VG Düsseldorf, Urteil vom 27.05.2020 - 22 K 5035/18.A
Fundstelle
openJur 2020, 6229
  • Rkr:

Verpflichtungsantrag auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG kann neben der Anfechtung einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 AsylG nur hilfsweise beantragt werden.

Tenor

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Mai 2018 wird mit Ausnahme der Feststellung in Ziffer 3 Satz 4, dass die Klägerin nicht nach Nigeria abgeschoben werden darf, aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beteiligten tragen die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, je zur Hälfte.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die ihren Angaben zufolge am 00.00.1994 in N. (Nigeria) geborene Klägerin ist nigerianische Staatsangehörige.

Ihren Angaben zufolge reiste die Klägerin am 6. März 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie meldete sich am 7. März 2018 als Asylsuchende und stellte am 6. April 2018 einen förmlichen Asylantrag. Ausweislich des vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) eingeholten Eurodac-Ergebnisses hatte die Klägerin in Italien am 1. Juli 2015 einen Asylantrag gestellt. Bei ihrer Anhörung durch das Bundesamt am 19. April 2018 gab sie an, sie habe sich 3 Jahre und 9 Monate in Italien aufgehalten und ihr sei dort letztlich Schutz zuerkannt worden. Am 20. April 2018 richtete das Bundesamt ein Übernahmeersuchen an Italien. Das italienische Innenministerium lehnte das Ersuchen mit Schreiben vom 26. April 2018 mit Hinweis darauf ab, dass der Klägerin in Italien am 29. November 2016 subsidiärer Schutz gewährt worden sei.

Mit Bescheid vom 18. Mai 2018 lehnte das Bundesamt den Asylantrag der Klägerin nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Ziffer 2), drohte die Abschiebung der Klägerin nach Italien unter Setzung einer Ausreisefrist von 30 Tagen nach Bekanntgabe bzw. im Falle einer Klageerhebung nach unanfechtbarem Abschluss des Asylverfahrens an, stellte fest, dass sie nicht nach Nigeria abgeschoben werden dürfe (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Auf die Gründe des Bescheides wird verwiesen. Der Bescheid wurde der Klägerin am 28. Mai 2018 zugestellt.

Die Klägerin hat am 7. Juni 2018 Klage erhoben.

Am 00.00. 2019 ist das Kind der Klägerin, P. U. F. , geboren worden, welches sich derzeit im laufenden Asylverfahren (Gz. 0000000-998) befindet.

Zur Begründung der Klage macht die Klägerin im Wesentlichen geltend, einer Abschiebung nach Italien stünden die dortigen systemischen Mängel der Aufnahmebedingungen entgegen. Sie sei als Mutter eines Kleinkindes besonders vulnerabel. Ihr drohe in Italien mangels entsprechender Obdachgarantien akute Obdachlosigkeit und Verelendung. Die Befriedigung elementarer Bedürfnisse (Wohnraum, Nahrungsmittel, Zugang zu sanitären Einrichtungen) sei in Italien nicht gewährleistet. Dies lasse auf eine menschenrechtswidrige Behandlung der Klägerin im Falle einer Rückführung nach Italien schließen.

Die Klägerin beantragt schriftsätzlich wörtlich,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 18. Mai 2018 zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG auch hinsichtlich Italiens vorliegen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angegriffenen Bescheid.

Mit Beschluss der Kammer vom 29. April 2020 ist der Rechtsstreit der Vorsitzenden als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen worden.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt (die Beklagte mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 - Az. 000-0000/0.00 -, die Klägerin mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 30. April 2020).

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten (Asylakten der Klägerin und ihres Kindes) Bezug genommen.

Gründe

Der Klageantrag ist gemäß § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass die Klage

- auf Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheides mit Ausnahme der Feststellung in Ziffer 3 Satz 4 des Bescheides, dass die Klägerin nicht nach Nigeria abgeschoben werden dürfe, gerichtet ist und

- darüber hinaus die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG in Bezug auf Italien erstrebt wird.

Der Klageantrag lässt nicht hinreichend sicher erkennen, ob der streitgegenständliche Bescheid nur insoweit angefochten wird, wie er der mit dem Verpflichtungsbegehren verfolgten Feststellung eines Abschiebungsverbots entgegensteht, sich also nicht gegen die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des Bescheides richtet, oder ob alle die Klägerin belastenden Regelungen des Bescheides angefochten werden. Die gebotene rechtsschutzintensive Auslegung führt zu dem oben genannten Verständnis des Klageantrages. Denn von der mit dem wörtlichen Klageantrag beantragten Aufhebung des Bescheides ist Ziffer 1 des Bescheides nicht ausgenommen. Zugleich ist aber davon auszugehen, dass die Feststellung in Ziffer 3 Satz 4 des Bescheides, dass die Klägerin nicht nach Nigeria abgeschoben werden dürfe, nicht vom Anfechtungsantrag umfasst ist, da diese Regelung die Klägerin nicht belastet.

Die Klage hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen hat sie keinen Erfolg.

1. Die gemäß § 74 Abs. 1, 1. Hs. AsylG fristgerecht erhobene Klage ist mit dem Anfechtungsbegehren zulässig. Mit dem darüber hinausgehenden Verpflichtungsbegehren ist die Klage lediglich insoweit zulässig, als dieses hilfsweise für den Fall verfolgt wird, dass die Anfechtungsklage gegen die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides keinen Erfolg hat. Soweit der Verpflichtungsantrag als Hauptantrag - also nicht lediglich als Hilfsantrag im zuvor genannten Sinne - gestellt wird, ist die Klage hingegen unzulässig.

Dies ergibt sich aus Folgendem: Die gegen den Bescheid insgesamt gerichtete Klage ist als Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 1. Var. VwGO statthaft,

Vgl. im Einzelnen: BVerwG, Urteile vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 -, Rdn. 13 ff., juris, und vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, Rdn. 16 f. (in Bezug auf eine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG), juris; OVG NRW, Urteile vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, Rdn. 28 ff., und vom 16. September 2015 - 13 A 800/15.A -, Rdn. 22 ff. m.w.N., juris.

Die isolierte Aufhebung der angefochtenen Regelungen führt auf die weitere Prüfung des Asylantrages der Klägerin durch die Beklagte und damit zu dem erstrebten Rechtsschutzziel. Denn mit der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids wird das Verwaltungsverfahren in den Verfahrensstand zurückversetzt, in dem es vor Erlass der streitgegenständlichen Regelungen war. Das Bundesamt ist im Falle einer Aufhebung des Bescheides gemäß §§ 24, 31 AsylG gesetzlich verpflichtet, das Asylverfahren weiterzuführen.

Damit ist zugleich die Klage mit dem auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG gerichteten Verpflichtungsantrag unzulässig, soweit dieser als weiterer Hauptantrag zusätzlich zum Anfechtungsantrag verfolgt wird. Denn dieser Streitgegenstand kann nur hilfsweise für den Fall, dass die Klage in Bezug auf Ziffer 1 keinen Erfolg hat, mit der Verpflichtungsklage zur verwaltungsgerichtlichen Prüfung gestellt werden, § 31 Abs. 3 AsylG.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4/16 -, Rn. 20 a.E., BVerwGE 157, 18-34 und juris.

Nach dem Wortlaut und der Systematik des § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG muss das Bundesamt in den Fällen des § 31 Abs. 2 AsylG, die im Wesentlichen einen Asylantrag im Sinne von § 13 Abs. 2 AsylG betreffen, sowie in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge feststellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen. Nach den eindeutigen Vorgaben dieses Prüfprogramms setzt die Entscheidung über das Vorliegen nationaler Abschiebungsverbote mithin voraus, dass das Bundesamt zuvor den weiter gehenden Asylantrag des Schutzsuchenden - Asylberechtigung oder internationaler Schutz - beschieden hat,

OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. November 2019 - OVG 3 B 13.19 -, Rn. 17, juris.

Würde die Beklagte zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes verpflichtet, obwohl es (mit gerichtlicher Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides) an der von § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG zunächst vorausgesetzten behördlichen Entscheidung über den Asylantrag fehlt, so würde das Verwaltungsgericht der Behörde den Erlass eines Verwaltungsaktes auferlegen, den sie aufgrund der Verfahrensregelung in § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG zu diesem Zeitpunkt noch nicht erlassen muss und auch nicht erlassen darf.

OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12. November 2019 - OVG 3 B 13.19 -, Rn. 18, juris.

Zudem bleibt im Falle der Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides (wie hier) für eine darüberhinausgehende Verpflichtung zur Feststellung von nationalen Abschiebungsverboten auch deshalb kein Raum, weil noch offen ist, ob ein (anderer) Mitglied- oder Vertragsstaat als Zielland einer Abschiebung in Betracht kommt oder sich die vorzunehmende Feststellung von Abschiebungsverboten auf den Herkunftsstaat zu beziehen hat.

Vgl. in Bezug auf die Aufhebung einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG: BayVGH, Beschluss vom 8. März 2019 - 10 B 18.50031 -, Rn. 21, juris.

2. Die Klage ist mit dem Anfechtungsantrag ferner begründet.

In dem für die rechtliche Beurteilung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) ist der angegriffene Bescheid des Bundesamtes rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

a. Die Unzulässigkeitsentscheidung in Ziffer 1 des Bescheides findet keine Rechtsgrundlage in der vom Bundesamt herangezogenen und allein als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommenden Vorschrift des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG.

Nach dieser Norm ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylG gewährt hat.

Zwar ist davon auszugehen, dass die Klägerin in Italien internationalen Schutz erhalten hat. Der Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG steht aber Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Verfahrensrichtlinie) entgegen.

Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat verbietet, von der durch diese Vorschrift eingeräumten Befugnis Gebrauch zu machen, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, weil dem Antragsteller bereits von einem anderen Mitgliedstaat internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn die Lebensverhältnisse, die ihn in dem anderen Mitgliedstaat als Schutzberechtigter erwarten würden, ihn der ernsthaften Gefahr aussetzen würden, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GRCh zu erfahren.

Vgl. EuGH, Beschluss vom 13. November 2019, Rs. C-540/17 und C-541/17, Bundesrepublik Deutschland gegen Adel Hamed u. a., EU:C:2019:964 , Rn. 44, zu anerkannten Flüchtlingen.

Die Klägerin ist in Italien der ernsthaften Gefahr ausgesetzt, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GRCh zu erfahren.

Es ist insoweit darauf hinzuweisen, dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen anderen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt - und anerkennt, dass sie sie mit ihm teilen -, auf die sich, wie es in Art. 2 EUV heißt, die Union gründet. Diese Prämisse impliziert und rechtfertigt die Existenz gegenseitigen Vertrauens zwischen den Mitgliedstaaten bei der Anerkennung dieser Werte und damit bei der Beachtung des Unionsrechts, mit dem sie umgesetzt werden, und gegenseitigen Vertrauens darauf, dass die nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten in der Lage sind, einen gleichwertigen und wirksamen Schutz der in der EU-GRCh anerkannten Grundrechte, insbesondere ihren Art. 1 und 4, in denen einer der Grundwerte der Union und ihrer Mitgliedstaaten verankert ist, zu bieten.

EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C-297/17, Celex-Nr. 62017CJ0297, Rn. 83, m.w.N., juris.

Folglich muss im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems die Vermutung gelten, dass die Behandlung der Personen, die internationalen Schutz beantragen, in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-GRCh, der Genfer Konvention und der EMRK steht. Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass eine ernsthafte Gefahr besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, in diesem Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist. Insoweit ist gleichgültig, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person einer ernsthaften Gefahr ausgesetzt wäre, eine solche Behandlung zu erfahren.

EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C-297/17, Celex-Nr. 62017CJ0297, Rn. 85 ff., m.w.N., juris.

Die genannten Schwachstellen fallen indes nur dann unter Art. 4 EU-GRCh, der Art. 3 EMRK entspricht und nach Art. 52 Abs. 3 EU-GRCh die gleiche Bedeutung und Tragweite hat, wie sie ihm in der EMRK verliehen wird, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit wäre erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund deren die betreffende Person sich in einer solch schwerwiegenden Situation befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann.

EuGH, Urteil vom 19. März 2019, Ibrahim u. a., C-297/17, Celex-Nr. 62017CJ0297, Rn. 89 ff., m.w.N., juris.

Unter Berücksichtigung der Bedeutung, die der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens für das Gemeinsame Europäische Asylsystem hat, hindern Verstöße gegen Bestimmungen des Kapitels VII der Anerkennungsrichtlinie, die nicht zu einer Verletzung von Art. 4 EU-GRCh führen, die Mitgliedstaaten nicht daran, ihre durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a der Verfahrensrichtlinie eingeräumte Befugnis auszuüben. Der Umstand, dass Schutzberechtigte in dem Mitgliedstaat, der dem Antragsteller diesen Schutz gewährt hat, keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur in deutlich eingeschränktem Umfang existenzsichernde Leistungen erhalten, ohne jedoch anders als die Angehörigen dieses Mitgliedstaats behandelt zu werden, kann nur dann zu der Feststellung führen, dass dieser Antragsteller dort tatsächlich der Gefahr ausgesetzt wäre, eine gegen Art. 4 EU-GRCh verstoßende Behandlung zu erfahren, wenn dieser Umstand zur Folge hat, dass sich dieser Antragsteller aufgrund seiner besonderen Verletzbarkeit unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die den in den oben genannten Kriterien entspricht.

EuGH, Urteil vom 19. März 2019, C-297/17, Celex-Nr. 62017CJ0297, Rn. 92 ff., m.w.N., juris.

Nach diesen Maßstäben droht der Klägerin in Italien mit beachtlicher Gefahr die Verletzung ihrer Menschenrechte aus Art. 4 EU-GRCh und Art. 3 EMRK.

Bei dieser Prognoseentscheidung ist von einer Rückkehr der Klägerin nach Italien im Familienverbund mit ihrem am 00.00.2019 geborenen Kind auszugehen. Denn aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Abschiebungsverboten,

vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 - 1 C 45.18 -, juris,

die auf den vorliegenden Fall wegen der Interessengleichheit von Art. 4 EU-GRCh und Art. 3 EMRK übertragbar ist (vgl. Art. 52 Abs. 3 EU-GRCh), ist zu folgern, dass auf die Situation einer Rückkehr der tatsächlich gelebten Kernfamilie abzustellen ist. Diese besteht hier (jedenfalls) aus der Klägerin und ihrem am 00.00.2019 geborenen Kind.

Im vorliegenden Fall einer Mutter mit einem 2019 geborenen Kind besteht die beachtliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK, weil sie bei ihrer Rückkehr nach Italien ohne eine entsprechende Zusicherung der italienischen Behörden Gefahr liefen, keine Unterkunft zu erhalten und ihre elementarsten Bedürfnisse nicht befriedigen zu können.

Vgl. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 -, Rn. 20, juris; Nds. OVG, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 21.

Anerkannte Schutzberechtigte haben in Italien im Rahmen der bestehenden Kapazitäten und sofern die maximale Aufenthaltsdauer von sechs Monaten - gegebenenfalls 18 Monaten - noch nicht ausgeschöpft ist, Zugang zum Aufnahmesystem SIPROIMI (Sistema di protezione per titolari di protezione internazionale e minori stranieri non accompagnati), welches in etwa mit "System für den Schutz international Schutzberechtigter und unbegleiteter Minderjähriger" übersetzt werden kann und durch die grundlegende Reform des italienischen Aufnahmesystems im Jahre 2018 geschaffen wurde. In diesem Rahmen wurde das vormalige Aufnahmesystem SPRAR (Sistema di protezione per richiedenti asilo e rifugiati), welches man in etwa mit "System zum Schutz von Flüchtlingen und Asylsuchenden" übersetzten kann, umgewidmet.

Vgl. aida, Country Report Italy, Update 2018, Stand: 31. Dezember 2018, S. 80, 144 ff.

Bei dem SIPROIMI handelt es sich um eine dezentrale auf lokaler Ebene organisierte Unterbringung, die aus einem Netzwerk von Unterkünften und überwiegend aus Wohnungen besteht, und auf einer Zusammenarbeit zwischen dem Innenministerium, den Gemeinden und verschiedenen Nichtregierungsorganisationen basiert.

Vgl. aida, Country Report Italy, Update 2018, Stand: 31. Dezember 2018, S. 145.

Die Unterbringung wird von Unterstützungs- und Integrationsmaßnahmen (Rechtsberatung, Sprachkurse, psychosoziale Unterstützung, Jobtrainings, Praktika, Unterstützung bei der Suche einer Stelle auf dem Arbeitsmarkt) begleitet.

Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, Seiten 35 f. und 53, und Anlage vom 31. Juli 2017 zu der Anfragebeantwortung an VG Hannover vom 12 September 2017, Seite 6; BAMF, Länderinformation: Italien, Mai 2017, Seiten 1 und 2; Nds. OVG, Beschluss vom 6. April 2018 - 10 LB 109/18 -, juris Rn. 41, jeweils zu SPRAR-Zentren.

Mit Art. 4 EU-GRCh ist es aber nicht vereinbar, dass die Gewährleistung der elementarsten Bedürfnisse von anerkannt Schutzberechtigten mit minderjährigen Kindern durch den italienischen Staat nach einem Ablauf von nur sechs Monaten - gegebenenfalls 18 Monaten - endet. Diese zeitliche Einschränkung besteht nach vorliegenden Erkenntnismitteln auch weiterhin fort.

Vgl. Entscheiderbrief 5/2019, vom 31. Mai 2019, S. 7; borderlineeurope, Stellungnahme zur derzeitigen Situation von Geflüchteten in Italien mit besonderem Blick auf die Unterbringung, vom 3. Mai 2019, S. 3; Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Italien, Stand: 9. Oktober 2019, S. 23; Nds. OVG, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 22.

Insbesondere lässt sich der Erkenntnislage nicht hinreichend deutlich entnehmen, dass die Aufenthaltsdauer in SIPROIMI-Unterkünften sich über sechs Monate hinaus noch verlängern ließe,

vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Italien, Stand: 9. Oktober 2019, S. 23,

wie dies bei den SPRAR-Einrichtungen bis zu einer Gesamtdauer von 18 Monaten der Fall war. Jedenfalls würde auch eine Verlängerung der Unterbringungsdauer auf 18 Monate keinen Unterschied bewirken, da sich nach diesem Zeitraum ebenso die Frage der Folgeunterkunft stellen würde.

Im Februar 2018 waren in ganz Italien geschätzt mindestens 10.000 Personen von der Unterbringung faktisch ausgeschlossen, darunter Asylwerber und Schutzberechtigte. Sie lebten nicht selten in besetzen Gebäuden, von denen mittlerweile durch Involvierung von Regionen oder Gemeinden aber auch viele legalisiert wurden. Die Nichtregierungsorganisation Baobab Experience betreibt in Rom ein informelles Migrantencamp und betreut nach eigenen Angaben eine steigende Zahl von Inhabern eines Schutztitels.

Vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Italien, Stand: 9. Oktober 2019, S. 24.

Art. 4 EU-GRCh verlangt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes dagegen, dass auch nach Abschluss des Asylverfahrens die als schutzberechtigt anerkannte Person zu keinem Zeitpunkt dem Risiko einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird

Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 23.

Eine individuelle Zusicherung ist auch hinsichtlich des Umstandes erforderlich, dass anerkannte Schutzberechtigte, die einmal in einer SIPROIMI- bzw. SPRAR-Einrichtung aufgenommen waren und diese verlassen haben, in der Regel keinen Zugang mehr zu diesem Aufnahmesystem haben.

Vgl. auch österreichisches BVwG, Entscheidung vom 17. Januar 2019 - W185 2201999-1 -, S. 10.

Von dieser Regel konnte hinsichtlich der SPRAR nur abgewichen werden, wenn die betroffene Person einen Antrag beim Innenministerium einreicht und neue "Verletzlichkeiten" vorbringt.

Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, Seite 36, und Anlage vom 31. Juli 2017 zu der Anfragebeantwortung an VG Hannover vom 12.09.2017, Seite 1.

In diesem Fall ebenso wie in dem Fall, dass die maximale Aufenthaltsdauer in einer SPRAR-Einrichtung abgelaufen war, hatten die betroffenen Personen, sofern sie nicht in der Lage waren, für sich selbst zu sorgen und eine Wohnung zu mieten, und auch keinen Unterkunftsplatz in den bereits erwähnten kommunalen und karitativen Einrichtungen oder mit Hilfe der Nichtregierungsorganisationen erhalten, ebenso wie italienische Staatsangehörige in vergleichbarer Situation nur Zugang zu Notschlafstellen und zu Unterkünften in besetzten Häusern.

Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Anlage vom 31. Juli 2017 zu der Anfragebeantwortung an VG Hannover vom 12. September 2017, Seite 2.

Jedenfalls bei sogenannten Dublin-Rückkehrern, auch von Familien mit Kindern, die einmal ihre Unterkunft in Italien verlassen hatten, konnte es dagegen in der Vergangenheit bei ihrer Rückkehr zu Problemen und zeitlichen Verzögerungen bei ihrer erneuten Unterbringung kommen.

Vgl. SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, vom 8. Mai 2019, S. 13; Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Italien, Stand: 26. Februar 2019, S. 22 f.

Dass sich diese Situation in der nachfolgenden Zeit verbessert hätte oder als schutzberechtigt anerkannte Familien mit minderjährigen Kindern nicht betreffen würde, ist den dem Gericht vorliegenden aktuellen Erkenntnismitteln nicht zu entnehmen.

Vgl. auch Nds. OVG, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 25.

Nach den neuesten Erkenntnissen hat sich diese Situation hinsichtlich der SIPROIMI-Unterkünfte eher noch verschärft.

Vgl. aida, Country Report Italy, Update 2018, Stand: 31. Dezember 2018, S. 143 f.

Insoweit ist auch nicht ersichtlich, dass sich Familien mit minderjährigen Kindern - anders als arbeitsfähige alleinstehende Personen bzw. Paare ohne Kinder - selbst oder auch mit Hilfe kommunaler und karitativer Einrichtungen sowie Nichtregierungsorganisationen aus dieser Situation von (drohender) Obdachlosigkeit befreien könnten und sich damit nicht unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befänden.

Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 25, m.w.N.

Dabei ist vor allem zu berücksichtigen, dass der durch Art. 4 EU-GRCh bzw. Art. 3 EMRK vermittelte Schutz bei Kindern - unabhängig davon, ob sie von ihren Eltern begleitet werden - noch wichtiger ist, weil sie besondere Bedürfnisse haben und extrem verwundbar sind.

Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, NVwZ 2015, 127 ff. Rn. 119.

Die Aufnahmebedingungen für minderjährige Schutzsuchende müssen an ihr Alter angepasst sein, um sicherzustellen, dass keine Situation von Anspannung und Angst mit besonders traumatisierenden Wirkungen für die Psyche der Kinder entsteht. Anderenfalls wird die Schwere erreicht, die erforderlich ist, um unter das Verbot in Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-GRCh zu fallen.

Vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, NVwZ 2015, 127 ff. Rn. 119.

Kinder sind grundsätzlich verletzlicher und ihre Bewältigungsmechanismen sind noch unentwickelter. Sie neigen zudem mehr dazu, feindselige Situationen als verstörend zu empfinden, Drohungen Glauben zu schenken und von ungewohnten Umständen emotional beeinträchtigt zu werden Sie reagieren auch stärker auf Handlungen, die gegen nahe Verwandte gerichtet sind. Was für einen Erwachsenen unbequem ist, kann für ein Kind eine ungebührende Härte darstellen.

Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 25, unter Bezugnahme auf UNHCR, Richtlinien zum internationalen Schutz: Asylanträge von Kindern, v. 22. Dezember 2009.

Insoweit müssen auch erhebliche zeitliche Verzögerungen, die zu einer vorübergehenden Unterbringung von Familien mit minderjährigen Kindern in nicht kind- und familiengerechten Unterkünften oder gar zu ihrer vorübergehenden Obdachlosigkeit führen würden, ausgeschlossen sein.

Vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 -, juris Rn. 23, 25; vgl. auch VG Minden, Urteil vom 20. September 2019 - 10 K 10479/17.A -, juris Rn. 51; und VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 40, 118.

Soweit der Verlust des Unterkunftsplatzes in einer SPRAR- bzw. nunmehr SIPROIMI-Einrichtung etwa auf dem ungenehmigten Verlassen der Einrichtung beruht, vermag dies bei Minderjährigen aufgrund ihrer besonders verwundbaren Lage eine solche Sanktionierung nicht zu rechtfertigen, insbesondere wenn dies zur Folge haben würde, dass sie dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wären Diese Wahrscheinlichkeit ist hier gegeben. Denn die Möglichkeit der Erlangung privaten Wohnraums in Form einer Sozialwohnung knüpft bereits zum Teil an einen Mindestaufenthalt in Italien bzw. der jeweiligen Region an, so etwa in Friaul-Julisch von fünf Jahren.

Vgl. aida, Country Report Italy, Update 2018, Stand: 31. Dezember 2018, S. 146.

Wird ferner berücksichtigt, dass sowohl die Organisation Ärzte ohne Grenzen als auch der UNHCR sowie die Internationale Organisation für Migration und weitere Nichtregierungs- bzw. humanitäre Organisationen im Jahr 2018 von tausenden Schutzsuchenden und Schutzberechtigten ohne Unterbringungsplatz ausgingen,

vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Italien, Stand: 26. Februar 2019, S. 18, 25,

ist eine der besonderen Schutzbedürftigkeit von Familien mit Kindern Rechnung tragende hinreichende Versorgung mit Wohnraum nicht gewährleistet, auch wenn insgesamt mehr als 155.000 Schutzsuchende und Schutzberechtigte in staatlichen Einrichtungen untergebracht waren und in den damaligen SPRAR-Einrichtungen circa 35.000 Plätze zur Verfügung standen.

Vgl. Republik Österreich, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Italien, Stand: 26. Februar 2019, S. 20 f.

Belastbare Zahlen für die SIPROIMI-Unterkünfte liegen noch nicht vor.

Vgl. aida, Country Report Italy, Update 2018, Stand: 31. Dezember 2018, S. 143.

Eine individuelle Zusicherung der Gewährleistung der Rechte von Familien mit minderjährigen Kindern aus Art. 4 EU-GRCh ist auch nicht aufgrund der Rundschreiben der italienischen Behörden ("circular letters") entbehrlich.

Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 26.

Mit an die Dublin-Einheiten gerichtetem Rundschreiben des italienischen Innenministeriums vom 8. Juni 2015,

abrufbar unter https://www.asylumlawdatabase.eu/en/content/circularletteritalianministryinterioralldublinunits,

wurde im Hinblick auf die damalige aktuelle europäische Rechtsprechung zu den Garantien für zu überstellende Familien mit minderjährigen Kindern und die Einhaltung der Dublin-Verordnung Nr. 604/2013 eine Liste von SPRAR-Einrichtungen mit 161 Plätzen übersandt, welche diese Schutzsuchenden aufnehmen könnten. In dem Schreiben wird weiter ausgeführt, weshalb die Einrichtungen die an eine Aufnahme von Familien zu stellenden Anforderungen erfüllten. Das italienische Innenministerium geht in dem Schreiben davon aus, dass durch dieses die von den Mitgliedsstaaten von Italien für Familien mit minderjährigen Kinder geforderten Garantien erklärt worden seien. Ein nachfolgendes Schreiben des italienischen Innenministeriums vom 15. Februar 2016 weist 85, ein weiteres vom 12. Oktober 2016 noch 58 für Familien vorgesehene Plätze in SPRAR-Einrichtungen aus.

Beide abrufbar unter https://www.asylumlawdatabase.eu/en/content/circularletteritalianministryinterioralldublinunits.

Mit Schreiben vom 4. Juli 2018 an die Dublin-Einheiten teilte das italienische Innenministerium 79 Plätze mit, die für Familien zur Verfügung stünden, die nach Italien unter Geltung der Dublin III-Verordnung rücküberstellt würden.

Vgl. Danish Refugee Council, Mutual trust is still not enough, The situation of persons with special reception needs transferred to Italy unter der Dublin III Regulation, vom 12. Dezember 2018, S. 4 Fn. 4; österreichisches BVwG, Entscheidung vom 17. Januar 2019 - W185 2201999-1 -, S. 2.

In dem undatierten Rundschreiben 1.2019,

vgl. Antwort des Bundesamtes für Migration und Flüchtlingen an das Verwaltungsgericht Magdeburg, dort eingegangen am 5. Februar 2019,

welches als circular letter vom 8. Januar 2019 bezeichnet wird,

vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 26,

teilt die italienische Dublin-Einheit mit, dass im Anschluss an das italienische Rundschreiben vom 8. Juni 2015 zur Unterbringung von Familien, die gemäß der Dublin-Verordnung zurückgeführt werden, weitere Informationen in Übereinstimmung mit dem neuen italienischen Gesetz Nr. 132/2018, das 2018 in Kraft getreten sei, übermittelt würden. Weiter heißt es dort: "Im Hinblick auf die Aufnahme von Asylbewerbern (einschließlich Personen, die dem Dublin-Verfahren unterliegen) und Flüchtlingen werden mit der neuen Verordnung die Bestimmungen hinsichtlich des SPRAR-Systems, das in System für den Schutz von Personen mit internationalem Schutzstatus und unbegleiteten ausländischen Minderjährigen (SIPROIMI) umbenannt wurde, dahingehend geändert, dass die Aufnahme in den Einrichtungen ausschließlich folgenden Personen vorbehalten wird: 1. Personen, die internationalen Schutz genießen (subsidiärer Schutz und Flüchtlingsstatus), 2. unbegleiteten ausländischen Minderjährigen, 3. Inhaber ‚neuer‘ Aufenthaltstitel humanitärer Art. Folglich werden alle Dublin-Rückkehrer, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, in anderen Zentren untergebracht, die im Gesetzesdekret Nr. 142/2015 genannt sind. Unter Berücksichtigung der Bemühungen der italienischen Regierung, die Migrantenströme deutlich zu verringern, sind diese Zentren für die Unterbringung aller möglichen Begünstigen geeignet, so dass der Schutz der Grundrechte, insbesondere die Einheit der Familie und der Schutz von Minderjährigen, sichergestellt sind."

Die Rundschreiben aus den Jahren 2015, 2016 und 2018 beziehen sich bereits nach ihrem Wortlaut allein auf Familien mit Kindern, die unter die Regelungen der Dublin III-Verordnung fallen, damit auf solche, die - anders als im vorliegenden Fall - in Italien (noch) nicht als schutzberechtigt anerkannt worden sind. Dies gilt auch für das (wohl) letzte Rundschreiben "Circular letter n. 01.2019", in dem pauschal erklärt wird, dass der Schutz der Grundrechte der Antragsteller, die dem Dublin-Verfahren unterliegen und daher in anderen als den SIPROIMI-Einrichtungen untergebracht würden, in den Einrichtungen sichergestellt sei, ebenso wie die Einheit der Familie und der Schutz von Minderjährigen dort gewahrt würden. Diese neuerliche und ohnehin sehr allgemein gehaltene Erklärung bezieht sich somit ebenfalls nicht speziell auf in Italien als schutzberechtigt anerkannte Personen mit minderjährigen Kinder und verleiht ihnen nicht den oben bezeichneten erforderlichen Schutz. Denn anerkannte Schutzberechtigte werden in diesem Schreiben nur insoweit allgemein erwähnt, als die Aufnahme in den SIPROIMI-Einrichtungen diesem Personenkreis (neben unbegleiteten Minderjährigen und Inhabern neuer Aufenthaltstitel) vorbehalten sein soll. Vor allem folgt aus diesen Rundbriefen nicht, dass Familien mit minderjährigen Kindern zur Verhinderung einer Verletzung von Art. 4 EU-GRCh auch über einen Zeitraum von sechs bzw. 18 Monaten hinaus untergebracht würden und auch dann dort (erneut) unterkommen würden, wenn sie zuvor die Einrichtung bzw. Italien ohne Genehmigung der zuständigen italienischen Behörden verlassen haben.

Vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 19. Dezember 2019 - 10 LA 64/19 -, juris Rn. 27.

Nach diesen Erkenntnissen und unter Berücksichtigung der individuellen Situation der Klägerin spricht alles dafür, dass sie im Falle einer Rückkehr nach Italien nicht in der Lage wäre, den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind sicherzustellen und eine drohende existenzielle Notlage aus eigener Kraft abzuwenden. Zwar liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Klägerin aus gesundheitlichen Gründen in ihrer Erwerbsfähigkeit beschränkt wäre. Angesichts der ihr als Mutter eines Kleinkindes zukommenden Erziehungs- und Betreuungsverantwortung bestehen jedoch nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Hinzu kommen der familienbedingt erhöhte Bedarf zur Abwendung einer existenziellen Notlage sowie die besondere Schutzbedürftigkeit des jungen Kindes (vgl. Art. 21 RL 2013/33/EU vom 26. Juni 2013 - Aufnahmerichtlinie -).

b. Unter diesen Umständen ist auch die in Ziffer 2 des streitgegenständlichen Bescheides getroffene Feststellung, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Denn mit der Aufhebung der Ziffer 1 der streitgegenständlichen Bescheide fehlt es an der gemäß § 31 Abs. 3 AsylG für die Entscheidung über das Vorliegen von Abschiebungsverboten erforderlichen Unzulässigkeitsentscheidung.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 21.

c. Die in Ziffer 3 Sätze 1 bis 3 des angefochtenen Bescheides verfügte Abschiebungsandrohung ist ebenfalls rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie lässt sich nicht auf die allein als Rechtsgrundlage in Betracht kommende Vorschrift des § 35 AsylG stützen. Nach dieser Norm droht das Bundesamt dem Ausländer in den Fällen des § 29 Absatz 1 Nummer 2 und 4 die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war. Ein solcher Fall liegt - wie oben dargelegt - gerade nicht vor.

d. Da die Abschiebungsandrohung aufzuheben ist, kann auch die Befristungsentscheidung in Ziffer 4 des Bescheides keinen Bestand haben. Denn zum einen knüpft das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG tatbestandlich an eine Abschiebung der Klägerin an. Hierfür fehlt nach der Aufhebung der Abschiebungsanordnung die Rechtsgrundlage. Zum anderen ist das Bundesamt nach Aufhebung der Abschiebungsandrohung für die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbotes nicht länger zuständig, vgl. § 75 Nr. 12 AufenthG.

3. Da die Klage mit ihrem als Anfechtungsklage statthaften Hauptantrag Erfolg hat, ist über den nur als Hilfsantrag zulässigen Verpflichtungsantrag auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nicht zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, §§ 83b, 83c AsylG. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 Abs. 1 RVG.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

Rechtsmittelbelehrung:

Gegen dieses Urteil kann innerhalb eines Monats nach Zustellung die Zulassung der Berufung beantragt werden. Über den Antrag entscheidet das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster.

Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn

1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder

2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.

Der Antrag ist schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Düsseldorf (Bastionstraße 39, 40213 Düsseldorf oder Postfach 20 08 60, 40105 Düsseldorf) zu stellen. Er muss das angefochtene Urteil bezeichnen.

Der Antrag kann auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a VwGO und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) eingereicht werden.

In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.

Im Berufungs- und Berufungszulassungsverfahren müssen sich die Beteiligten durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die das Verfahren eingeleitet wird. Die Beteiligten können sich durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, als Bevollmächtigten vertreten lassen. Auf die zusätzlichen Vertretungsmöglichkeiten für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse wird hingewiesen (vgl. § 67 Abs. 4 Satz 4 VwGO und § 5 Nr. 6 des Einführungsgesetzes zum Rechtsdienstleistungsgesetz - RDGEG -). Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen unter den dort genannten Voraussetzungen als Bevollmächtigte zugelassen.

Die Antragsschrift soll möglichst dreifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung als elektronisches Dokument bedarf es keiner Abschriften.

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