VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.10.2019 - 9 S 2643/19
Fundstelle
openJur 2020, 34557
  • Rkr:

Die Zwischenentscheidung in der Gestalt eines sog. "Hänge- oder Schiebebeschlusses" des Verwaltungsgerichts ist keine prozessleitende Verfügung im Sinne des § 146 Abs. 2 VwGO und kann deshalb mit der Beschwerde angefochten werden (wie VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 15.02.2019 - 1 S 188/19 -, juris, vom 26.09.2017 - 2 S 1916/17 -, VBlBW 2018, 166, und vom 18.12.2015 - 3 S 2424/15 -, juris; a.A. VGH Bad.-Württ., Beschlüsse vom 08.05.2018 - 10 S 396/18 -, VBlBW 2018, 404, und vom 15.03.2018 - 11 S 2094/17 -, VBlBW 2018, 403).

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 4. Oktober 2019 - 16 K 6681/19 - geändert.

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen Nr. 1 und 2 der Anordnung des Antragsgegners vom 27.09.2019 wird im Wege der Zwischenentscheidung bis zur endgültigen Entscheidung des Verwaltungsgerichts über den Antrag der Antragstellerin nach § 80 Abs. 5 VwGO wiederhergestellt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen eine lebensmittelrechtliche Verfügung des Antragsgegners vom 27.09.2019, mit der dieser unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ab sofort, jedoch spätestens zwei Werktage nach Zustellung der Verfügung das Inverkehrbringen des als Nahrungsergänzungsmittel deklarierten Produktes ... verboten und der Antragstellerin aufgegeben hat, die betroffenen Chargen zurückzurufen (Nr. 1) und die Endverbraucher innerhalb von 2 Werktagen nach Zustellung der Verfügung auf geeignete Weise über den Rückruf sowie den Grund der Rücknahme zu informieren (Nr. 2).

Am 04.10.2019 hat die Antragstellerin Widerspruch erhoben und beim Verwaltungsgericht Stuttgart die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO beantragt. Den weiteren Antrag auf Erlass einer Zwischenentscheidung hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 04.10.2019 abgelehnt. Gegen diesen Beschluss wendet sich die Antragstellerin mit der Beschwerde.

II.

Die Beschwerde der Antragstellerin hat Erfolg.

Dass der vorläufige Rechtsschutzantrag der Antragstellerin offensichtlich unzulässig oder unbegründet wäre, lässt sich nicht feststellen. Die zwischen den Beteiligten streitige, außerordentlich komplexe Frage, ob das streitgegenständliche Produkt gesundheitsschädlich im Sinne von Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) der Verordnung (EG) Nr. 178/2002 (Basis-VO) ist, wird in dem Gutachten der Landesuntersuchungsanstalt für das Gesundheits- und Veterinärwesen Sachsen vom 30.07.2019 einschließlich deren weiterer Stellungnahmen einerseits und in den von der Antragstellerin im Verfahren vorgelegten Gutachten bzw. gutachterlichen Stellungnahmen andererseits unterschiedlich beantwortet. Deshalb besteht kein Zweifel, dass der Antrag der Antragstellerin auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen Nr. 1 und 2 der Verfügung vom 27.09.2019 einer näheren Prüfung im (eigentlichen) vorläufigen Rechtsschutzverfahren bedarf. Mit Blick auf die sofortige Vollziehung der Verpflichtungen der Antragstellerin zum Rückruf des Produkts und zu der entsprechenden Information der Endverbraucher drohen ihr gravierende und irreparable Eingriffe in ihre Grundrechte (vgl. Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1, 19 Abs. 3 GG). Die Antragstellerin hat in nachvollziehbarer Weise dargetan, dass ihr Produkt mit Blick auf die Öffentlichkeitswirkung eines Rückrufs "am Markt faktisch ‚tot‘", also der weitere Vertrieb des Produkts grundsätzlich in Frage gestellt wäre. Ohne die Zwischenentscheidung würden unter Beeinträchtigung ihres Rechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) vollendete Tatsachen geschaffen.

Anders als das Verwaltungsgericht geht der Senat auch nicht davon aus, dass hier überwiegende Interessen dem Erlass einer Zwischenentscheidung in Form eines sog. "Hänge- oder Schiebebeschlusses" entgegenstehen. Dies gilt auch in Ansehung des hohen Rangs der mit der gegenständlichen Verfügung geschützten grundrechtlichen Belange der Konsumenten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. Nach Aktenlage ist die von der Landesuntersuchungsanstalt für das Gesundheits- und Veterinärwesen Sachsen vorgenommene Beurteilung der Gesundheitsschädlichkeit des Produkts von der Antragstellerin durch die Vorlage von mehreren aussagekräftigen, auch auf produktspezifische Besonderheiten abhebende Gutachten bzw. gutachterliche Stellungnahmen substantiiert in Frage gestellt worden. Auch hat die Behörde die Anordnung des Sofortvollzugs damit begründet, eine von dem Produkt ausgehende Gesundheitsgefahr könne (lediglich) "nicht sicher" ausgeschlossen werden (zu dem für die Annahme einer Gesundheitsschädlichkeit im Sinne des Art. 14 Abs. 2 Buchst. a) BasisVO maßgeblichen Begriff der Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher Auswirkungen vgl. aber Zipfel/Rathke, Lebensmittelrecht, Stand: März 2019, Art. 14 BasisVO Rn. 47). Vor diesem Hintergrund und insbesondere auch mit Blick darauf, dass die Geltungsdauer der Zwischenentscheidung auf die Zeitspanne bis zur instanzabschließenden Entscheidung des Verwaltungsgerichts im Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO begrenzt ist, fällt die Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerin aus.

3. Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da die durch das Verfahren auf Erlass einer Zwischenentscheidung entstehenden Kosten einschließlich der Kosten des Beschwerdeverfahrens Kosten des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO sind (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 26.09.2017, a.a.O.; OVG LSA, Beschluss vom 13.02.2019 - 2 O 3/19 -, juris, m.w.N.). Die Zwischenentscheidung ergeht damit nicht in einem gegenüber dem Eilverfahren selbständigen Nebenverfahren.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).