BGH, Urteil vom 11.03.2020 - 2 StR 478/19
Fundstelle
openJur 2020, 5477
  • Rkr:
Tenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Fulda vom 17. Mai 2019 aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Wirtschaftsstrafkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

Gründe

Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Angeklagten wegen des Vorwurfs des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach § 266a StGB Anklage erhoben. Das Landgericht hat das Verfahren durch Urteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt. Hiergegen richtet sich die auf die Rüge formellen und materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

Dem angefochtenen Urteil liegt folgendes prozessuales Geschehen zugrunde:

1. Mit Anklageschrift vom 19. Oktober 2016 wird dem Angeklagten zur Last gelegt, ab Januar 2011 in M. und danach in B. H. ein Ge- werbe als Bodenleger betrieben, während dieser Zeit den für den Einzug der Beiträge zur Sozialversicherung zuständigen Stellen keine Arbeitnehmer gemeldet und entsprechend in 48 Fällen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung vorenthalten zu haben (§ 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB).

Der Angeklagte habe in der Anklage genannte, bulgarische Arbeiter angeworben, ihnen 1.000 € und später 1.400 € Monatslohn versprochen, sie nach ihrem Eintreffen in Deutschland beim Einwohnermeldeamt (zum Großteil unter seiner eigenen Adresse) angemeldet und sie dazu veranlasst, ein Gewerbe anzumelden. Den nicht der deutschen Sprache mächtigen Arbeitern sei die Bedeutung der Gewerbeanmeldung nicht bewusst gewesen. Sie hätten in der Folgezeit für den Angeklagten gearbeitet, der sie örtlich und zeitlich für die Aufträge seiner Firma eingeteilt sowie einen nach Arbeitsstunden berechneten Lohn gezahlt habe. Sie seien an seine Weisungen gebunden gewesen, seien nicht werbend aufgetreten, hätten über keinerlei geschäftliche Kontakte und zudem über kein Fahrzeug verfügt.

Die Gewerbeanmeldung sei lediglich zum Schein erfolgt, um die ansonsten fälligen Beiträge zur Sozialversicherung zu sparen. Auf diese Weise sei es für die Monate Februar 2011 bis einschließlich Dezember 2014 zu Beitragshinterziehungen von 148.287,35 € an Arbeitgeberanteilen und 141.685,46 € an Arbeitnehmeranteilen gekommen, die für jeden der 47 Monate in der Anklageschrift jeweils einzeln aufgeschlüsselt dargelegt werden.

2. Die Anklage wurde durch Beschluss des Landgerichts vom 7. Juni 2017 mit der Maßgabe zugelassen, dass lediglich 47 Handlungen im Rechtssinne vorliegen, und das Hauptverfahren eröffnet.

3. Das Landgericht hat das Verfahren in der Hauptverhandlung vom 17. Mai 2019 mit Urteil gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt und dies damit begründet, dass die Anklageschrift der gemäß § 200 Abs.1 Satz 1 StPO zu fordernden Umgrenzungsfunktion nicht gerecht werde. Weder aus dem konkreten Anklagesatz noch aus dem wesentlichen Ergebnis der Ermittlungen lasse sich entnehmen, welcher konkrete Sozialversicherungsträger jeweils von der angeklagten Beitragshinterziehung betroffen sein solle. Dies sei jedoch zwingende Voraussetzung einer Anklage wegen einer Straftat nach § 266a StGB. Die Angabe der jeweils zuständigen Sozialversicherungsträger sei hier erforderlich, weil die vorliegende Anklage auch hinsichtlich der erbrachten Arbeitsleistungen keinerlei zeitliche und betragsmäßige Zuordnung vornehme. Die Angaben zu den beschäftigten Arbeitnehmern enthielten teilweise nur Vornamen oder Bezeichnungen ihrer Gruppenzugehörigkeit, Angaben zum jeweiligen Einsatzort, zur Einsatzzeit und zum Umfang der jeweiligen Arbeitsstunden fehlten vollständig. Somit sei der Prozessgegenstand nicht hinreichend unverwechselbar gekennzeichnet, da es an einer Benennung der jeweils zuständigen Sozialversicherungsträger und die an diese monatlich abzuführenden Beiträge fehle. Es wäre daher eine nahezu beliebige Zuordnung der Arbeitnehmer zu den in der Anklageschrift aufgeführten einzelnen Monaten möglich, so dass eine Verteidigung für den Angeklagten kaum möglich sei.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Mit der vom Landgericht gegebenen Begründung kann das Verfahren nicht eingestellt werden. Die Anklage und der Eröffnungsbeschluss sind wirksam, weil sie die notwendigen Angaben zur Bestimmung des Prozessgegenstandes enthalten und damit ihrer Umgrenzungsfunktion genügen.

1. Eine Anklage ist nur dann unwirksam mit der Folge, dass das Verfahren wegen Fehlens einer Prozessvoraussetzung einzustellen ist, wenn etwaige Mängel ihre Umgrenzungsfunktion betreffen (vgl. u.a. BGH, Urteil vom 24. Januar 2012 - 1 StR 412/11, BGHSt 57, 88, 90 f. Rn. 12 mwN). Dies ist hier nicht der Fall.

a) Die Umgrenzungsfunktion der Anklage dient dazu, den Prozessgegenstand festzulegen, mit dem sich das Gericht auf Grund seiner Kognitionspflicht zu befassen hat. Sie erfordert neben der Bezeichnung des Angeschuldigten Angaben, welche die Tat als geschichtlichen Vorgang unverwechselbar kennzeichnen. Es darf nicht unklar bleiben, über welchen Sachverhalt das Gericht nach dem Willen der Staatsanwaltschaft urteilen soll (Senat, Urteil vom 2. März 2011 - 2 StR 524/10, BGHSt 56, 183, 186). Jede einzelne Tat muss sich als historisches Ereignis von anderen gleichartigen strafbaren Handlungen des Angeschuldigten unterscheiden lassen, damit sich die Reichweite des Strafklageverbrauchs und Fragen der Verfolgungsverjährung eindeutig beurteilen lassen (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 26. April 2017 - 2 StR 242/16, wistra 2018, 49). Dabei muss die Schilderung umso konkreter sein, je größer die allgemeine Möglichkeit ist, dass der Angeklagte verwechselbare weitere Straftaten gleicher Art verübt hat (vgl. u.a. BGH, Beschluss vom 8. August 1996 - 4 StR 344/96, BGHR StPO § 200 Abs. 1 Satz 1 Tat 20 mwN). Die Umstände, welche die gesetzlichen Merkmale der Straftat ausfüllen, gehören hingegen - wie sich schon aus dem Wortlaut des § 200 Abs. 1 Satz 1 StPO ergibt - nicht zur Bezeichnung der Tat (Senat, Urteil vom 2. März 2011, aaO). Wann die Tat in dem sonach umschriebenen Sinne hinreichend umgrenzt ist, kann nicht abstrakt, sondern nur nach Maßgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalls festgelegt werden (vgl. LR-StPO/ Stuckenberg, 27. Aufl., § 200 Rn. 18; MüKo-StPO/Wenske, § 200 Rn. 18 ff. jeweils mwN).

b) Für den hier maßgeblichen Bereich des Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt führt dies nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dazu, dass im Anklagesatz das relevante Verhalten und der Taterfolg im Sinne von § 266a StGB anzuführen sind, wobei es einer Berechnungsdarstellung der nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge dort nicht bedarf (BGH, Urteil vom 9. Januar 2018 - 1 StR 370/17, NJW 2018, 878, 879). Erforderlich sind im Einzelnen Angaben zur Arbeitgeberstellung des Angeklagten und damit zu seiner Zahlungspflicht. Weiter sind für den konkret zu bezeichnenden Tatzeitraum die jeweiligen Beitrags- und Beschäftigungsmonate zu benennen, für die trotz bestehender Pflicht Sozialversicherungsbeiträge nicht abgeführt wurden. Dabei sind für die relevanten Monate im Tatzeitraum auch die jeweils nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge, aufgeschlüsselt nach Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteilen, aufzuführen, wobei es nicht vonnöten ist, diese hinsichtlich der betreffenden Monate nach einzelnen Personen aufzuschlüsseln (BGH, Urteil vom 9. Januar 2018, aaO).

Zwar ist es mit Blick auf die Informationsfunktion der Anklageschrift regelmäßig angezeigt, im wesentlichen Ermittlungsergebnis (§ 200 Abs. 2 Satz 1 StPO; Nr. 112 RiStBV) die für eine nachvollziehbare Darstellung der Berechnung der Abgabenverkürzung erforderlichen Tatsachenfeststellungen sowie Berechnungen oder Schätzungen anzuführen. Auch erscheint es zweckmäßig, die Ausführungen bereits an den für das Gericht geltenden Maßstäben auszurichten. Fehlen derartige Angaben oder erweisen sie sich als ungenügend, kann dies für sich allein indes die Wirksamkeit der Anklage nicht in Frage stellen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Januar 2018, aaO mwN). Die Wirksamkeit der Anklage als Verfahrensvoraussetzung nicht berührende Mängel der Informationsfunktion sind gegebenenfalls im gerichtlichen Verfahren durch gerichtliche Hinweise in entsprechender Anwendung von § 265 StPO auszugleichen (Senat, Beschluss vom 26. April 2017 - 2 StR 242/16, wistra 2018, 49, 50).

2. Ausgehend hiervon fehlt es im vorliegenden Fall nicht an der in jeder Lage des Verfahrens zu beachtenden Verfahrensvoraussetzung einer wirksamen Anklageschrift und eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses.

a) Die Anklage vom 19. Oktober 2016 enthält die notwendigen Angaben zur Stellung des Angeklagten als Arbeitgeber und damit zu seiner Pflicht, der für den Einzug der Beiträge zuständigen Stelle über sozialversicherungsrechtlich erhebliche Tatsachen Mitteilung zu machen und entsprechende Zahlungen an diese vorzunehmen. Sie teilt auch den genauen Tatzeitraum mit und führt im Einzelnen die Beschäftigungsmonate sowie die jeweils nicht abgeführten Sozialversicherungsbeiträge auf, getrennt nach Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteilen. Angegeben sind darüber hinaus die - für eine Differenzierung hinreichend individuell - bezeichneten Arbeitnehmer sowie der für alle gleichermaßen zutreffende Umstand, dass sie als Scheinselbständige nicht bei der zuständigen Einzugsstelle für den Gesamtsozialversicherungsbeitrag gemeldet und für sie keine Abgaben geleistet worden waren. Ob die in der Anklage genannten Personen tatsächlich als Arbeitnehmer für den Angeklagten in dessen Betrieb tätig waren, ist eine Frage des Tatverdachts, nicht der Umgrenzungsfunktion.

b) Danach können Unklarheiten darüber, in welchem Umfang die Verpflichtungen des Angeklagten als Arbeitgeber während des angegebenen Zeitraums Gegenstand des Anklagevorwurfs sein sollen, nicht bestehen.

aa) Die Umgrenzungsfunktion der vorliegenden Anklage wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass Angaben zu der jeweiligen Einzugsstelle fehlen, der gegenüber Arbeitsentgelt vorenthalten und veruntreut worden sein soll. In Fällen der vorliegenden Art, in denen Scheinselbständige nicht bei einer Krankenkasse angemeldet worden sein sollen, lässt sich die jeweils zuständige Einzugsstelle im Sinne des § 266a Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 StGB aufgrund der Angaben zum Arbeitgeber und zu den jeweiligen Arbeitnehmern ohne Weiteres und eindeutig bestimmen, vgl. § 28i Abs. 1 Satz 1 SGB IV in Verbindung mit §§ 173 ff. SGB V; deren namentlicher Nennung im Anklagesatz bedurfte es deshalb nicht. Anderes kann auch nicht den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs entnommen werden, wonach eine Anklage ihrer Umgrenzungsfunktion dann genügen kann, wenn der Anklagesatz keine Angaben dazu enthält, welche konkreten Arbeitnehmer zu den jeweiligen Tatzeitpunkten gegenüber der - genannten - Einzugsstelle nicht oder nicht vollständig gemeldet worden sein sollen (vgl. BGH, Urteil vom 9. Januar 2018 - 1 StR 370/17, NJW 2018, 878, 880; Senat, Beschluss vom 26. April 2017 - 2 StR 242/16, wistra 2018, 49, 50). Maßgebend ist auch insoweit allein, dass die Angaben in der Anklage eine Abgrenzung zu anderen Taten ohne Weiteres zulassen.

bb) Unschädlich ist ferner, dass in der Anklageschrift die dort aufgeführten Arbeitnehmer nicht bestimmten Beitragsmonaten zugeordnet werden (vgl. Senat, Beschluss vom 26. April 2017 - 2 StR 242/16, wistra 2018, 49, 50; BGH, Urteil vom 9. Januar 2018 - 1 StR 370/17, NJW 2018, 878, 880). Es stellt die Identität der Taten nicht in Frage, dass Angaben zu den jeweils erbrachten Arbeitsleistungen der Arbeitnehmer fehlen und eine daran anschließende Berechnung vorenthaltener Sozialversicherungsbeiträge nicht vorgenommen wird (BGH, Urteil vom 9. Januar 2018 - 1 StR 370/17, NJW 2018, 878, 879 f.; krit. Lange, StV 2019, 1, 3). Einer Darstellung der Berechnung der in der Anklage gelisteten Beträge vorenthaltener Beiträge bedurfte es zur Wahrung der Umgrenzungsfunktion nicht; die für das tatrichterliche Urteil maßgeblichen Darstellungsanforderungen (vgl. insoweit BGH, Beschluss vom 20. April 2016 - 1 StR 1/16, NStZ 2017, 352, 353; Senat, Beschluss vom 8. Februar 2017 - 2 StR 375/16, NStZ-RR 2017, 213) gelten insoweit für den Anklagesatz im Rahmen der Umgrenzungsfunktion nicht (BGH, Urteil vom 9. Januar 2018 - 1 StR 370/17, NJW 2018, 878, 879).

cc) Die Anklage ist auch nicht deswegen unwirksam, weil sie (ebenso wie der Eröffnungsbeschluss) bei der vorgenommenen Bezifferung der dem Angeklagten zur Last gelegten Taten den Sachverhalt - offenkundig - unzutreffend konkurrenzrechtlich bewertet.

Hinsichtlich der Beitragsvorenthaltung gegenüber mehreren Einzugsstellen/Kassen ist regelmäßig von jeweils selbständigen Taten im Sinne des § 53 Abs. 1 StGB auszugehen; allein der Umstand, dass die Zahlungen zum selben Termin fällig werden und auf demselben Rechtsgrund beruhen, verbindet die Verletzung gegenüber unterschiedlichen Adressaten vorzunehmender Handlungspflichten nicht zu einer tateinheitlichen Handlung (BGH, Beschluss vom 30. Juli 2003 - 5 StR 221/03, BGHSt 48, 307, 314). Da die vorliegende Anklage indes zweifelsfrei die Nichtmeldung bzw. das Vorenthalten der Sozialversicherungsbeiträge hinsichtlich aller genannten Arbeitnehmer in allen Monaten des gesamten Tatzeitraums erfassen will, bleibt auch die Zahl der bei zutreffender rechtlicher Bewertung in Betracht kommenden Taten nicht im Ungewissen. Sie ergibt sich vielmehr aus der gesetzlichen Bestimmung und ist damit ohne Weiteres für den angeklagten Tatzeitraum bestimmbar. Auch insoweit können Zweifel über den Prozessgegenstand, mit dem sich das Gericht auf Grund seiner Kognitionspflicht zu befassen hat, oder über Fragen der Verjährung oder den Umfang des Strafklageverbrauchs nicht aufkommen.

Franke Eschelbach Zeng Meyberg Grube Vorinstanz:

Fulda, LG, 17.05.2019 - 27 Js 14725/14 2 KLs 5 Ss 314/