OLG Hamm, Beschluss vom 10.03.2020 - 3 Ws 66/20
Fundstelle
openJur 2020, 3986
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 100 StVK 3005/19

1. Im Gegensatz zu § 56 Abs. 1 StGB stellt die nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu treffende Prognoseentscheidung nicht auf die Erwartung ab, der Verurteilte werde ohne die Einwirkung weiteren Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen; maßgeblich ist vielmehr, ob die Haftentlassung verantwortet werden kann.

2. Entscheidend für die Prognose nach § 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist eine Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des erlittenen Strafvollzugs für das künftige Leben des Verurteilten in Freiheit einerseits und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit andererseits.

3. Je nach der Schwere der Straftaten, die von dem Verurteilten nach Erlangung der Freiheit im Falle eines Bewährungsbruchs zu erwarten sind, sind unterschiedliche Anforderungen an das Maß der Wahrscheinlichkeit für ein künftiges strafloses Leben zu stellen.

4. Bei einer Verurteilung wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Kokain) in nicht geringer Menge sind die durch einen möglichen Rückfall bedrohten Rechtsgüter - die Gesundheit des Einzelnen und der Bevölkerung im Ganzen sowie die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens in einer Weise, die dieses von sozialschädlichen Wirkungen des Umgangs mit Drogen freihält, mit den Aspekten des Jugendschutzes, des Schutzes vor Organisierter Kriminalität und der Gewährleistung der internationalen Zusammenarbeit bei der Suchtstoffkontrolle in besonderem Maße schutzwürdig und von hohem Gewicht; die Anforderungen an die anzustellende Sozialprognose sind deshalb erhöht.

5. Auch wenn es grundsätzlich unzulässig ist, die Ablehnung der bedingten Entlassung allein auf den ungeklärten ausländerrechtlichen Status des Verurteilten zu stützen, ist höchstrichterlich anerkannt, dass die Frage, ob sich ein Ausländer nach der Strafrestaussetzung weiterhin legal im Bundesgebiet aufhalten darf, für die Aussetzungsentscheidung nach § 57 StGB von Bedeutung sein kann; dies gilt hier insbesondere auch deshalb, weil sich der Verurteilte - wie im Übrigen seine gesamte Familie - seinen bisherigen Aufenthaltsstatus unter Vorspiegelung einer falschen Identität sowie einer falschen Nationalität erschlichen hat und sein derzeit ungeklärter ausländerrechtliche Status deswegen - im Gegensatz zu den Fällen, in denen dies ausschließlich eine Folge der ausländerrechtlichen Regelungen darstellt - von ihm zu vertreten ist.

Tenor

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Die Vollstreckung des Strafrests aus dem Urteil des Landgerichts Duisburg vom 27. November 2017 (Az.: 31 KLs - 121 Js 8/16 - 16/17) wird nicht zur Bewährung ausgesetzt.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der Verurteilte.

Gründe

I.

Mit Urteil vom 27. November 2017, rechtskräftig seit dem 17. Oktober 2018, sprach das Landgericht Duisburg den Verurteilten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge schuldig und verhängte gegen ihn eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten. Der Verurteilung lag der Handel mit einem Kilogramm Kokain (mit einem mindestens 30-prozentigem Wirkstoffgehalt, mithin mindestens 300 Gramm Kokainhydrochlorid) im August/September 2016 zugrunde. Das gleichzeitig gegen den Verurteilten geführte Verfahren wegen Verstoßes gegen § 95 Abs. 2 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz hat die Kammer wegen Verfolgungsverjährung eingestellt (UA Seite 76). Dem lag zugrunde, dass der Verurteilte im Juni 2002 in das Bundesgebiet einreiste und hierbei wissentlich der Wahrheit zuwider angab, sein Name sei D, er stamme aus dem Irak und sei am 00.00.1982 in Sinon/Irak geboren.

Der Verurteilte hat sich am 4. März 2019 zur Vollstreckung der o.g. Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne gestellt. Zwei Drittel der Strafe sind nach Anrechnung von 434 Tagen Untersuchungshaft seit dem 6. Dezember 2019 vollstreckt; das Strafzeitende ist auf den 26. November 2020 notiert.

In ihrer Stellungnahme vom 14. August 2019 hat die Leiterin der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne eine vorzeitige Entlassung nicht befürwortet. Die Staatsanwaltschaft Duisburg hat einer bedingten Entlassung mit Verfügung vom 3. September 2019 widersprochen.

Mit Beschluss vom 25. Oktober 2019 hat die Strafvollstreckungskammer den Sachverständigen A mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt, das dieser unter dem 5. November 2019 erstellt hat.

Mit Beschluss vom 3. Januar 2020 hat die 19. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bielefeld die Vollstreckung des Strafrestes aus dem im Tenor genannten Urteil zur Bewährung ausgesetzt. Wegen der Einzelheiten wird auf die Gründe dieser Entscheidung Bezug genommen.

Hiergegen richtet sich die näher begründete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Duisburg vom 8. Januar 2020.

Die Generalstaatsanwaltschaft, die der sofortigen Beschwerde beigetreten ist, beantragt, den Beschluss des Landgerichts Bielefeld vom 3. Januar 2020 aufzuheben und die bedingte Entlassung abzulehnen.

II.

Die gemäß § 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und insgesamt zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Duisburg ist begründet.

1) Die Strafrestaussetzung zur Bewährung ist abzulehnen, da dem Verurteilten keine positive Legalprognose gestellt werden kann.

Die Reststrafaussetzung nach Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe ist kein Automatismus, sondern erfolgt nur dann, wenn - neben dem Vorliegen formaler Voraussetzungen - die bedingte Entlassung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann, § 57 Abs. 1 StGB. Die nach § 57 Abs. 1 StGB zu treffende Prognoseentscheidung stellt im Gegensatz zu einer Prognoseentscheidung gemäß § 56 Abs. 1 StGB nicht auf die Erwartung ab, der Verurteilte werde ohne die Einwirkung - weiteren - Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen. Maßgeblich ist insoweit vielmehr, ob eine Haftentlassung verantwortet werden kann, wobei eine Abwägung zwischen den zu erwartenden Wirkungen des bereits erlittenen Vollzugs und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit erforderlich ist. Je nach Schwere möglicher neuer Taten sind daher unterschiedliche Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit der Legalbewährung zu stellen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2003 - 1 AR 266/03 -, NStZ-RR 2003, 200, 201; Fischer, StGB, 67. Auflage, § 57, Rdnr. 12). Je gewichtiger die Rechtsgüter sind, die bei einem möglichen Rückfall verletzt oder gefährdet würden, umso höher sind die Anforderungen an eine positive Legalprognose im Sinne des § 57 Abs. 1 StGB anzusetzen (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Oktober 2011 - StB 14/11, NStZ-RR 2012, 8; Fischer, StGB, 67. Auflage, § 57, Rdnr. 12).

Unter Zugrundelegung der o.g. Erwägungen sowie nach einer Gesamtwürdigung der übrigen für die Prognoseentscheidung in § 57 Abs. 1 Satz 2 StGB genannten Kriterien kann dem Verurteilten keine positive Legalprognose in diesem Sinne gestellt werden, zumal verbleibende Zweifel an einer hinreichend günstigen Prognose zu Lasten des Verurteilten gehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. April 2009 - 2 BvR 2009/08, NJW 2009, 1941, 1942).

Der Verurteilte ist wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Kokain) in nicht geringer Menge verurteilt worden. Die durch einen möglichen Rückfall bedrohten Rechtsgüter - die Gesundheit des Einzelnen und der Bevölkerung im Ganzen sowie die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens in einer Weise, die dieses von sozialschädlichen Wirkungen des Umgangs mit Drogen freihält, mit den Aspekten des Jugendschutzes, des Schutzes vor Organisierter Kriminalität und der Gewährleistung der internationalen Zusammenarbeit bei der Suchtstoffkontrolle (vgl. Weber, BtMG, 5. Auflage, § 1, Rdnr. 3 m.w.N.) - sind in besonderem Maße schutzwürdig und von hohem Gewicht; die Anforderungen an die anzustellende Sozialprognose sind deshalb erhöht (vgl. Senat, Beschluss vom 12. November 2015 - III-3 Ws 415/15 -, juris, Rdnr. 7, juris). Denn je höherwertige Rechtsgüter in Gefahr sind, desto geringer muss das Rückfallrisiko sein (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30. April 2009 - 2 BvR 2009/08, NJW 2009, 1941, 1942).

Bei der vorgenommenen Gesamtabwägung streitet für eine positive Legalprognose lediglich der Umstand, dass der Verurteilte Erstverbüßer und nicht vorbestraft ist. Der vorhandene soziale Empfangsraum - die Rückkehr zu Partnerin und Kindern - kann daneben nur prognoseneutral gewertet werden. Denn auch bei Begehung der der Anlassverurteilung zugrunde liegenden Straftat war er verheiratet und bereits Vater von vier Kindern, was ihn nicht von der Begehung der zur Verurteilung führenden Straftaten abgehalten hat. Ähnliches gilt für die Aussicht auf eine unselbständige Beschäftigung als Produktionshelfer, da der Verurteilte auch zum Zeitpunkt der Anlasstat (selbständig) berufstätig gewesen ist.

Der Umstand, dass der Verurteilte Erstverbüßer ist, führt hier jedoch weder für sich genommen noch im Rahmen einer Gesamtabwägung der prognoserelevanten Umstände zu einer positiven Legalprognose. Denn die auf dem sogenannten Erstverbüßerprivileg fußende (widerlegbare) Vermutung, dass die Strafe ihre spezialpräventiven Wirkungen entfaltet hat, greift regelmäßig nur dann, wenn die Führung während des Vollzugs keinen Anlass zu gewichtigen Beanstandungen gegeben hat (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2003 - StB 4/03, NStZ-RR 2003, 200, 201). Solche "gewichtigen Beanstandungen" liegen hier vor, zumal der Verurteilte noch im August 2019 disziplinarisch belangt werden musste, weil es häufig zu Unregelmäßigkeiten bei den Rückkehrzeiten vom Deutschkurs gekommen ist. Dem Verurteilten wurde nach Mitteilung des zuständigen Mitarbeiters des Sozialdienstes der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne schriftlich nachgewiesen, dass er den Schulbesuch auch dazu genutzt habe, seine Ausgangszeiten zu erweitern. Soweit er dies im Rahmen seiner mündlichen Anhörung vor der Strafvollstreckungskammer damit entschuldigte, den Unterricht im Gegensatz zu anderen nicht vorzeitig verlassen und deswegen den Bus verpasst zu haben, weicht dies von seinen Angaben gegenüber dem Sachverständigen ab. Diesem gegenüber hatte er nämlich angegeben, "kaputte Beine" zu haben und es deshalb nicht geschafft zu haben, schnell genug zum Bus zu kommen (Seite 27 des Gutachtens). Abgesehen davon, dass die Strafvollstreckungskammer die "Entschuldigung" des Verurteilten offenbar ungeprüft übernommen hat, lassen sich beide vom Verurteilten vorgebrachten "Entschuldigungsgründe" im Übrigen nicht damit vereinbaren, dass er nach eigenen Angaben normalerweise nicht zu spät zurückgekehrt sei. Denn bei unterstellter Richtigkeit beider vom Verurteilten abgegebenen Erklärungen wäre zu erwarten gewesen, dass er sich regelmäßig verspätet hätte.

Im Übrigen war auch sein sonstiges Vollzugsverhalten nicht frei von Beanstandungen. Sein Verhalten wird in der Stellungnahme der Leiterin der Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Senne vom 14. August 2019 als teilweise unfreundlich und distanzlos beschrieben. Zweimal sei er gegenüber weiblichen Bediensteten aufgrund seines distanzlosen Verhaltens aufgefallen. Auch die Lehrkräfte beim IB Sprachinstitut in Bielefeld beschwerten sich über sein Verhalten.

Zudem wird das sogenannte Erstverbüßerprivileg hier auch deshalb eingeschränkt, weil der Verurteilte in erheblichem Umfang Handel mit Kokain getrieben hat, obwohl er ausweislich der getroffenen Feststellungen selbst nicht abhängig war. Angesichts der außerordentlichen Gefährdung, die derartige Taten für das Leben und die Gesundheit Dritter mit sich bringen, wiegt die Verantwortung, die die Vollstreckungsgerichte mit einer vorzeitigen Haftentlassung des Täters auf sich nehmen, besonders schwer (vgl. KG, Beschluss vom 6. Juli 2006 - 5 Ws 273/06 -, NStZ 2007, 472).

Auch der von der Strafvollstreckungskammer hinzugezogene Sachverständige A, auf dessen schriftliches Gutachten Bezug genommen wird, hat dem Verurteilten keine positive Legalprognose gestellt. Soweit der Verteidiger im Rahmen der Anhörung vor der Strafvollstreckungskammer in diesem Zusammenhang zu Widersprüchen in den Angaben des Verurteilten erklärt hat, das Anlassurteil habe auf einer Verständigung beruht, ist dies unzutreffend. Ausweislich der Gründe (UA Seite 59) lag dem Urteil hinsichtlich des Verurteilten gerade keine Verständigung zugrunde. Vielmehr hatte er nach den Urteilsgründen insbesondere eingestanden, über ein Kilogramm Kokain verfügt zu haben, welches er aus den Niederlanden beschafft habe (UA Seite 42). Warum er dies nunmehr gegenüber dem Sachverständigen in Abrede gestellt hat, erschließt sich daher nicht und lässt eher den Schluss zu, dass es an einer hinreichenden Auseinandersetzung mit bzw. eine hinreichende Distanzierung von den verübten Straftat, die als protektiver Faktor für eine bedingte Entlassung sprechen könnte, gerade fehlt.

Ohne dass es angesichts der o.g. gegen eine positive Legalprognose sprechenden Umstände noch darauf ankommt, spricht im Ergebnis auch der ungeklärte ausländerrechtliche Status des Verurteilten gegen eine günstige Legalprognose. Denn auch wenn es grundsätzlich unzulässig ist, die Ablehnung der bedingten Entlassung allein auf den ungeklärten ausländerrechtlichen Status des Verurteilten zu stützen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Januar 2004 - 2 BvR 2167/03 - BeckRS 2004, 30338365; LK-Hubrach, 12. Auflage, § 57, Rdnr. 13; Schönke/Schröder/Kinzig, 30. Aufl. 2019, StGB § 57 Rdnr. 16b; Fischer, StGB, 67. Auflage, § 57, Rdnr. 16), ist höchstrichterlich anerkannt, dass die Frage, ob sich ein Ausländer nach der Strafrestaussetzung weiterhin legal im Bundesgebiet aufhalten darf, für die Aussetzungsentscheidung nach § 57 StGB von Bedeutung sein kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. März 2004 - 2 BvR 1530/03 - juris, Rdnr. 4.). Dies gilt hier insbesondere auch deshalb, weil sich der Verurteilte - wie im Übrigen seine gesamte Familie - seinen bisherigen Aufenthaltsstatus unter Vorspiegelung einer falschen Identität sowie einer falschen Nationalität erschlichen hat und sein derzeit ungeklärter ausländerrechtliche Status deswegen - im Gegensatz zu den Fällen, in denen dies ausschließlich eine Folge der ausländerrechtlichen Regelungen darstellt (vgl. OLG Hamm, Beschlüsse vom 12. Dezember 2000 - 2 Ws 323/00 - juris, Rdnr 13, vom 6. April 2001 - 2 Ws 77/01 - juris, Rdnr. 9 und vom 27. Februar 2002 - 2 Ws 47/02 - BeckRS 2002, 30243162) - von ihm zu vertreten ist (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 9. Dezember 1999 - 1 Ws 963/99 -, NStZ-RR 2000, 187).

So muss der Verurteilte hier nicht nur aufgrund der der Anlassverurteilung zugrunde liegenden Straftat, sondern auch aufgrund seiner unzutreffenden Angaben bei der Einreise und den Folgeanträgen damit rechnen, das Bundesgebiet demnächst verlassen zu müssen. Dies dürfte dann insbesondere angesichts der in der Vergangenheit vom Verurteilten gezeigten Charaktermängel einen nicht unerheblichen Anreiz dafür bieten, auch künftig Straftaten zu begehen.

2) Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung von § 473 Abs. 1 StPO.