FG Köln, Urteil vom 22.01.2020 - 3 K 1224/17
Fundstelle
openJur 2020, 5946
  • Rkr:
Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten, ob der Beklagte die von der Klägerin begehrte Änderung der Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1994 bis 2002 (Streitjahre) zu Recht unter Hinweis auf den Eintritt der Festsetzungsverjährung abgelehnt hat oder ob durch die Bekanntgabe des Grundlagenbescheids über die Schwerbehinderung der Klägerin im Jahr 2011 die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 Satz 1 AO eingetreten ist.

Die am ...1972 geborene, ledige Klägerin wurde für die Streitjahre durch den Beklagten zur Einkommensteuer veranlagt und zwar mit den Bescheiden vom 3.5.1996 für 1995, 2.5.1997 für 1996, 16.4.1998 für 1997, 30.3.1999 für 1998, 9.3.2000 für 1999, 7.9.2001 für 2000, 4.4.2002 für 2001 und 28.3.2003 für 2002. Für 1994 sind die Daten bereits gelöscht. Zugrunde lagen Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit zwischen rund 44.000 DM bzw. 22.000 € und im Jahr 1996 Lohnersatzleistungen von etwa 14.000 DM. Eine Behinderung im Sinne des § 33b EStG war von der Klägerin nicht erklärt worden. Alle Bescheide ergingen aus für den Streitfall nicht interessierenden Gründen nach § 165 Abs. 1 AO vorläufig und wegen der übrigen Besteuerungsgrundlagen endgültig. Sie blieben unangefochten.

Am 4.12.2009 beantragte die Klägerin bei der Stadt A die Feststellung einer Schwerbehinderung. Dieser stellte mit Bescheid vom 12.3.2010 gestützt auf § 69 SGB IX fest, dass bei der Klägerin ab Antragseingang der Grad der Behinderung (GdB) 30 betrage und eine dauernde Einbuße der körperlichen Beweglichkeit vorliege. Durch den Bescheid stellte die Stadt A in analoger Anwendung von § 6 Abs. 1 Satz 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung (SchwbAwV) ferner fest, dass bei der Klägerin bereits im Zeitraum vom 1.12.2006 bis 3.12.2009 der GdB 30 betragen habe. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Widerspruch ein.

Den Bescheid der Stadt A vom 12.3.2010 übersandte die Klägerin an den Beklagten, der daraufhin am 19.4.2010 bzw. 2.9.2010 die Einkommensteuerbescheide für 2006 bis 2009 gemäß § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO änderte und zugunsten der Klägerin jeweils die für den GdB von 30 vorgesehenen Behinderten-Pauschbeträge nach § 33b EStG berücksichtigte.

Nach einer erneuten ärztlichen Untersuchung der Klägerin erließ die Stadt A am 27.1.2011 einen Abhilfebescheid, durch den er feststellte, dass der GdB ab 4.12.2009 70 betrage und die Klägerin die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G und B erfülle. Ihr stehe ein Schwerbehindertenausweis zu, durch den sie für den Zeitraum vom 1.12.2006 bis 3.12.2009 den GdB 50 und das Merkzeichen G nachweisen könne. Hierauf stellte die Klägerin unter dem 26.2.2011 einen weitergehenden Antrag. Unter Bezugnahme darauf und als ausdrückliche "Ergänzung des Bescheids vom 27.1.2011" erteilte die Stadt A der Klägerin unter dem 29.4.2011 eine Bescheinigung gemäß § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV, wonach der GdB 50 bei der Klägerin bereits ab 1.3.1994 vorgelegen hat. Ihren Widerspruch hielt die Klägerin gleichwohl aufrecht.

Die Klägerin behauptet, sie habe die Bescheinigung vom 29.4.2011 "Mitte Mai 2011" an den Beklagten gesandt. Dieser hat seinen Aktenbestand überprüft, konnte aber den Eingang der Bescheinigung nicht bestätigen. Das Gericht hat von der Bescheinigung erst durch deren Vorlage im Klageverfahren erfahren.

Am 6.11.2011 wies die Bezirksregierung B den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid der Stadt A vom 12.3.2010 unter Einbeziehung des Abhilfebescheids vom 27.1.2011 zurück. Die Klägerin hat darauf Klage beim Sozialgericht A erhoben. Dort machte die Stadt A unter dem 10.12.2012 das Angebot, ab 1.4.2012 den GdB mit 80 und ab 1.11.2012 mit 100 unter Einschluss des Merkzeichens "aG" festzustellen, wenn die Klägerin den Rechtsstreit damit als erledigt ansehe. Dem stimmte die Klägerin am 15.4.2013 zu.

Unter dem 16.4.2013 stellte die Klägerin beim Beklagten einen Antrag auf Änderung der Steuerbescheide ab 1994. Sie führte aus, bei ihr sei rückwirkend ab diesem Jahr eine Schwerbehinderung festgestellt worden. Aktuell sei damit allerdings noch das Sozialgericht beschäftigt. Den Abschluss des Klageverfahrens erwarte sie in den kommenden Wochen. Der Beklagte möge ihr mitteilen, wie weit rückwirkend die Steuerbescheide abgeändert werden könnten und welche Unterlagen er für diese Änderung benötige. Der Beklagte erwiderte mit Schreiben vom 22.5.2013, dass eine Änderung erst erfolgen könne, wenn das Rechtsbehelfsverfahren abgeschlossen und ein Schwerbehindertenausweis ausgestellt worden sei. Die Änderung der Einkommensteuerbescheide sei nur bis einschließlich 2009 möglich, da die Festsetzungsverjährung gemäß § 169 Abs. 2 Nr. 2 in Verbindung mit § 170 Abs. 1 AO bereits eingetreten sei. Am 26.5.2013 erwiderte die Klägerin, dass sie den Schwerbehindertenausweis weiterleiten werde, sobald er ihr vorliege. Der Beklagte möge aber wegen der Rückwirkung erneut prüfen, inwieweit die Regelung in § 175 AO Anwendung finden könne, da es sich bei dem Schwerbehindertenausweis um einen Grundlagenbescheid handele. Der Beklagte wiederholte unter dem 29.5.2013, dass eine endgültige Prüfung erst erfolge könne, wenn der Behindertenausweis vorliege. Auch hinsichtlich der Berichtigung der bereits bestandskräftigen Steuerbescheide könne erst dann eine weitere Stellungnahme erfolgen.

Am 26.6.2013 erließ die Stadt A den entsprechend seinem Angebot geänderten Bescheid, in dem er auch die bereits getroffene Feststellung - 1.3.1994 bis 31.7.2002 GdB 50 - wiederholte. Infolge einer Verschlimmerung ihres aktuellen Krankheitszustands übersandte die Klägerin diesen Bescheid erst mit Schreiben vom 18.3.2014 zusammen mit den Einkommensteuererklärungen für die Jahre 2010 bis 2012 an den Beklagten. Sie bat um entsprechende Abänderung sämtlicher Bescheide ab 1994.

Der Beklagte änderte darauf am 4.4.2014 die Einkommensteuerbescheide 2003 bis 2005 sowie die bereits geänderten Einkommensteuerbescheide 2006 bis 2009 entsprechend den geänderten Feststellungen. Unter dem 12.5.2014 teilte der Beklagte der Klägerin mit, dass eine Änderung der Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre nicht möglich sei und dem Antrag nicht entsprochen werden könne. Er verwies wieder auf den Ablauf der Festsetzungsfrist. Die Ablaufhemmung gemäß § 171 Abs. 10 AO, wonach die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe eines Grundlagenbescheides ende, greife im Fall der Klägerin nicht. Hierzu verwies der Beklagte auf das BFH-Urteil vom 21.2.2013 V R 27/11, wonach Grundlagenbescheide ressortfremder Behörden eine Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 10 AO nur bewirken, wenn sie vor Ablauf der Festsetzungsfrist für die betroffene Steuer erlassen worden sind. Das Schreiben schließt mit einer Rechtsbehelfsbelehrung, wonach dieser "Bescheid [...] mit dem Einspruch angefochten werden" kann.

Die Klägerin antwortete mit Schreiben vom 5.6.2014 und verwies auf den Hinweis 33b EStH 2010. Danach komme es nur darauf an, dass die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Pauschbeträge durch einen Grundlagenbescheid festgestellt worden seien. Dann sei eine Änderung früherer Steuerfestsetzungen hinsichtlich der Anwendung des § 33b EStG nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO unabhängig davon vorzunehmen, ob ein Antrag im Sinne des § 33b Abs. 1 EStG für den Veranlagungszeitraum dem Grunde nach bereits gestellt worden sei. Die Änderung sei für alle Veranlagungszeiträume vorzunehmen, auf die sich der Grundlagenbescheid erstrecke. Hätte die Stadt A über ihren Antrag vom 4.12.2009 schon damals richtig entschieden und den GdB ab 1994 auf 50% festgestellt, wäre eine rückwirkende Änderung der Steuerbescheide auch für die Streitjahre vollumfänglich möglich gewesen. Da die Feststellung der Stadt A aber fehlerhaft gewesen sei, habe sie, die Klägerin, erst Widerspruch und dann Klage erheben müssen, um zu einer zutreffenden Feststellung zu kommen. Diese Tatsache müsse eine rückwirkende Abänderung der Steuerbescheide nach 2010 geltendem Recht möglich machen.

Der vom BFH durch Urteil vom 21.2.2013 entschiedene Fall sei mit ihrem nicht vergleichbar. Es gehe bei ihr um die Feststellung einer nicht disponiblen Schwerbehinderung, mit der erhebliche körperliche Beeinträchtigungen einhergingen. Diese Feststellung sei - anders als die vom BFH entschiedene Umsatzsteuerbefreiung - keinem Wahlrecht zugänglich und somit bereits aufgrund ihrer Zwangsläufigkeit und Unabänderbarkeit anders zu beurteilen. Die Schwerbehinderteneigenschaft entstehe unmittelbar kraft Gesetzes mit dem Eintritt einer Behinderung mit einem Grad von mindestens 50. Auch das BMF-Schreiben vom 31.1.2014 folge dem BFH nicht.

Die Klägerin führte schließlich aus, sie habe zu Beginn ihrer Erkrankung in 1994 - im Alter von 22 Jahren - nichts von der Möglichkeit gewusst, hierfür eine Behinderung feststellen lassen zu können. Davon habe sie erst nach einer erneuten deutlichen Verschlechterung ihrer Krankheit erfahren.

Der Beklagte legte das Schreiben vom 5.6.2014 als Einspruch gegen den Bescheid vom 12.5.2014 aus. Das Verfahren brachte er wegen der gegen das Urteil des BFH vom 21.2.2013 eingelegten Verfassungsbeschwerde (1 BvR 1787/13) und weiteren Revisionsverfahren wegen Festsetzungsverjährung bei ressortfremden Grundlagenbescheiden (V R 40/14 und XI R 6/14) zum Ruhen. Nachdem das BVerfG die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen hatte (Beschluss vom 16.8.2015) und der BFH in den weiteren Revisionsverfahren bei seiner Rechtsauffassung geblieben war (BFH, Urteil vom 20.4.2016 XI R 6/14 und Beschluss vom 22.9.2016 V R 40/14), nahm der Beklagte die Bearbeitung des Einspruchsverfahrens wieder auf und gab der Klägerin Gelegenheit zur Stellungnahme. Da sie den Einspruch aufrechterhielt, wurde er vom Beklagten am 6.4.2017 als unbegründet zurückgewiesen.

Der Beklagte blieb bei seiner Auffassung, die Festsetzungsfrist sei abgelaufen und § 171 Abs. 10 Satz 1 AO nicht anwendbar. Hierzu verwies er auf die zwischenzeitlich in Kraft getretene Ergänzung in § 171 Abs. 10 Satz 3 AO (Gesetz vom 18.7.2016, BGBl I S. 1679). Soweit die Festsetzungsfrist abgelaufen gewesen sei, müsse es bei der Vertrauensschutzregelung des BMF-Schreibens vom 31.1.2014 bleiben. Auf H 33b EStH 2010 könne sich die Klägerin nicht berufen, weil sie den Nachweis, dass sie bereits seit 1994 den GdB 50 gehabt habe, erst nach Ergehen der Vertrauensschutzregelung vorgelegt habe. Sie habe diesen Zeitpunkt selbst bestimmen können. Daher müsse sie gelten lassen, dass durch die verzögerte Abgabe eine geänderte und für sie ungünstigere Verwaltungsauffassung Anwendung finde. Demnach sei die Tatsache, dass die Stadt A in 2010 zunächst einen unrichtigen Bescheid erlassen habe, nicht ursächlich dafür, dass die Steuerbescheide der Streitjahre nach den Vorschriften der AO nicht mehr änderbar seien. Die Klägerin lasse ferner außer Betracht, dass der BFH an der Auffassung aus dem Urteil vom 21.2.2013 V R 27/11 auch in den späteren Verfahren XI R 6/14 und V R 40/14 festgehalten habe.

Mit der Klage verfolgt die Klägerin die Änderung der Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre weiter.

Sie bezweifelt unverändert, ob es zutreffend sei, die Rechtsgrundsätze aus dem BFH-Urteil auf den vorliegenden Fall zu übertragen. Als Schwerbehinderte sei sie in besonderer Weise schutzbedürftig.

Der Beklagte habe nicht beachtet, dass der Antrag auf Änderung der Steuerbescheide für die Streitjahre erstmals unter dem 16.4.2013 gestellt worden sei. Dies sei vor Inkrafttreten des BMF-Schreibens gewesen und damit zu einem Zeitpunkt, an dem die Änderung der Steuerbescheide nach H 33b EStH vollumfänglich möglich gewesen sei. Der Beklagte habe sie auch falsch informiert, was die Anforderungen an die Bearbeitung des ersten Antrages betreffe. Von Juni 2013 bis März 2014 sei sie so krank gewesen, dass sie sich erst am 18.3.2014 wieder mit der Sache habe beschäftigen können. Es müsse jedenfalls die Rechtslage vor Inkrafttreten des BFH-Urteils vom 21.2.2013 herangezogen werden.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 12.5.2014 und die Einspruchsentscheidung vom 6.4.2017 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1994 bis 2002 zu ändern und die Einkommensteuern jeweils auf den Betrag festzusetzen, der sich ergibt, wenn für die Jahre 1994 bis 2001 jeweils 1.110 DM und für 2002 570 € Behinderten-Pauschbetrag sowie für 2002 außerdem 3.000 km Fahrtkosten als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt werden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bezieht sich auf seine Einspruchsentscheidung. Der unter dem 16.4.2013 von der Klägerin gestellte Antrag sei nicht relevant. Sie sei seinerzeit darauf hingewiesen worden, dass Voraussetzung für die Gewährung der Steuervergünstigung die Vorlage des Schwerbehindertenausweises sei. Diesen habe sie aber erst im Jahr 2014 vorgelegt. Die körperlichen Einschränkungen der Klägerin und ihre besondere persönliche Betroffenheit könnten die Änderung der Einkommensteuerbescheide nicht rechtfertigen.

Gründe

A.

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Nach § 101 Satz 1 FGO kann das Gericht die von der Klägerin beantragte Verpflichtung des Beklagten, die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre zu ändern und die Behinderten-Pauschbeträge sowie die Fahrtkosten als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen, nur aussprechen, soweit die Ablehnung des Beklagten rechtswidrig und die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt ist. Das ist aber nicht der Fall. Der Beklagte hat es durch den Bescheid vom 12.5.2014 zu Recht abgelehnt, die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre zu ändern.

Rechtsgrundlage für die Entscheidung des Beklagten, die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre nicht zu ändern, ist § 169 Abs. 1 Satz 1 AO. Nach dieser gesetzlichen Bestimmung ist die Änderung einer Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist. Der Beklagte ist zutreffend davon ausgegangen, dass für die Einkommensteuern der Streitjahre die Festsetzungsfristen abgelaufen sind (I). An diesem Ergebnis ändert die nachträgliche Feststellung der Schwerbehinderung der Klägerin durch die Stadt A nichts (II). Aus der abweichenden Verwaltungspraxis der Finanzämter in der Vergangenheit kann die Klägerin heute nichts mehr herleiten (III).

I. Dass die Festsetzungsfristen für die Einkommensteuern der Streitjahre abgelaufen sind, ergibt sich aus den folgenden Vorschriften.

1. Nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO beginnt die Festsetzungsfrist, wenn eine Steuererklärung einzureichen ist, frühestens mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuererklärung eingereicht wird. Die Klägerin hatte für alle Streitjahre eine Steuererklärung einzureichen. Für die Jahre 1994 und 1995 ergab sich die gesetzliche Verpflichtung dazu aus § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe b Doppelbuchstabe aa EStDV (in der für diese Jahre geltenden Fassung). Der Gesamtbetrag der Einkünfte der Klägerin hatte in beiden Jahren die Grenze von 27.108 DM überschritten. 1996 hatte die Klägerin 14.624 DM dem Progressionsvorbehalt unterliegende Lohnersatzleistungen bezogen, so dass sie nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe b EStDV in Verbindung mit § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG eine Steuererklärung abzugeben hatte. Durch den Einkommensteuerbescheid für 1996 hat der Beklagte die Klägerin ausdrücklich aufgefordert, "ab dem Veranlagungszeitraum 1997" eine Einkommensteuererklärung abzugeben. Da diese Aufforderung - soweit ersichtlich - weder zurückgenommen noch widerrufen noch anderweitig aufgehoben wurde, ist sie für die restlichen Streitjahre - 1998 bis 2002 - wirksam geblieben (§ 124 Abs. 2 AO). Eine Aufforderung zur Abgabe einer Steuererklärung gemäß § 149 Abs. 1 Satz 1 AO begründet die Anwendung von § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO (BFH, Urteil vom 13.10.1998 VIII R 35/95, BFH/NV 1999, 445).

2. Die Klägerin hat ihre Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre stets im ersten auf den jeweiligen Veranlagungszeitraum folgenden Jahr abgegeben. Die Festsetzungsfrist hat daher gemäß § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO jeweils mit Ablauf des Folgejahres begonnen, also für das älteste Streitjahr, die Einkommensteuer 1994, am 31.12.1995 und für das jüngste Streitjahr, die Einkommensteuer 2002, am 31.12.2003.

3. Da die Festsetzungsfrist für die Einkommensteuer vier Jahre beträgt (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO), sind die Festsetzungsfristen für die Streitjahre nach den vorgenannten Bestimmungen zwischen dem 31.12.1999 (für 1994) und dem 31.12.2007 (für 2002) sukzessiv abgelaufen.

4. Wird vor Ablauf der Festsetzungsfrist außerhalb eines Einspruchs- oder Klageverfahrens ein Antrag auf Änderung einer Steuerfestsetzung gestellt, läuft die Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 3 AO insoweit nicht ab, bevor über den Antrag unanfechtbar entschieden worden ist. Vor Ablauf der genannten Stichtage - 31.12.1999 bis 31.12.2007 - hat die Klägerin beim Beklagten keinen Antrag auf Änderung der Steuerfestsetzungen für die Streitjahre gestellt. Nach Aktenlage hat sie erstmals mit ihrem Schreiben vom 16.4.2013 beim Beklagten beantragt, die Steuerbescheide ab 1994 abzuändern. Für die Festsetzungsfrist war dieser Antrag - für sich allein betrachtet - wirkungslos.

II. Die Regelung in § 171 Abs. 10 Satz 1 AO über das Eintreten einer Ablaufhemmung durch die Bekanntgabe eines Grundlagenbescheids ist im Streitfall durch die Bescheinigung der Stadt A vom 29.4.2011 zwar tatbestandlich erfüllt (1). Die Rechtsfolge von § 171 Abs. 10 Satz 1 AO wird aber durch die anderslautende Regelung in § 171 Abs. 10 Satz 3 AO verdrängt (2). Diese ist bereits auf den Streitfall anwendbar (3).

1. § 171 Abs. 10 Satz 1 AO lautet wie folgt: Soweit für die Festsetzung einer Steuer ein Feststellungsbescheid, ein Steuermessbescheid oder ein anderer Verwaltungsakt bindend ist (Grundlagenbescheid), endet die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheids. Die Klägerin weist zu Recht darauf hin, dass alle Voraussetzungen dieser Vorschrift für das Eintreten einer Ablaufhemmung in ihrem Fall vorliegen.

a) Die Bescheinigung der Stadt A vom 29.4.2011 zum Nachweis, dass bei ihr bereits ab 1.3.1994 ein GdB 50 vorgelegen hat, ist ein Grundlagenbescheid im Sinne der Definition in § 171 Abs. 10 Satz 1 AO. Sie ist ein "anderer Verwaltungsakt", der für die Festsetzung der Einkommensteuern der Klägerin für die Streitjahre bindend ist, soweit es um die Höhe der Behinderten-Pauschbeträge nach § 33b Abs. 3 Satz 2 EStG geht. Das ergibt sich aus § 33b Abs. 7 EStG in Verbindung mit § 65 Abs. 1 Nr. 1 EStDV in der Fassung von Art. 30 SGB IX vom 19.6.2001 (BGBl I S. 1046). Danach hat der Steuerpflichtige den Nachweis einer Behinderung, deren Grad auf mindestens 50 festgestellt ist, durch Vorlage eines Ausweises nach dem SGB IX zu erbringen. Die von der Stadt A ausgestellte Bescheinigung vom 29.4.2011 ist ein solcher Ausweis. Denn Rechtsgrundlage für den in dieser Bescheinigung zitierten § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV ist § 70 SGB IX (vgl. Art. 56 Nr. 9 Buchstabe a Doppelbuchstabe bb des Gesetzes vom 19.6.2001 BGBl I S. 1046). Ist auf Antrag des schwerbehinderten Menschen nach Glaubhaftmachung eines besonderen Interesses festgestellt worden, dass die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch oder ein anderer Grad der Behinderung bereits zu einem früheren Zeitpunkt als dem Tag des Eingangs des Antrags vorgelegen hat, ist nach § 6 Abs. 1 Satz 2 SchwbAwV das Datum einzutragen, von dem ab die jeweiligen Voraussetzungen mit dem Ausweis nachgewiesen werden können. In der Sache beruht die Bindungswirkung im Sinne des § 171 Abs. 10 Satz 1 AO auf der Tatsache, dass keine spezifisch einkommensteuerrechtlichen, mit § 33b EStG zusammenhängenden Fragen übrig bleiben, die noch der Prüfung der Finanzbehörden vorbehalten wären (vgl. BFH, Urteile vom 13.12.1985 III R 204/81, BStBl II 1986, 245, vom 22.2.1991 III R 35/87, BStBl II 1991, 717 und Beschluss vom 27.5.1998 III B 22/98, BFH/NV 1998, 1474).

Hinsichtlich der von der Klägerin für 2002 zusätzlich als außergewöhnliche Belastung begehrten pauschalen Kfz-Kosten von 0,30 € für 3.000 km pro Jahr hat die Bescheinigung vom 29.4.2011 keine Bedeutung. Dieser Abzug steht der Klägerin ohnehin nicht zu. Ihn können nur Behinderte geltend machen, deren GdB mindestens entweder 80 beträgt oder denen zusätzlich zu dem GdB von 70 das Merkzeichen G zuerkannt wurde (vgl. BMF-Schreiben vom 29.4.1996, BStBl I 1996, 446, vom 12.4.2001, BStBl I 2001, 262 und vom 21.11.2001, BStBl I 2001, 868, Loschelder in Schmidt, EStG, 38. Auflage 2019, § 33 Rn. 61). Diese Voraussetzungen haben bei der Klägerin auch im letzten Streitjahr 2002 noch nicht vorgelegen.

b) Zum Tatbestand der Ablaufhemmung von § 171 Abs. 10 Satz 1 AO gehört ferner die Bekanntgabe des Grundlagenbescheids. Bei ressortfremden Grundlagenbescheiden sind die Vorschriften über die Bekanntgabe nach dem dafür einschlägigen Gesetz maßgebend. Für Verwaltungsakte im Sozialverwaltungsverfahren gilt § 37 SGB X, der weitgehend mit § 122 AO übereinstimmt. Das Schreiben, mit dem die Stadt A die den Bescheid vom 27.1.2011 ergänzende Feststellung GdB 50 ab 1.3.1994 übersandt hat, trägt das Datum 29.4.2011 (Freitag) und wurde der Klägerin nach Aktenlage durch die Post übermittelt. Das Gericht geht davon aus, dass dies am selben Tag geschehen ist. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X gilt der Verwaltungsakt dann am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post, mithin am Montag, dem 2.5.2011, als bekannt gegeben.

c) Rechtsfolge von § 171 Abs. 10 Satz 1 AO ist, dass die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheids endet. Diese sog. Ablaufhemmung tritt auch und gerade dann ein, wenn die Festsetzungsfrist wie im Streitfall nach den allgemeinen Regeln (§§ 170 Abs. 1, 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO) längst abgelaufen ist (vgl. BFH, Urteile vom 12.8.1987 II R 202/84, BStBl II 1988, 318 und vom 27.1.2016 X R 53/14, BFH/NV 2016, 889).

Die Frist von zwei Jahren nach § 171 Abs. 10 Satz 1 AO nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheids endete im Streitfall am Donnerstag, dem 2.5.2013. Bereits am 16.4.2013 hat die Klägerin nachweislich die Änderung der Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre beim Beklagten beantragt. Wenn § 171 Abs. 10 Satz 1 AO eingreifen würde, bewirkte § 171 Abs. 3 AO sodann eine weitere Ablaufhemmung der Festsetzungsfristen, bis über den Antrag der Klägerin unanfechtbar entschieden worden ist.

2. Die Ablaufhemmung aus § 171 Abs. 10 Satz 1 AO tritt im Streitfall aber nicht ein. Das ergibt sich aus § 171 Abs. 10 Satz 3 AO (in der Fassung von Art. 1 Nr. 33 Buchstabe b des Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsgrundverfahrens vom 18.7.2016, BGBl I S. 1679). Dieser bestimmt, dass § 171 Abs. 10 Satz 1 AO für einen Grundlagenbescheid, auf den § 181 AO nicht anzuwenden ist, nur gilt, sofern dieser Grundlagenbescheid vor Ablauf der für den Folgebescheid geltenden Festsetzungsfrist bei der zuständigen Behörde beantragt worden ist. Diese zusätzliche Voraussetzung für die Ablaufhemmung ist hier nicht erfüllt.

a) Die Bescheinigung der Stadt A vom 29.4.2011 ist - wie bereits ausgeführt - ein Grundlagenbescheid. Auf diesen ist § 181 AO nicht anzuwenden. Denn § 181 AO bezieht sich nur auf die Fälle, in denen eine gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen durch Erlass eines Feststellungsbescheid in der AO (z.B. in § 180 Abs. 1 und 2) oder sonst in den Steuergesetzen (§ 179 Abs. 1 AO, vgl. dazu die Aufzählung von Ratschow in Klein, AO, 14. Auflage 2018, § 179 Rn. 4) ausdrücklich angeordnet worden ist. Es handelt sich dabei um ein eigenes Verwaltungsverfahren, das ausschließlich von Finanzbehörden durchgeführt wird (vgl. z.B. § 18 AO). Für die Behinderten-Pauschbeträge nach § 33b Abs. 3 EStG ist die Durchführung einer gesonderten Feststellung durch Feststellungsbescheid einer Finanzbehörde weder in der AO noch in den Steuergesetzen vorgeschrieben.

b) § 171 Abs. 10 Satz 3 AO schränkt mit der Formulierung "Die Sätze 1 und 2 gelten nur" unter anderem die Rechtsfolge aus § 171 Abs. 10 Satz 1 AO ein. Dass die Festsetzungsfrist nicht vor Ablauf von zwei Jahren nach Bekanntgabe des Grundlagenbescheid endet, macht Satz 3 von der zusätzlichen Voraussetzung abhängig, dass der Grundlagenbescheid vor Ablauf der für den Folgebescheid geltenden Festsetzungsfrist bei der zuständigen Behörde beantragt worden ist.

Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Wie bereits dargestellt, sind die Festsetzungsfristen für Streitjahre zwischen dem 31.12.1999 und dem 31.12.2007 abgelaufen. Vor Ablauf dieser Fristen hatte die Klägerin bei der Stadt A noch keinen Antrag auf Feststellung ihrer Schwerbehinderung gestellt. In der für die Streitjahre relevanten Bescheinigung vom 29.4.2011 bezieht sich die Stadt A auf den Antrag der Klägerin vom 26.2.2011. Selbst wenn die Klägerin schon in ihrem ersten Antrag bei der Stadt A vom 4.12.2009 begehrt hätte, die Schwerbehinderung zurück bis zum 1.3.1994 festzustellen, würde das die Voraussetzung aus § 171 Abs. 10 Satz 3 AO nicht erfüllen.

c) Die Anwendung von § 171 Abs. 10 Satz 3 AO bewirkt im Streitfall mithin den Ausschluss der der Klägerin günstigen Rechtsfolge aus § 171 Abs. 10 Satz 1 AO.

3. § 171 Abs. 10 Satz 3 AO muss nach Auffassung des Gerichts auf den Streitfall angewendet werden. Der Umstand, dass es um die Festsetzung von Einkommensteuern für Jahre geht, während der die Vorschrift noch nicht existierte, steht dem nicht entgegen.

a) Den zeitlichen Anwendungsbereich von Vorschriften der AO regelt Art. 97 des Einführungsgesetzes zur Abgabenordnung (EGAO) vom 14.12.1976 (zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 21.12.2019, BGBl. I S. 2875). § 171 Abs. 10 Satz 3 AO stammt - wie bereits erwähnt - aus dem Gesetz zur Modernisierung des Besteuerungsgrundverfahrens vom 18.7.2016, BGBl I S. 1679, das gemäß seinem Art. 23 Abs. 1 Satz 1 am 1.1.2017 in Kraft getreten ist. Die durch dieses Gesetz geänderten oder eingefügten Vorschriften der Abgabenordnung sind nach Art. 97 § 1 Abs. 11 EGAO auf alle bei Inkrafttreten dieser Vorschriften - also am 1.1.2017 - anhängigen Verfahren anzuwenden, soweit nichts anderes bestimmt ist.

aa) § 171 Abs. 10 Satz 3 AO ist allerdings nur formal betrachtet eine neu in die AO eingefügte Vorschrift. Die Regelung hat im Wesentlichen denselben Text, der vor dem 18.7.2016 bereits in § 171 Abs. 10 als Satz 2 enthalten war. Sie ist im Kern nur an eine neue Stelle gesetzt worden. Dieser § 171 Abs. 10 Satz 2 AO ist durch Art. 1 Nr. 6 des Gesetzes zur Anpassung der Abgabenordnung an den Zollkodex der Union und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 22.12.2014 (BGBl I. S. 2417) in § 171 Abs. 10 AO eingefügt worden und gemäß dessen Art. 16 Abs. 1 am Tag nach der Verkündung, also am 31.12.2014 in Kraft getreten. Lediglich die Klarstellung, dass mit "der Festsetzungsfrist", deren Ablaufhemmung die Bekanntgabe des Grundlagenbescheids bewirkt, die Festsetzungsfrist des Folgebescheids gemeint war, enthielt der Text von § 171 Abs. 10 Satz 2 AO in der Fassung vom 22.12.2014 nicht. Die Worte "der für den Folgebescheid geltenden" (Festsetzungsfrist) wurden durch das Gesetz vom 18.7.2016 ergänzt. Die Regelung wurde insoweit "im Interesse der Rechtsklarheit präzisiert" (Bundestags-Drucksache 18/7457, S. 86).

bb) Für § 171 Abs. 10 Satz 2 AO und die anderen durch Art. 1 und 2 des Gesetzes vom 22.12.2014 (BGBl I. S. 2417) geänderten und ergänzten Vorschriften der AO fehlt es in Art. 97 § 1 EGAO an einem eigenen Absatz, dass sie auf alle bei Inkrafttreten dieser Vorschriften anhängigen Verfahren anzuwenden sind, soweit nichts anderes bestimmt ist. Auf Art. 97 § 1 Abs. 10 betreffend das Gesetz vom 18.7.2014 folgt sogleich der bereits erwähnte Art. 97 § 1 Abs. 11 über das Gesetz vom 18.7.2016 (BGBl. I S. 1679), durch das die Regelung aus § 171 Abs. 10 Satz 2 AO gleichsam in den Satz 3 verschoben wurde. Das Gericht hält dies für ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers und geht in Analogie zu den anderen Absätzen von Art. 97 § 1 EGAO davon aus, dass § 171 Abs. 10 Satz 2 AO in der Fassung des Gesetzes vom 22.12.2014 auf alle bei dessen Inkrafttreten - am 31.12.2014 - anhängigen Verfahren anzuwenden ist.

Mit "anhängigen Verfahren" im Sinne von Art. 97 § 1 EGAO sind noch nicht bestandskräftig abgeschlossene Verwaltungsverfahren gemeint. In einem finanzgerichtlichen Verfahren sind Änderungen auf dem Gebiet des Verwaltungsverfahrensrechts zu berücksichtigen, wenn die Verwaltung diese Vorschriften bei der von ihr zutreffenden Entscheidung zu beachten hatte (vgl. BFH, Urteile vom 12.11.1985 IX R 85/82, BStBl II 1986, 239, vom 21.2.1991 V R 25/87, BStBl II 1991, 496 und vom 24.3.2011 IV R 13/09, BFH/NV 2011, 1826). So ist auch der Streitfall gelagert.

Das Verfahren der Klägerin über die Änderung der Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre ist spätestens mit dem am 16.4.2013 beim Beklagten gestellten Antrag anhängig geworden. Durch den Ablehnungsbescheid vom 12.5.2014 ist die Anhängigkeit nicht entfallen, weil die Klägerin dem durch ihr Schreiben vom 5.6.2014 entgegen getreten ist, das der Beklagte zu Recht gemäß § 357 Abs. 1 Satz 3 AO als Einspruch ausgelegt hat. Die Einspruchsentscheidung ist erst am 6.4.2017 ergangen. In dem für § 171 Abs. 10 Satz 2 AO in der Fassung vom 22.12.2014 maßgebenden Zeitpunkt des Inkrafttretens - am 31.12.2014 - war die Vorschrift vom Beklagten anzuwenden und ist sie daher zugleich für die Überprüfung durch das Gericht maßgebend.

cc) An einer späteren Stelle wird der zeitliche Anwendungsbereich von § 171 Abs. 10 Satz 2 AO durch das Gesetz vom 22.12.2014 noch einmal eingeschränkt. Dessen Art. 3 Nr. 1 hat Art. 97 § 10, der speziell die Festsetzungsverjährung betrifft, um Abs. 12 ergänzt. Dieser lautet: § 171 Absatz 10 Satz 2 AO in der Fassung des Art. 1 des Gesetzes vom 22.12.2014 (BGBl. I S. 2417) gilt für alle am 31.12.2014 noch nicht abgelaufenen Festsetzungsfristen.

Im Streitfall liegt eben diese Konstellation vor. Wenn man § 171 Abs. 10 Satz 1 AO auf den Streitfall anwendet, kommt es - wie auf Seite 12 unter c dargestellt - durch § 171 Abs. 3 AO zu einer erneuten Ablaufhemmung mit der Folge, dass die Festsetzungsfristen für die Streitjahre am 31.12.2014 noch nicht abgelaufen sind. Das begründet über Art. 97 § 10 Abs. 12 AO die Anwendung von § 171 Abs. 10 Satz 2 AO in der Fassung vom 22.12.2014, dessen zusätzliche Voraussetzungen - Beantragung des Grundlagenbescheids vor Ablauf bei der zuständigen Behörde - nicht vorliegen und der die Anwendung von § 171 Abs. 10 Satz 1 AO ausschließt. Diese Regelung wirkt in § 171 Abs. 10 Satz 3 AO in der Fassung vom 18.7.2016 unverändert fort.

b) Der Ausschluss von § 171 Abs. 10 Satz 1 AO ist auch in der Sache gerechtfertigt. Grund für die Änderung des Gesetzes war das BFH-Urteil vom 21.2.2013 V R 27/11 (BStBl II 2013, 529). Im Gesetzentwurf der Bundesregierung, dem der Bundestag und der Bundesrat zugestimmt haben, heißt es (Bundestags-Drucksache 18/3017 S. 33):

Der neue Satz 2 in § 171 Absatz 10 AO soll bewirken, dass für alle Grundlagenbescheide, die nicht den Vorschriften der Feststellungsverjährung (§ 181 AO) unterliegen, grundsätzlich die Ablaufhemmung nach § 171 Absatz 10 Satz 1 AO gilt - allerdings nur, soweit der fragliche Grundlagenbescheid vor Ablauf der Festsetzungsfrist bei der zuständigen Behörde beantragt worden ist. Die Neuregelung schafft für alle Beteiligten - Steuerpflichtige wie Finanzverwaltung - Rechtssicherheit und macht die Anpassung des Folgebescheids vom Ablauf des jeweiligen Verwaltungsverfahrens unabhängig. [...] Für Grundlagenbescheide ressortfremder Behörden, die nicht dem Anwendungsbereich der §§ 179 ff. AO und damit keiner Verjährungsfrist unterliegen, hat der BFH hat in seinem Urteil vom 21. Februar 2013, V R 27/11, BStBl II S. 529, entschieden, dass sie nur dann eine Ablaufhemmung nach § 171 Absatz 10 AO bewirken, wenn sie vor Ablauf der Festsetzungsfrist für die betroffene Steuer erlassen worden sind. Er hat damit auf die Praxis verschiedener ressortfremder Behörden reagiert, die solche Grundlagenbescheide auch für sehr lange zurückliegende Zeiträume erlassen haben, obwohl bei Anwendbarkeit der Vorschriften über die Feststellungsverjährung der Erlass des Bescheids unzulässig gewesen wäre.

Hat der Gesetzgeber eine Entscheidung der Rechtsprechung übernommen, ist die Rechtsprechung daran gebunden (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) und kann sie nicht mehr - wie die Klägerin dies tut - in Frage stellen. Auch der BFH ist der Auffassung, dass die von ihm festgestellte Regelungslücke durch § 171 Abs. 10 Satz 2 AO in der Fassung des Gesetzes vom 22.12.2014 beseitigt wurde. Dass der BFH bisher nur über Umsatzsteuerbefreiungen und nicht über Behinderten-Pauschbeträge entschieden hat, tut nichts zur Sache. § 171 Abs. 10 Satz 2 AO betrifft steuerliches Verfahrensrecht.

c) Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der sich Art. 97 § 10 Abs. 12 EGAO ergebenden Rückwirkung hat das Gericht nicht (zweifelnd Perrar, in DStZ 2016, 828, 835 f.). Es könnte sich allenfalls um eine sog. unechte Rückwirkung handeln, die auch zu Ungunsten des Steuerpflichtigen nicht grundsätzlich unzulässig ist, sondern lediglich den Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragen muss (vgl. z. B. BVerfG, Urteil vom 10.4.2018 1 BvR 1236/11, BVerfGE 148, 217). Spätestens mit der Veröffentlichung des BFH-Urteil vom 21.2.2013 V R 27/11 am 31.7.2013 im BStBl II auf Seite 529 war für einen Vertrauensschutz in die uneingeschränkte Anwendung von § 171 Abs. 10 Satz 1 AO (in der Fassung des Gesetzes vom 20.12.1996, BGBl. I S. 2049) auf ressortfremde Grundlagenbescheide für - nach den allgemeinen Regeln - festsetzungsverjährte Besteuerungszeiträume kein Raum mehr.

III. Aus der früheren Verwaltungspraxis der Finanzämter kann die Klägerin nichts mehr für sich herleiten. Es kann daher dahinstehen, ob eine vom geltenden Recht abweichende Entscheidung im vorliegenden Verfahren überhaupt getroffen werden könnte.

1. Richtig ist, dass es in dem veröffentlichten Hinweis H 194 aus dem Einkommensteuerhandbuch (EStH) 1994 des BMF in der Fassung vom 1.4.1995 zu § 33b EStG hieß, dass Verwaltungsakte, die die Voraussetzungen der Pauschbeträge feststellen, Grundlagenbescheide im Sinne des § 171 Abs. 10 AO seien und eine Änderung früherer Steuerfestsetzungen hinsichtlich der Anwendung des § 33b EStG nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO für alle Kalenderjahre vorzunehmen sei, auf die sich der Grundlagenbescheid erstreckt. Ähnlich lauteten die Hinweise für die übrigen Streitjahre, einschließlich des H 194 EStH 2002 vom 1.3.2003.

Ausgehend von diesen Verwaltungsvorschriften war die der Klägerin auf ihr Schreiben vom 16.4.2013 erteilte Auskunft des Beklagten vom 22.5.2013, dass eine Änderung der Einkommensteuerbescheide wegen Eintritt der Festsetzungsverjährung nur bis einschließlich 2009 möglich sei, in diesem Punkt nicht zutreffend. Allerdings hat der Beklagte außerdem und in der Sache korrekt (§ 65 Abs. 1 Nr. 1 EStDV) geschrieben, dass die Änderung erst erfolgen könne, wenn ein Schwerbehindertenausweis ausgestellt worden sei. Die Bescheinigung der Stadt A vom 29.4.2011 lag dem Beklagten nach Aktenlage nicht vor. Den geänderten Bescheid der Stadt A vom 26.6.2013, der die Feststellung des GdB 50 ab 1.3.1994 zumindest wiederholt hat, hat die Klägerin erst am 18.3.2014 beim Beklagten eingereicht. Im Ergebnis hat die Klägerin durch das Schreiben des Beklagten vom 22.5.2013 keinen Rechtsnachteil erlitten.

2. Mit dem BFH-Urteil vom 21.2.2013 (V R 27/11, BStBl II 2013, 529) war den Verwaltungsanweisungen aus H 194 EStH 1994 bis 2002 der Boden entzogen. Das BMF hat mit Schreiben vom 31.1.2014 (BStBl I 2014, 159) auf der Grundlage von § 163 AO eine Vertrauensschutzregelung getroffen. Deren Voraussetzung, nämlich die Beantragung des Grundlagenbescheids bei der ressortfremden Behörde vor Ablauf der Festsetzungsfrist des Folgebescheids, erfüllte die Klägerin jedoch ebenso wenig wie § 171 Abs. 10 Satz 2 AO in der Fassung vom 22.12.1994.

3. Das Gericht glaubt der Klägerin, dass ihr in den Streitjahren noch nicht bewusst war, dass ihre Erkrankung eine Behinderung darstellt, die sich nach § 33b EStG auf die Einkommensteuer auswirkt. Die Einkommensteuererklärungen sind allerdings nach amtlich vorgeschriebene Vordrucken abzugeben (§ 150 Abs. 1 Satz 1 AO), in denen stets auch nach dem Vorliegen einer Behinderung gefragt wird. Die Angaben in den Steuererklärungen sind wahrheitsgemäß "nach bestem Wissen und Gewissen" zu machen (§ 150 Abs. 2 AO). Wenn die Klägerin die Frage nach einer Behinderung in den Erklärungen für die Streitjahre verneint hat, hatte der Beklagte keinen Grund, das anzuzweifeln.

B.

I. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

II. Für eine Zulassung der Revision (§ 115 Abs. 2 FGO) besteht kein Anlass. Das Gericht kann nicht erkennen, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts bzw. die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert.

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