VG Aachen, Beschluss vom 12.05.2020 - 3 L 185/20
Fundstelle
openJur 2020, 5947
  • Rkr:

Zur Inlandsungültigkeit einer polnischen Fahrerlaubnis, die unter Verstoß gegen das Wohnsitzprinzip erteilt worden ist.

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 2.500 Euro festgesetzt.

Gründe

1. Der sinngemäße Antrag,

die aufschiebende Wirkung der Klage gleichen Rubrums - 3 K 1257/19 - gegen den Feststellungsbescheid der Antragsgegnerin vom 11. April 2019 in der Fassung vom 19. Februar 2020 über die Inlandsungültigkeit einer polnischen Fahrerlaubnis (Führerschein-Nr.0) und die Vorlage des polnischen Führerscheins zur Eintragung eines Sperrvermerks wiederherzustellen,

hat keinen Erfolg.

In formeller Hinsicht begegnet die getroffene Anordnung der sofortigen Vollziehung des Feststellungsbescheides keinen rechtlichen Bedenken. Sie ist nunmehr auch hinreichend schriftlich begründet, vgl. § 80 Abs. 3 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). So stellt die Antragsgegnerin im Änderungsbescheid vom 19. Februar 2020 insbesondere darauf ab, es sei zu verhindern, dass der Antragsteller einstweilen in Deutschland am Straßenverkehr teilnehme und bei Verkehrskontrollen den unzutreffenden Eindruck erwecken könne, er besitze eine im Bundesgebiet gültige polnische Fahrerlaubnis.

Die in materieller Hinsicht gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des angegriffenen Feststellungsbescheides und dem privaten Interesse des Antragstellers, von dessen Vollziehung bis zu abschließenden Klärung ihrer Rechtsmäßigkeit im Hauptsacheverfahren verschont zu bleiben, fällt zu seinen Lasten aus. Seine in der Hauptsache erhobene Klage wird voraussichtlich erfolglos bleiben.

Der angefochtene Feststellungsbescheid der Antragsgegnerin vom 11. April 2019 in der Fassung vom 19. Februar 2020 erweist sich bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein gebotenen summarischen Prüfung als rechtmäßig.

Der Antragsteller ist nicht berechtigt, im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland von der durch die Republik Polen am 12. Dezember 2017 erteilten Fahrerlaubnis (Führerschein-Nr.0) Gebrauch zu machen.

Die Antragsgegnerin konnte diese kraft Gesetzes gegebene Inlandsungültigkeit zur Klarstellung durch Verwaltungsakt feststellen, vgl. § 28 Abs. 4 Satz 2 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV).

Die Inlandsungültigkeit der vom Antragsteller erworbenen polnischen Fahrerlaubnis folgt aus der deutschen Regelung in Nr. 2 des § 28 Abs. 4 Satz 1 FeV, welche wiederum den Inhalt der Richtlinie 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Dezember 2006 ("3. Führerschein-Richtlinie") wiedergibt.

Danach ist eine Inlandsungültigkeit von EU-Fahrerlaubnissen u.a. dann anzunehmen, wenn der Inhaber ausweislich seines EU-Führerscheins oder - worauf es hier ankommt - ausweislich vom Ausstellermitgliedsstaat "herrührender unbestreitbarer Informationen" zum Zeitpunkt der Führerscheinerteilung seinen ordentlichen Wohnsitz im Inland hatte.

So liegt der Fall hier. Nach Aktenlage spricht Überwiegendes dafür, dass der Antragsteller am 12. Dezember 2017, also zum Zeitpunkt der polnischen Fahrerlaubniserteilung seinen ordentlichen Wohnsitz nicht in der Republik Polen hatte, und zwar ungeachtet dessen, dass in seinem polnischen Führerschein ein polnischer Wohnort eingetragen ist.

Ein ordentlicher Wohnsitz im Ausstellermitgliedsstaat setzt voraus, dass der Inhaber der Fahrerlaubnis wegen persönlicher oder beruflicher Bindungen mindestens 185 Tage im Jahr dort gewohnt hat, vgl. § 7 Abs. 1 Satz 2 FeV.

Damit der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung der vom Mitgliedsstaat erteilten Fahrerlaubnis durchbrochen werden darf, müssen entweder Angaben aus dem zugehörigen Führerschein oder andere vom Ausstellermitgliedsstaat herrührende unbestreitbare Informationen vorliegen, aus denen sich ergibt, dass die im Führerschein enthaltene Wohnsitzangabe nicht zutrifft. Die Antragsgegnerin ist dabei nicht auf die Angaben beschränkt, die sich aus dem Führerschein ergeben.

Die zulässigerweise eingeholten Informationen sind daraufhin zu bewerten, ob diese unbestreitbar sind und ob sie belegen, dass der Antragsteller zum Zeitpunkt der Erteilung der Fahrerlaubnis seinen ordentlichen Wohnsitz nicht im Hoheitsgebiet des Ausstellermitgliedsstaates hatte. Die Prüfung, ob solche Informationen als vom Ausstellungsmitgliedsstaat herrührend und als unbestreitbar eingestuft werden können, obliegt den Behörden und den Gerichten des Aufnahmemitgliedsstaats. Dabei muss die Begründung eines Scheinwohnsitzes aufgrund der vom Ausstellungsmitgliedsstaat stammenden Informationen nicht bereits abschließend erwiesen sein.

Vielmehr reicht es aus, wenn diese Informationen darauf "hinweisen", dass sich der Inhaber des Führerscheins im Gebiet des Ausstellungsmitgliedsstaats nur für kurze Zeit aufgehalten und im Gebiet des Ausstellungsmitgliedsstaats einen rein fiktiven Wohnsitz allein zu dem Zweck begründet hat, der Anwendung der strengeren Bedingungen für die Ausstellung eines Führerscheins im Mitgliedsstaat seines tatsächlichen Wohnsitzes zu entgehen.

Es genügt schon die bloße Möglichkeit einer solchen Sachverhaltsgestaltung, ohne dass die Begründung eines reinen Scheinwohnsitzes bereits abschließend erwiesen sein muss. Soweit unbestreitbare Informationen des Ausstellungsmitgliedsstaats vorliegen, aus denen sich die Möglichkeit ergibt oder die darauf hinweisen, dass die Wohnsitzvoraussetzung nicht gegeben war, sind zur endgültigen Beurteilung dieser Fragen die gesamten Umstände des Einzelfalles heranzuziehen, also ergänzend auch die inländischen Umstände.

Vgl. zum Vorstehenden: VG Würzburg, Beschluss vom 7. Dezember 2016 - W 6 S 16.1189 -, juris Rn. 24, unter Bezugnahme auf die einschlägige Rechtsprechung der europäischen und deutschen Gerichte.

Gemessen an diesen Vorgaben liegen unbestreitbare Informationen aus dem Ausstellungsmitgliedsstaat Polen vor, die auf einen Verstoß gegen das Wohnsitzerfordernis hinweisen. Diese beruhen auf dem Informationsaustausch zwischen den polnischen und deutschen Fahrerlaubnisbehörden. Die polnische Auskunft ist auf Veranlassung und Nachfrage der Antragsgegnerin dem deutschen Kraftfahrt-Bundesamt erteilt worden. Sie basiert auf einem englischsprachigen Formblatt: "RESPONSE FROM AUTHORITY ADDRESSED", in welchem die zuständige polnische Beamtin (Vizeinspektorin) die Frage nach einem ordentlichen Wohnsitz des Antragstellers in Polen verneint hat. Das ergibt sich aus folgendem Passus in englischer Sprache, in welchem "No" angekreuzt ist:

"(...)

Request in case of suspicion of noncompliance with normal residence criteria:

According to our information the person has his/her normal residence in our country based on:

Place of normal residence according to our information:

- Place where person usually lives for at least 185 days each

calendar year Yes  No  Unknown 

(...)”

Dem Vorgang ist ein in deutscher und polnischer Sprache abgefasster Vertrag über die Anmietung einer Wohnung in Polen für die Zeit vom 5. November 2017 bis 4. Dezember 2017 beigefügt sowie eine - nach Belehrung über die strafrechtliche Verantwortlichkeit - erfolgte Erklärung des Antragstellers vom 7. August 2017, wonach seine polnische Adresse 70-206 Szczecin, Dworcowa 16 sei.

Eine Internetrecherche zeigt unter der Adresse "70-206 Szczecin, Dworcowa 16" das Hotel Ibis Szczecin Centrum, vgl. www.booking.com.

Angesichts dieser Informationen lässt sich ein Aufenthalt des Antragstellers in Polen von 185 Tagen (also einem halben Jahr) nicht feststellen. Nimmt man zu seinen Gunsten den Zeitpunkt der Ausstellung des Führerscheins am 12. Dezember 2017 als Endpunkt, obwohl die Anmietung des polnischen Wohnraums vorher endete, so hätte der Antragsteller bereits Mitte Juni 2017 nach Polen umziehen müssen, um die 185-Tage-Regel zu erfüllen. Bezeichnend ist, dass der Antragsteller im Termin zur Erörterung der Sache am 11. Februar 2020 vor dem Gericht auch eingeräumt hat, dass er während des hier in Rede stehenden Zeitraums seinen "ersten Wohnsitz" in Deutschland gehabt habe, weil er sonst "obdachlos" gewesen wäre.

Ohne Erfolg bleibt der Einwand des Antragstellers, es sei ihm gemeinsam mit seinem polnischen Freund S gelungen, gegenüber den polnischen Behörden die 185-Tage-Voraussetzung nachzuweisen, woran die deutschen Behörden und Gerichte gebunden seien, zumal seine polnische Fahrerlaubnis im europäischen Fahrerlaubnisregister als "valid" (= gültig) eingetragen sei.

Wie oben bereits erläutert, ist die fortbestehende Gültigkeit einer Fahrerlaubnis im Ausstellerstaat, hier in der Republik Polen, regelmäßig, aber eben nicht ausnahmslos gleichbedeutend mit der Anerkennungsfähigkeit einer Fahrerlaubnis in einem anderen Mitgliedstaten, hier in der Bundesrepublik Deutschland. Die unionsrechtlichen Voraussetzungen zur Bejahung einer solchen Ausnahme sind durch die oben zitierte Auskunft der polnischen Behörde gegeben. Diese Auskunft auf die Frage nach dem ordentlichen Wohnsitz ist in der Änderung des Feststellungsbescheides vom 19. Februar 2020 nunmehr auch nicht mehr fälschlicherweise mit "Unknown", sondern entsprechend der wahren Aktenlage mit "No" wiedergegeben. Damit ist es unerheblich, ob die polnische Behörde, wie der Antragsteller geltend macht, bei seiner dortigen Vorsprache mit einem befreundeten Einheimischen von der Einhaltung der 185-Tage-Voraussetzung ausgegangen ist.

Im Übrigen gilt: Beruft sich der Fahrerlaubnisinhaber darauf, das Wohnsitzerfordernis sei - entgegen der unbestreitbaren Informationen des Ausstellerstaates - erfüllt, obliegt es ihm, substantiierte und verifizierbare Angaben zu Beginn und Ende seines Aufenthalts im Ausstellermitgliedstaat im Zusammenhang mit der Fahrerlaubniserteilung sowie zu den persönlichen und beruflichen Bindungen zu machen, die im maßgeblichen Zeitraum zu dem im Führerscheindokument angegebenen Wohnort bestanden.

Vgl. Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW, Urteil vom 16. Mai 2014 - 16 A 2255/10 -, juris Rn. 16.

An einem solchen Vortrag fehlt es hier.

Des Weiteren ist die Rechtmäßigkeit der angegriffenen Feststellungsentscheidung an der objektiven Rechtslage zu messen. Auf die im Bescheid bzw. im Prozess angeführten Argumente der Begründung kommt es regelmäßig nicht an.

Vgl. OVG NRW, Urteile vom 16. Mai 2014 - 16 A 2255/10 -, juris Rz 16 und vom 17. Januar 2014 - 16 A 1292/10 -, juris Rz 16, BayVGH, Urteil vom 11. November 2013 - 11 B 12.1326 -, juris Rz 19; Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, Kommentar, 42. Auflage 2013, § 28 FeV Rz. 56.

Die weitere Interessenabwägung fällt ebenfalls zu Ungunsten des Antragstellers aus.

In aller Regel trägt allein die voraussichtliche Rechtmäßigkeit einer auf die Inlandsungültigkeit einer Fahrerlaubnis gestützten Ordnungsverfügung die Aufrechterhaltung der sofortigen Vollziehung. Zwar kann die Inlandsungültigkeit einer Fahrerlaubnis die persönliche Lebensführung und damit die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten des Erlaubnisinhabers gravierend beeinflussen. Derartige Folgen, die im Einzelfall bis zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage reichen können, muss der Betroffene jedoch angesichts des von Verkehrsteilnehmern ohne Fahrerlaubnis ausgehenden besonderen Risikos für die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs und des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ableitbaren Auftrags zum Schutz vor erheblichen Gefahren für Leib und Leben hinnehmen.

Vgl. etwa Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW, Beschlüsse vom 1. Dezember 2016 - 16 B 654/16 -; vom 22. Oktober 2013 - 16 B 1124/13 -, juris Rn. 9,

Besondere Umstände, aufgrund derer vorliegend ausnahmsweise eine abweichende Bewertung veranlasst sein könnte, bestehen nicht.

Auch im Übrigen ist der Aussetzungsantrag erfolglos.

Die Anordnung, das polnische EU-Führerscheindokument binnen sechs Tagen nach Zustellung der Ordnungsverfügung vorzulegen, findet ihre Grundlage in § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 2 FeV, die Androhung eines Zwangsgeldes für den Fall der Nicht- oder nicht fristgerechten Vorlage des polnischen EU-Führerscheindokuments in § 55 Abs. 1, § 57, § 60 und § 63 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW). Die Höhe des angedrohten Zwangsgeldes von 500 Euro steht in einem angemessenen Verhältnis zu seinem Zweck, den Antragsteller zur Vorlage des Führerscheindokuments zu bewegen, vgl. § 58 Abs. 1 Satz 1 VwVG NRW.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

2. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 des Gerichtskostengesetzes (GKG).

In Verfahren wegen der Erteilung oder Entziehung einer Fahrerlaubnis (bzw. Aberkennung oder Inlandsungültigkeit einer EU-Fahrerlaubnis) setzt die Kammer den Streitwert in Hauptsacheverfahren einheitlich auf den Auffangwert von 5.000 Euro fest.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 4. Mai 2009 - 16 E 550/09 -, juris, Rn. 2, und vom 20. November 2012 - 16 A 2172/12 -, juris, Rn. 17.

Die Pflicht zur Abgabe des Führerscheindokuments und die dazu ergangene Androhung eines Zwangsgelds werden nicht streitwerterhöhend berücksichtigt. Der danach maßgebliche Wert von 5.000 Euro ist im vorliegenden Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes auf den hälftigen Betrag zu reduzieren.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.