LSG Hamburg, Urteil vom 30.07.2019 - L 3 R 64/18
Fundstelle
openJur 2020, 6643
  • Rkr:
Tenor

1. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat dem Kläger auch seine außergerichtlichen Kosten im Berufungsverfahren zu erstatten.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die teilweise Rücknahme einer gewährten Altersrente für die Zeit vom 1. September 2005 bis 28. Februar 2015 sowie die sich daraus ergebende Erstattungsforderung in Höhe von 21.684,85 EUR.

Der am ... August 1941 geborene Kläger wurde durch Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 9. November 1984 von seiner Ehefrau geschieden. In dem Scheidungsurteil wurde ein Versorgungsausgleich festgelegt, wonach von dem Versicherungskonto des Klägers bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte – BfA) Versorgungsanwartschaften in Höhe von monatlich 123,60 DM, bezogen auf den 31. März 1984, auf das ebenfalls bei der Rechtsvorgängerin der Beklagten geführte Versorgungskonto seiner Ehefrau übertragen wurden.

Die Beklagte registrierte den durchgeführten Versorgungsausgleich offenbar versehentlich zu Gunsten statt zu Lasten des Klägers. Mit Schreiben vom 30. Januar 1985 informierte sie den Kläger, dass die Übertragung von Rentenanwartschaften als durchgeführt gelte. Die übertragene Rentenanwartschaft sei auf monatlich 123,60 DM festgestellt worden. Der Erhöhungsbetrag für die Jahresrente richte sich nach den Werteinheiten, die sich bezogen auf das Ende der Ehezeit ergeben hätten. Vorliegend seien 388,60 Werteinheiten ermittelt worden. Die Jahresrente sei um den Betrag zu erhöhen, der sich ergebe, wenn die Werteinheiten von 388,60 mit der für den Versicherungsfall geltenden Bemessungsgrundlage von 26.310 DM und dem Wert von 0,00015 vervielfältigt würden. Das seien jährlich 1.533,61 DM. Ein insoweit gleichlautendes Schreiben erhielt die geschiedene Ehefrau des Klägers unter dem 31. Januar 1985.

Der Kläger beantragte am 2. Mai 2005 die Gewährung einer Altersrente. Im Antragsformular gab er an, dass ein Versorgungsausgleich durchgeführt worden sei. Mit Bescheid vom 22. Juni 2005 bewilligte ihm die Beklagte ab dem 1. September 2005 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen mit einem monatlichen Zahlbetrag von zunächst 1.643,89 EUR. In der Anlage 5 zum Bescheid heißt es unter der Überschrift „Auswirkungen des Versorgungsausgleichs“: „Der zugunsten oder zu Lasten des Versicherungskontos durchgeführte Versorgungsausgleich ergibt einen Zuschlag oder Abschlag an Entgeltpunkten. Hierfür werden die für Rentenanwartschaften ermittelten Werteinheiten in Entgeltpunkte umgerechnet.“ Weiter heißt es: „Für die Ehezeit vom 01.07.1974 bis 31.03.1984 sind Rentenanwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung übertragen worden. Die übertragene Rentenanwartschaft ist festgestellt auf monatlich 123,60 DM. Daraus ergeben sich = 3,8860 Punkte.“ Es folgen sodann Ausführungen zu der Anzahl der Monate, die für die Erfüllung der Wartezeiten aufgrund des Versorgungsausgleichs anzurechnen sind. In der Anlage 6 sind unter der Überschrift „Persönliche Entgeltpunkte“ die Summe der Entgeltpunkte aus den Entgeltpunkten für Beitragszeiten, beitragsfreie Zeiten und beitragsgeminderte Zeiten aufgeführt. Sodann heißt es: „Zuschlag aus einem durchgeführten Versorgungsausgleich für die Ehezeit vom 01.07.1975 bis 31.03.1984 + 3,8860 Punkte“.

Mit Schreiben vom 20. Januar 2015 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass die bei ihr gespeicherten Daten über den gesetzlichen Versorgungsausgleich berichtigt worden seien. Die aufgrund des Urteils des Amtsgerichts Hamburg vom 9. November 1984 zu Lasten des Klägers auf den früheren Ehegatten übertragenen Rentenanwartschaften führten zu einem Abschlag an Entgeltpunkten. Sofern dies zu einer Rentenkürzung führe, erhalte der Kläger einen gesonderten Bescheid.

Mit Bescheid vom 27. Januar 2015 setzte die Beklagte die Rente ab 1. März 2015 neu fest und berücksichtigte dabei den durchgeführten Versorgungsausgleich zu Lasten des Klägers, woraus sich ein Abschlag von 3,8860 Entgeltpunkten ergab. In der Anlage 10 zu diesem Bescheid hörte sie den Kläger außerdem zu der beabsichtigten teilweisen Rücknahme des Rentenbescheides vom 22. Juni 2005 ab 1. September 2005 und einer Rückforderung der Überzahlung von 21.684,85 EUR an.

Sodann nahm die Beklagte mit Bescheid vom 27. Februar 2015 den Rentenbescheid vom 22. Juni 2005 hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung ab 1. September 2005 teilweise zurück und forderte die Erstattung der in der Zeit vom 1. September 2005 bis 28. Februar 2015 eingetretenen Überzahlung von 21.684,85 EUR. Sie führte dazu aus, der Kläger könne sich nicht auf Vertrauensschutz berufen, die für eine Rücknahme geltenden Fristen seien nicht abgelaufen und auch die vorzunehmende Ermessensprüfung führe zu keinem anderen Ergebnis. Sämtliche bekannten Umstände seien dabei berücksichtigt worden.

Der Kläger erhob gegen die Bescheide vom 27. Januar 2015 und 27. Februar 2015 am 11. März 2015 Widerspruch und machte geltend, für ihn seien Fehler oder fehlerhafte Eintragungen bei der 1985 erfolgten Übertragung von Rentenanwartschaften nicht erkennbar gewesen. Die Beklagte selbst habe die Daten erst nach über 30 Jahren erkannt und berichtigt. Er habe das Geld im Vertrauen auf die Richtigkeit der Bescheide verbraucht.

Die Beklagte wies den Widerspruch gegen den Bescheid vom 27. Januar 2015 (teilweise Rücknahme für die Zukunft) mit Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 2015 wegen nicht fristgerechter Einlegung als unzulässig zurück.

Mit weiterem Widerspruchsbescheid vom 23. Juni 2015 wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 27. Februar 2015 (teilweise Rücknahme für die Vergangenheit) als unbegründet zurück und führte aus, der Rentenbescheid vom 22. Juni 2005 sei rechtswidrig gewesen, soweit bei der Rentenberechnung ein Zuschlag aus dem durchgeführten Versorgungsausgleich berücksichtigt worden sei, obwohl eine Belastung des Rentenkontos des Klägers zugunsten seiner früheren Ehefrau hätte erfolgen müssen. Der Kläger hätte diese Rechtswidrigkeit erkennen müssen, denn ihm sei das Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 9. November 1984 bekannt gewesen und er habe gewusst, dass ein Abschlag und kein Zuschlag bei ihm zu berücksichtigen sei. Der Einwand, dass die Beklagte ein Mitverschulden treffe, könne nicht berücksichtigt werden, denn die grob fahrlässige Unkenntnis der Rechtswidrigkeit entfalle nicht dadurch, dass die wesentliche Ursache der Unrichtigkeit bei der Behörde liege. Bei der Ermessensausübung seien alle bekannten Gründe für und gegen eine Rücknahme gegenüber zu stellen. Gegen eine Rücknahme spreche das Mitverschulden der Beklagten an der Überzahlung. Für eine Rücknahme spreche, dass der Kläger gewusst habe, dass ein Versorgungsausgleich durchgeführt worden sei und dass er den Rentenversicherungsträger nicht darauf hingewiesen habe, dass insoweit ein Malus zu berücksichtigen sei. Es bestehe außerdem ein öffentliches Interesse an der Erstattung der Überzahlung. Die Abwägung der Gründe führe zu dem Ergebnis, dass diejenigen für eine Bescheidrücknahme überwiegen würden.

Mit seiner am 16. Juli 2015 gegen den Bescheid vom 27. Februar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Juni 2015 erhobenen Klage hat der Kläger vorgetragen, die Voraussetzungen für eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit lägen nicht vor. Er habe die erbrachten Leistungen verbraucht und auch nicht grob fahrlässig gehandelt. Die fehlerhafte Berechnung habe er nicht erkennen müssen, sondern er habe auf die Richtigkeit des Bescheides vertrauen dürfen. Er habe den Rentenbescheid hauptsächlich daraufhin kontrolliert, ob alle Zeiten berücksichtigt waren. Er habe auch gesehen, dass der Versorgungsausgleich durchgeführt worden sei, da sei das für ihn klar gewesen. Er habe dem Bescheid mehr oder weniger blind vertraut. Er habe im Vorfeld auch eine Beratungsstelle aufgesucht und der Berater habe einen höheren Rentenbetrag errechnet. Er habe daher gedacht, dass der niedrigere Rentenbetrag mit dem Versorgungsausgleich zusammenhänge. Er habe studiert, aber ohne Abschluss, und habe am Flughafen in der Verkehrsleitung gearbeitet. Es sei ihm nicht vorzuwerfen, dass er das „+“ im Rentenbescheid nicht entdeckt habe, zumal die dem Rentenbescheid eigene Aufschlüsselung nach Punkten für einen Laien schwer zu durchschauen sei. Die Beklagte selbst habe den Fehler bezeichnenderweise erst nach neuneinhalb Jahren aufgedeckt.

Das Sozialgericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 25. Mai 2018 persönlich angehört und mit Urteil vom selben Tag die streitgegenständlichen Bescheide aufgehoben. Es hat ausgeführt, die Beklagte habe den Rentenbescheid nicht mit Wirkung für die Vergangenheit aufheben dürfen, denn der Kläger habe allenfalls leicht fahrlässig gehandelt. Der Fehler sei in dem Rentenbescheid nur versteckt gewesen und habe dem Kläger keineswegs ins Auge springen müssen. Lediglich in der Zusammenschau mit der Anlage 6 hätte man bei genauer Prüfung des Bescheides erkennen können, dass die sich aus dem Versorgungsausgleich ergebenden Entgeltpunkte hinzugerechnet und nicht abgezogen worden seien. Allerdings setze diese Prüfung des Bescheides schon rudimentäre Kenntnisse über das System der Entgeltpunkte voraus. Des Weiteren hätten sich hier noch umfangreiche und für den Laien komplizierte Ausführungen zu den Monaten für Wartezeiten befunden. Darüber hinaus sei der Kläger aufgrund des Schreibens vom 30. Januar 1985 davon ausgegangen, dass die Übertragung der Rentenanwartschaften durchgeführt worden sei. Auch habe er in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar dargelegt, dass die Rente niedriger ausgefallen sei, als der Rentenberater berechnet habe, sodass er dies für die Auswirkung des Versorgungsausgleichs gehalten habe.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 4. Juni 2018 zugestellte Urteil am 3. Juli 2018 Berufung eingelegt. Sie trägt vor, den Adressaten eines Bescheides treffe die Obliegenheit, diesen zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Die Ausführungen des Klägers in der mündlichen Verhandlung ließen daran zweifeln, ob er dieser Obliegenheit in vollem Umfang nachgekommen sei. Hätte er ihn vollständig gelesen, wäre es für ihn jedenfalls ein Leichtes gewesen, dessen Rechtswidrigkeit zu erkennen. Es sei keineswegs darum gegangen, komplizierte Berechnungen nachzuvollziehen. Vielmehr ergebe sich aus den Anlagen 5 und 6 zum Bescheid eindeutig, dass aufgrund des Versorgungsausgleichs ein Zuschlag erfolgt sei. Der Kläger habe aber gewusst, dass er nicht der Begünstigte, sondern der Belastete des Versorgungsausgleichs gewesen sei. Die Beklagte bezieht sich für ihre Rechtsauffassung auf zahlreiche Urteile verschiedener Landessozialgerichte (LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.09.2003 und 01.02.2010 – L 10 RA 1376/02 und L 4 R 3304/08; LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 30.11.2009 – L 8 R 206/08; LSG Hessen, Urteile vom 29.07.2004, 29.01.2016 und 15.03.2016 – L 8 R 206/08, L 5 R 68/15 und L 5 R 397/13; LSG Thüringen, Beschluss vom 22.06.2011 L 12680/09).

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 25. Mai 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er macht weiterhin geltend, dass bei ihm keine grobe Fahrlässigkeit vorgelegen habe. Zwar sei ein Bescheidempfänger gehalten, den Bescheid zu lesen und zur Kenntnis zu nehmen. Er sei jedoch nicht gehalten, diesen des Näheren auf seine Richtigkeit zu prüfen, sondern dürfe davon ausgehen, dass eine Fachbehörde seine wahrheitsgemäßen Angaben zutreffend umsetze. Der Rentenbescheid habe 23 Seiten enthalten, die größtenteils für den Laien nicht nachvollziehbar und kontrollierbar seien. Er sei vor dem Rentenbeginn bei der Beratungsstelle der BfA gewesen und der Berater habe einen um etwa 150 EUR höheren Rentenbetrag errechnet, als er nachher erhalten habe. Als der Bescheid dann gekommen sei, habe er ihn sehr genau durchgesehen. Er habe zunächst kontrolliert, ob alle Zeiten erfasst waren. Spätestens bei den Entgeltpunkten habe er nicht mehr alles verstanden. Er sei aber davon ausgegangen, dass der Bescheid von Fachleuten erstellt worden und daher richtig sei. Da der Versorgungsausgleich für ihn sehr wichtig gewesen sei, habe er die Anlage 5 sehr aufmerksam gelesen. Die aufgeführte Ehezeit und der Betrag der übertragenen Rentenanwartschaften hätten gestimmt. Damit sei das für ihn richtig durchgeführt worden. Die Anlage 6 habe sich wieder mit Entgeltpunkten beschäftigt und er müsse wohl übersehen haben, dass bei dem Versorgungsausgleich ein Plus vor den Punkten gestanden habe. Außerdem sei in der Anlage 5 plötzlich wieder von Wartezeiten die Rede gewesen, was ihn wahrscheinlich abgelenkt habe. Schließlich habe die Beklagte von ihrem Entschließungsermessen keinen Gebrauch gemacht, denn der fehlerhafte Rentenbescheid basiere allein auf dem Fehler der Beklagten und nicht auf einem Fehler des Klägers. Darüber hinaus umfasse das Ermessen auch die Frage, ob der Bescheid überhaupt und gegebenenfalls in welcher Höhe aufgehoben werde.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte und auch sonst zulässige Berufung (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz – SGG) ist nicht begründet. Das Sozialgericht hat die die streitgegenständlichen Bescheide im Ergebnis zu Recht aufgehoben, denn diese sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten. Die Beklagte war nicht berechtigt, den Rentenbescheid vom 22. Juni 2005 teilweise mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.

Gemäß § 45 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) darf ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Absätze 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Gemäß § 45 Abs. 2 S. 1 und 2 SGB X darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsakts vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Das Vertrauen ist in der Regel schutzwürdig, wenn der Begünstigte erbrachte Leistungen verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann. Gemäß § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 SGB X kann sich der Begünstigte auf Vertrauensschutz nicht berufen, soweit er die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte; grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Nur in den Fällen des § 45 Abs. 2 S. 3 SGB X wird der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen.

Vorliegend sind zwar die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine teilweise Rücknahme erfüllt, die Beklagte hat jedoch das ihr obliegende Ermessen nicht hinreichend ausgeübt.

Der Rentenbescheid vom 22. Juni 2005 ist rechtswidrig, soweit aufgrund des durchgeführten Versorgungsausgleichs ein Zuschlag von 3,8860 Entgeltpunkten erfolgt ist, obwohl richtigerweise ein Abschlag in dieser Höhe vorzunehmen gewesen wäre.

Der Kläger konnte sich insoweit auch nicht auf Vertrauensschutz berufen. Zwar gibt es keine Anhaltspunkte für das Vorliegen von positiver Kenntnis von der teilweisen Rechtswidrigkeit des Bescheides, es ist insoweit jedoch von grob fahrlässiger Unkenntnis auszugehen.

Ausgehend von einem subjektiven Sorgfaltsmaßstab, der sich an der persönlichen Einsichtsfähigkeit orientiert, ist von einem besonders schweren Sorgfaltspflichtverstoß auszugehen, wenn einfachste, ganz nahe liegende Überlegungen nicht angestellt worden sind und nicht beachtet wurde, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Dieser Vorwurf muss sich auf die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts beziehen. Der Adressat des Verwaltungsakts ist gehalten, einen Bewilligungsbescheid zu lesen und auch zur Kenntnis zu nehmen. Es besteht im Allgemeinen aber kein Anlass, einen Verwaltungsakt näher auf seine Richtigkeit zu überprüfen, wenn im Verwaltungsverfahren zutreffende Angaben gemacht worden sind. Deshalb besteht keine Rechtspflicht, den Verwaltungsakt umfassend auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Lässt sich der Fehler nach seiner individuellen Einsichts- und Urteilsfähigkeit weder aus dem Verfügungssatz noch aus der Bescheidbegründung ohne weitere Nachforschungen und mit ganz naheliegenden Überlegungen erkennen, kann einem Leistungsempfänger nur dann grobe Fahrlässigkeit vorgeworfen werden, wenn ihm der Fehler nach seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten aus anderen Gründen geradezu „in die Augen springt“ (BSG, Urteil vom 08.02.2001 – B 11 AL 21/00 R – Juris; Schütze in von Wulffen, SGB X, 8. Auflage, § 45 Rn. 56 ff.). Das ist der Fall, wenn er aufgrund einfachster und ganz naheliegender Überlegungen die Rechtswidrigkeit hätte erkennen können (BSG, Urteil vom 26.08.1987 – 11a RA 30/86 – Juris) oder er das nicht beachtet hat, was im gegebenen Falle jedem hätte einleuchten müssen. Bei komplizierten Berechnungen mit maschineller Verschlüsselung wird hingegen von einer groben Fahrlässigkeit nur ausgegangen werden können, wenn diese durch einen erklärenden Langtext hinreichend verständlich ist (vgl. Schütze, a.a.O., Rdnr. 57).

Vorliegend war aus dem Verfügungssatz des Bewilligungsbescheides die Fehlerhaftigkeit der Berechnung nicht zu erkennen, denn dieser beinhaltete lediglich die Zahlung einer monatlichen Rente ab 1. September 2005 in Höhe von seinerzeit 1.643,89 EUR. Die bewilligte Rente war nicht so hoch, dass der Kläger allein deshalb von einer fehlerhaften Berechnung hätte ausgehen müssen, zumal ihm nach seinen glaubhaften Angaben von einem Berater der BfA sogar ein um 150 EUR höherer Rentenbetrag in Aussicht gestellt worden war.

Der Senat geht jedoch davon aus, dass der Kläger nach seinen subjektiven Erkenntnismöglichkeiten in der Lage gewesen wäre, die Fehlerhaftigkeit der Berechnung aus der Bescheidbegründung – hier den Anlagen 5 und 6 – zu erkennen. Zwar enthält die Anlage 5 lediglich die allgemeine Information, dass der zugunsten oder zu Lasten des Versicherungskontos durchgeführte Versorgungsausgleich einen „Zuschlag oder Abschlag an Entgeltpunkten“ ergibt und dass vorliegend Rentenanwartschaften in der gesetzlichen Rentenversicherung übertragen wurden, und zwar in Höhe von monatlich 123,60 DM entsprechend 3,8860 Punkten. Ob insoweit ein Zuschlag oder Abschlag erfolgt ist, ist hieraus noch nicht erkennbar. Dies ergibt sich aber aus der nachfolgenden Anlage 6, in der ausdrücklich von einem „Zuschlag“ aus einem durchgeführten Versorgungsausgleich für die Ehezeit vom 01.07.1975 bis 31.03.1984 von „+“ 3,8860 Punkten die Rede ist. Die Begriffe „Zuschlag“ sowie das Plus vor den Entgeltpunkten machen hier grundsätzlich deutlich, dass der Versorgungsausgleich zu Gunsten des Klägers durchgeführt wurde und nicht zu seinen Lasten.

Allerdings ist dem Kläger zuzugestehen, dass der Rentenbescheid recht unübersichtlich gestaltet ist. Er beinhaltet die Anlagen 1 bis 6 und 19 und umfasst damit insgesamt 22 Seiten. Viele der aufgelisteten Berechnungselemente dürften für den Laien tatsächlich schwer verständlich oder nachvollziehbar sein.

Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angegeben, sich den Bescheid sehr genau durchgelesen zu haben. Er hat dabei darauf hingewiesen, dass gerade der Versorgungsausgleich für ihn wichtig war und er die Anlage 5 daher aufmerksam gelesen habe. Er hat des Weiteren bestätigt, auch die Anlage 6 gelesen, dabei aber wohl das Plus vor den Entgeltpunkten übersehen zu haben. Nach dem persönlichen Eindruck, den der Senat von dem Kläger gewonnen hat, ist dieser aber durchaus in der Lage, auch längeren, nicht ganz einfachen Ausführungen aufmerksam zu folgen und diese zu verstehen. Es wäre ihm bei Anwendung der subjektiv möglichen und erforderlichen Sorgfalt daher möglich gewesen, das Plus vor den Entgeltpunkten sowie den Begriff des Zuschlags zu bemerken und richtig zu verstehen.

Die Beklagte hat jedoch das ihr im Rahmen der Rücknahmeentscheidung obliegende Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt. Zwar enthält der angegriffene Widerspruchsbescheid einige Ermessenserwägungen, sodass ein vollständiger Ermessensausfall nicht besteht. Die Beklagte hat insbesondere ihr eigenes Mitverschulden an der Überzahlung als gegen die Rücknahme sprechenden Umstand erwähnt, aber die für die Rücknahme sprechenden Umstände (Verschulden des Klägers, öffentliches Interesse an der Erstattung der Überzahlung) als gewichtiger beurteilt. Die Beklagte hat bei ihren Ermessenserwägungen jedoch nicht berücksichtigt, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang die Erstattungsforderung aufgrund ihres Mitverschuldens und insbesondere im Hinblick auf die sehr lange Dauer der Überzahlung zu reduzieren sein könnte. Insoweit besteht ein Abwägungsdefizit.

Dieser Beurteilung stehen die Urteile des Bundessozialgerichts vom 30. Oktober 2013 (B 12 R 14/11 R – Juris) und vom 21. März 1990 (B 7 AL 6/00 R – Juris) nicht entgegen. Mit ihnen hat das Bundessozialgericht lediglich festgestellt, dass es grundsätzlich kein Ermessens- oder Abwägungsdefizit darstellt, wenn die Behörde einen eigenen leichten oder „normalen“ Fehler in die Interessenabwägung nicht mit einstellt, der Betroffene aber die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakt kannte oder infolge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Dies ist nachvollziehbar, da derartige Fehler der Verwaltung eher den Regelfall der Anwendung des § 45 SGB X darstellen dürften und nach der Vorstellung des Gesetzgebers ein solchermaßen von der Behörde verursachter rechtswidriger Zustand grundsätzlich auch wieder beseitigt werden kann (BSG, Urteil vom 30.10.2013, a.a.O.).

Im vorliegenden Fall ist jedoch zu der erstmaligen fehlerhaften Registrierung des Versorgungsausgleichs der Umstand hinzu getreten, dass sich die hieraus resultierende Rentenüberzahlung über einen Zeitraum von fast zehn Jahren fortgesetzt hat. Erst diese Zeitdauer hat zu der erheblichen Höhe des nunmehr geltend gemachten Erstattungsanspruchs geführt. Das Ermessen bezieht sich aber grundsätzlich auch auf den Umfang der mit der Aufhebung verbundenen Rückforderung (Padé in JurisPK-SGB X, 2. Aufl. 2017, § 45 Rn. 129). Zugleich ist das auf Seiten des Klägers vorliegende Verschulden mit zunehmendem Zeitablauf als immer geringfügiger einzustufen (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15.03.2017, a.a.O., Rn. 36). Hätte die Beklagte den Umstand der langen Zeitdauer in ihre Ermessensausübung einbezogen, hätte es sich ihr daher aufdrängen müssen, dass es womöglich angemessen gewesen wäre, wenn auch nicht auf den vollständigen, so aber doch auf einen Teil des überzahlten Betrages zu verzichten. Hierzu bestand umso mehr Anlass, als den von ihr übersandten Entscheidungen anderer Landessozialgerichte ganz überwiegend (anders nur: LSG Hessen, Urteil vom 15.03.2016, a.a.O.) Fälle zugrunde lagen, in denen der Rentenversicherungsträger die Forderung wegen seines Mitverschuldens an der Überzahlung bereits im Verwaltungsverfahren reduziert hatte. Ein derartiges Vorgehen entspricht also offenbar der Verwaltungspraxis der Beklagten, wofür auch ein Vermerk in der Verwaltungsakte (Blatt 47 Rückseite) spricht, wonach bei der Prüfung einer eventuellen Rückforderung im Rahmen der Ermessensentscheidung das „Verschulden RV-Träger“ zu berücksichtigen sei.

Aufgrund dieses Ermessensfehlers waren die angefochtenen Bescheide aufzuheben und ein Erstattungsanspruch gemäß § 50 Abs. 1 S. 1 SGB X ist nicht gegeben. Eine erneute Rücknahme dürfte aufgrund des Ablaufs der in § 45 Abs. 3 und 4 SGB X genannten Fristen nicht in Betracht kommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil die Voraussetzungen von § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.