen vom17.1.2011 - 17 Ta 21/11; gegen LAG Hamburg vom 30.1.2018 - 1 Ta 4/18).

Tenor

Die Beschwerde der Beteiligten zu 2. gegen den Wertfestsetzungsbeschluss des Arbeitsgerichts Flensburg vom 14.03.2019 - 1 BVGa 23/18 - wird auf ihre Kosten zurückgewiesen.

Gründe

A.

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Gegenstandswerts zur Berechnung der Rechtsanwaltsgebühren in einem Beschlussverfahren in der Form eines einstweiligen Verfügungsverfahrens.

Im Ausgangsverfahren haben die Beteiligten zu 1., 3. - 5. über den Erlass einer einstweiligen Verfügung gestritten, mit der den Beteiligten zu 4. und 5. der Abschluss einer Führungsvereinbarung zur Bildung eines Gemeinschaftsbetriebs untersagt werden sollte, bevor die Verhandlungen zum Abschluss eines Interessenausgleichs wegen des beabsichtigten Zusammenschlusses dieser Beteiligten abgeschlossen waren oder der Versuch einer Einigung in der Einigungsstelle gescheitert war.

Die Beteiligte zu 4. betreibt eine Fachklinik mit 665 Mitarbeitern, die Beteiligte zu 5. eine Klinik mit 822 Mitarbeitern. Das Arbeitsgericht hat die Anträge der Beteiligten zu 1. und 3. abgewiesen, die sich im Verfahren durch den Beteiligten zu 2. haben vertreten lassen. Auf Antrag des im Hauptverfahren ebenfalls beteiligten Konzernbetriebsrats hat das Arbeitsgericht die begehrte einstweilige Verfügung erlassen.

Das Arbeitsgericht hat auf Antrag des Beteiligten zu 2. durch Beschluss vom 14.03.2019 den Wert des Gegenstands für die anwaltliche Tätigkeit auf € 40.000,-- festgesetzt. Es hat dabei die vom Landesarbeitsgericht Hamburg in einem Beschluss vom 07.05.2008 - 7 Ta 5/08 - aufgestellten Grundsätze herangezogen. Hieraus ergebe sich ein Wert von 40.000,-- €. Der abweichenden Anregung zur Streitwertsetzung durch die Streitwertkommission ist das Arbeitsgericht ausdrücklich nicht gefolgt.

Gegen den am 10.04.2019 zugestellten Beschluss haben die Beteiligten zu 2. am 18.04.2019 Beschwerde eingelegt.

Sie vertreten die Auffassung, die Anregung des Streitwertkatalogs zur Wertfestsetzung in Fällen der vorliegenden Art sei zutreffend. Danach sei für die Höhe des Werts die Anzahl der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer maßgebend. Die entsprechende Staffelung sehe für den ersten Arbeitnehmer einen Betrag von 5.000,-- €, für den zweiten bis 20. Arbeitnehmer 25 % hiervon, für den 21. bis 50. Arbeitnehmer 12,5 % hiervon und für jeden weiteren betroffenen Arbeitnehmer 10 % des Ausgangswertes vor. Bei 1.487 Arbeitnehmern ergebe sich danach ein Betrag von € 766.000,--, der gemäß § 23 Abs. 3 RVG auf € 500.000,-- gedeckelt sei. Entsprechend habe auch das Landesarbeitsgericht Hamburg in einem Beschluss vom 30.01.2018 - 1 Ta 4/18 entschieden.

Die Festsetzung durch das Arbeitsgericht führt zu Wertungswidersprüchen, weil Verfahren, in denen es um zahlreiche Versetzungen gehe, zu deutlich höheren Werten führen könnten als die Wertfestsetzung bei einem Verfahren auf Unterlassung einer Betriebsänderung. Hilfsweise sei jedenfalls auf die Wertfestsetzung zu Wahlanfechtungsverfahren zurückzugreifen, weil der beabsichtigte Zusammenschluss der Betriebe dazu geführt hätte, dass beide antragstellenden Betriebsräte nicht mehr existiert hätten.

Das Arbeitsgericht hat der Beschwerde nicht abgeholfen und diese dem Landesarbeitsgericht zur Entscheidung vorgelegt.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstands wird auf die Akte verwiesen.

B.

Die zulässige Beschwerde der Beteiligten zu 2. ist nicht begründet.

I. Die Beschwerde ist zulässig. Sie ist gemäß § 33 Abs. 3 S. 1 RVG statthaft. Die Frist des § 33 Abs. 3 S. 3 RVG ist gewahrt. Die notwendige Beschwer der Beteiligten zu 2. liegt vor.

II. Beteiligte im Beschwerdeverfahren sind nur die im Rubrum genannten Beteiligten, nicht der vom Arbeitsgericht zusätzlich beteiligte Prozessbevollmächtigte des Konzernbetriebsrats.

Am Wertfestsetzungsverfahren nach § 33 Abs. 1 RVG ist immer nur der Prozessbevollmächtigte beteiligt, der den Antrag stellt. Eine Festsetzung nach § 33 Abs. 1 RVG muss jeder in dem Verfahren tätige Anwalt gesondert beantragen. Festgesetzt wird nach § 33 Abs. 1 RVG immer nur der Wert der Tätigkeit des Anwalts, der selbst oder dessen Partei die Festsetzung beantragt hat (Schwab/Maatje, Zulässigkeitsprobleme bei Verfahrens- und Wertbeschwerden, in: NZA 2011, 769, 772).

Da der Prozessbevollmächtigte des Konzernbetriebsrats keinen Antrag nach § 33 Abs. 1 RVG gestellt hat, ist er in dem vorliegenden Wertfestsetzungsverfahren auch nicht zu beteiligen. Im Hinblick auf seine bislang erfolgte Beteiligung ist ihm aber die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts zur Kenntnis zuzuleiten.

III. Die Beschwerde ist unbegründet. Das Arbeitsgericht hat das ihm bei der Wertfestsetzung zustehende Ermessen ausreichend gewahrt.

1. Vorliegend handelt es sich um eine betriebsverfassungsrechtliche Streitigkeit, bei der der Wert für nichtvermögensrechtliche Gegenstände gemäß § 23 Abs. 3 RVG zu bestimmen ist. Den Betriebsräten ging es um die Wahrung ihrer Beteiligungsrechte im Rahmen einer von ihnen angenommenen Betriebsänderung im Sinne des § 111 BetrVG.

In Ermangelung genügender tatsächlicher Anhaltspunkte für eine Schätzung und bei nichtvermögensrechtlichen Gegenständen ist der Gegenstandswert mit 5.000,-- €, nach Lage des Falles niedriger oder höher, jedoch nicht über 500.000,-- € anzunehmen. Da der Gesetzgeber es weiterhin unterlassen hat, für das arbeitsgerichtliche Beschlussverfahren spezielle Wertvorschriften zu normieren, ist der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit in einem Beschlussverfahren auf den Hilfs- bzw. Auffangwert von 5.000,-- € nach § 23 Abs. 3 S. 2, zweiter Halbsatz RVG festzusetzen, es sei denn, dieser Betrag erweist sich im Lichte der konkreten wertbestimmenden Faktoren als unangemessen. Maßgeblich sind Umfang und Schwierigkeit der anwaltlichen Tätigkeit. Zu berücksichtigen ist ferner die Bedeutung der jeweiligen betriebsverfassungsrechtlichen Positionen (ständige Rechtsprechung, z.B. LAG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 08.10.2012 - 3 Ta 164/12 - juris).

2. Für die Wertfestsetzung in Verfahren, bei denen es einem Betriebsrat um das Unterlassen der Durchführung einer Betriebsänderung vor Abschluss der Interessenausgleichsverhandlungen geht, werden in der Rechtsprechung unterschiedliche Auffassungen vertreten.

a) Der Streitwertkatalog für die Arbeitsgerichtsbarkeit stellt für die Bemessung des Gegenstandswerts in Verfahren der vorliegenden Art maßgeblich auf die Anzahl der von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer ab. Er schlägt, ausgehend vom Hilfswert von 5.000,-- € eine Erhöhung für den zweiten bis 20. Beschäftigten um je 25 % des Hilfswerts, für den 21.- 50. Beschäftigten um je 12,5 % des Hilfswerts und für alle weiteren Beschäftigen um je 10 % des Hilfswerts vor (II Nr. 1.2 i.V.m. 14.7 des Streitwertkatalogs). Dem ist das Landesarbeitsgericht Hamburg in seiner Entscheidung vom 30.01.2018 (1 T 4/18) gefolgt unter Hinweis darauf, dass kaum eine gerichtliche Entscheidung denkbar sei, die einschneidender in das unternehmerische Handeln eingreife als der Erlass einer einstweiligen Verfügung, die eine Betriebsänderung untersage.

b) Auch nach der Auffassung zahlreicher anderer Landesarbeitsgerichte spielt die Anzahl der von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer eine erhebliche Rolle bei der Wertfestsetzung. Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen (Beschluss vom 17.01.2011 - 17 Ta 21/11 - juris), das Landesarbeitsgericht Schleswig Holstein (a.a.O.) sowie wiederum das Landesarbeitsgericht Hamburg (Beschluss vom 28.12.2017 - 4 Ta 8/17) greifen für die Frage, in welchem Umfang die Zahl der von einer Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer sich auf die Wertfestsetzung auswirkt, auf die Staffel des § 17 Abs. 1 KSchG zurück. Gleichzeitig gehen sie von einer Verdoppelung des Ausgangswerts aus § 23 Abs. 3 RVG aus. Die Verdoppelung des Ausgangswerts sei im Hinblick auf das erhebliche ideelle Interesse des antragstellenden Betriebsrats an der Wahrung seiner ihm vom BetrVG zuerkannten Beteiligungsrechte und der dem Betriebsrat zuzurechnenden Bedeutung für die Arbeitnehmer, die aus dem Verlust des Arbeitsplatzes bzw. einer Versetzung erwachse sowie der erheblichen wirtschaftlichen Bedeutung des Erfolgs oder Nichterfolgs des Antrags, insbesondere für den Arbeitgeber, gerechtfertigt. Führe die verzögerte Durchführung der Betriebsänderung darüber hinaus zu wirtschaftlichen Belastungen des Unternehmens z.B. durch einen späteren Ablauf von Kündigungsfristen, könne dies mit einem weiteren Hilfswert berücksichtigt werden. Um die Anzahl der von der Betriebsänderung betroffenen Arbeitnehmer zu erfassen, könne auf die Staffel des § 17 Abs. 1 KSchG - bei bloßem Personalabbau auf die des § 112 a BetrVG- zurückgegriffen werden. Für jede dieser Stufen sei dann der zuvor ermittelte Wert (doppelter oder dreifacher Hilfswert) anzusetzen (LAG Hamburg vom 28.12.2017, juris Rn. 10).

3. Der letztgenannten Auffassung ist auch das Arbeitsgericht gefolgt. Es hat sich damit bei seiner Entscheidung im Rahmen einer häufig vertretenen und gut vertretbaren Meinung bewegt und mit der Anhebung des Ausgangswerts auf den doppelten Betrag der betriebsverfassungsrechtlichen Bedeutung der Angelegenheit im Einzelfall auch Rechnung getragen (vgl. im Ergebnis hierzu auch: LAG Baden-Württemberg vom 24.06.2013 - 5 Ta 53/13 - juris, Rn. 21). Eine Verdreifachung des Ausgangswerts war vorliegend nicht angezeigt, da nicht erkennbar ist, dass die verzögerte Durchführung der Betriebsänderung infolge der einstweiligen Verfügung zu wirtschaftlichen Belastungen der Arbeitgeberinnen führte. Auch ging es vorliegend nicht um einen reinen Personalabbau, so dass nicht auf die Staffel des § 112 a BetrVG, sondern die des § 17 Abs. 1 KSchG zurückzugreifen war. Ermessensfehler des Arbeitsgerichts sind insoweit nicht zu erkennen.

4. Die Beschwerdekammer hält aber auch in der Sache den Wertvorschlag der Streitwertkommission nicht für angemessen. Der Verweis auf die Regelungen für die Wertfestsetzung bei Massenverfahren in Ziffer 14.7 des Streitwertkatalogs ist nicht sachgerecht. Der Vorschlag berücksichtigt zu wenig, dass bei Massenverfahren, die etwa Versetzungen betreffen, für jeden einzelnen betroffenen Arbeitnehmer ein Zustimmungsersetzungsantrag zu stellen und ein entsprechendes Verfahren durchzuführen ist. Jeder einzelne Antrag ist daher auch im Wertfestsetzungsverfahren mit einem eigenen Wert zu bemessen. Es liegen, je nach Zahl der betroffenen Arbeitnehmer, etwa bei der Betriebsgröße der Beteiligten zu 4. und 5. 1.487 Zustimmungsersetzungsverfahren vor. Der damit verbundene Aufwand rechtfertigt eine Heraufsetzung des Wertes pro betroffenem Arbeitnehmer, wobei der prozentuale Abschlag etwa auf 10 % des Regelwerts ab dem 51. betroffenen Arbeitnehmer dem Umstand geschuldet ist, dass regelmäßig dieselben tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zu prüfen sind.

Diese Situation unterscheidet sich von der eines Unterlassungsantrags im Hinblick auf die Durchführung einer Betriebsänderung deutlich. Dort geht es um eine einzige unternehmerische Maßnahme, deren Bedeutung nur durch die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer erhöht ist. Das rechtfertigt eine Anhebung des Wertes, aber nicht in dem Ausmaß, wie sie der Streitwertkatalog vorsieht. Die von den Beteiligten zu 2. herangezogene Staffelung nach der Betriebsratsgröße ist für die Wertfestsetzung nicht relevant. Ein Bezug zum Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens besteht nur sehr mittelbar. Auch nach Bildung eines gemeinsamen Betriebs ist eine kollektivrechtliche Vertretung der Arbeitnehmer - ggf. nach einer Neuwahl des Betriebsrats - gewährleistet. Sachgerechter erscheint es mit der im Übrigen einhelligen Ansicht auf die Zahl der betroffenen Arbeitnehmer abzustellen.

5. Ausgehend von den vom Arbeitsgericht dargestellten Grundsätzen hätte das Arbeitsgericht den Gegenstandwert allerdings nur auf 30.000,-- € festsetzen dürfen. Nach den Ausgangsgrundsätzen, die das Arbeitsgericht zutreffend referiert hat, ist für jede der Stufen des § 17 Abs. 1 KSchG der doppelte Hilfswert anzusetzen, bei einer Betriebsänderung, die über 500 Mitarbeiter betrifft, also die dritte Stufe, was eine Verdreifachung des doppelten Ausgangswerts rechtfertigt. Entgegen der Festsetzung des Arbeitsgerichts wird dieser dreifache Wert nicht dem Ausgangswert hinzuaddiert.

Eine Herabsetzung des vom Arbeitsgericht festgesetzten Gegenstandswerts kommt jedoch nicht in Betracht. Im Gebührenfestsetzungsverfahren nach § 33 RVG ist eine Verböserung (reformatio in peius) der angefochtenen Entscheidung nicht möglich. Dies deswegen, weil eine § 63 Abs. 3 GKG entsprechende Vorschrift, die die reformatio in peius ermöglicht, im RVG fehlt (so auch OVG Hamburg, Beschluss vom 08.03.2013 - 3 SO 126/12).

6. Die Beteiligten zu 2. tragen die Kosten der erfolglosen Beschwerde. Gegen diese Entscheidung gibt es gemäß § 33 Abs. 4 S. 3 RVG kein Rechtsmittel.

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