VG Köln, Urteil vom 18.02.2020 - 6 K 7872/17.A
Fundstelle
openJur 2020, 3726
  • Rkr:
Tenor

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung des Bescheides vom 18.05.2017 verpflichtet, festzustellen, dass hinsichtlich Libyens ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG besteht. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden, tragen der Kläger zu 2/3 und die Beklagte zu 1/3.

Tatbestand

Der Kläger wurde eigenen Angaben zufolge am 00.00.1983 in Tripolis, Libyen geboren. Er ist staatenlos und muslimischer Religionszugehörigkeit.

Seinen Angaben zufolge reiste er am 13.09.2014 aus Libyen aus und über Italien schließlich am 20.09.2014 nach Deutschland ein. Am 16.10.2014 stellte er einen Asylantrag. Mit Bescheid vom 17.11.2014 lehnte die Beklagte den Antrag als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an. Im Rahmen des hiergegen geführten Eilrechtsschutzverfahrens 6 L 1149/15.A legte der Kläger eine Stellungnahme des Facharztes für Psychiatrie E. L1. aus L2. vom 24.02.2015 vor. Die Beklagte hob den Bescheid vom 17.11.2014 mit Bescheid vom 08.12.2015 auf.

Am 02.03.2017 wurde der Kläger vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) angehört. Dabei gab er an, vierzig Tage nach seiner Geburt mit seiner Familie von Libyen nach Syrien, dem Geburtsland seiner Mutter, gezogen zu sein. 1991 sei er mit seinen Eltern nach Libyen zurückgekehrt. Bis 2014 habe er in Tripolis gewohnt. Als Palästinenser sei man in Libyen nichts wert. Am 17.02.2011 hätten zwei Sicherheitskräfte an seiner Universität, die für die Regierung arbeiteten, die Prüfung unterbrochen und ihn sowie den Prüfer aufgefordert, sich mit ihnen ins Stadtzentrum zu einer Demonstration für Gaddafi zu begeben. Dort habe er ein Foto von Gaddafi hochhalten müssen und sei gefilmt worden. Als er nach Hause zurückgekehrt sei, hätten ihn zwei Jugendliche missbilligend auf seine Teilnahme an der Demonstration angesprochen. Einen Tag später fand er an der Wand seines Hauses eine Spraybeschriftung, mit der er als Syrer aufgefordert worden sei, das Land zu verlassen. Insgesamt sei er mindestens vier Mal entführt, zwei Mal beraubt und einmal angeschossen worden. Bei diesen Entführungen sei er vernommen und mehrfach mit dem Tod bedroht worden. Das erste Mal sei er am 21.08.2011 entführt worden. Es hätten mehrere Menschen an seiner Haustüre geklingelt, ihn in ein Auto gezogen und zu einem Haus in seinem Stadtviertel gebracht. Bereits auf der Fahrt hätten sie ihn gefragt, warum die Palästinenser Gaddafi unterstützten. In dem Haus sei er mit den Händen auf dem Rücken gefesselt worden und habe sich hinknien müssen. Er sei mehrfach geohrfeigt und mit einem Gewehrkolben in den Rücken gestoßen worden. Nach über zwei Stunden hätten sie ihn wieder nach Hause gefahren. Von den Gegnern und Befürwortern Gaddafis seien ihnen Vorwürfe gemacht worden. Das zweite Mal sei er 2014 entführt worden. Er denke, dass dies Gegner von Gaddafi gewesen seien. Das Bild, auf dem er das Foto von Gaddafi habe hochhalten müssen, sei in Fernsehen und Internet sehr verbreitet gewesen. Er habe vor einem Geschäft auf seine Mutter gewartet und gerade telefonieren wollen, als jemand von hinten an ihn herangetreten sei und ihm ein Messer an den Rücken gehalten habe. Er sei aufgefordert worden, sich nicht zu wehren, dem Mann zu folgen und in ein Auto steigen. Vorne im Auto hätten zwei Männer gesessen, er habe sich auf die Rückbank setzen müssen. Auf dem Fußboden des Fahrzeugs hätten sich mehrere ausländische Reisepässe gefunden, unter anderem ein ägyptischer, außerdem Blutspuren. Die beiden Männer hätten auch Kalaschnikows im Fahrzeug gehabt. Einer hätte ihn aufgefordert, Geld herauszurücken. Er habe gesagt, dass er keins habe, da habe ein Mann immer wieder mit dem Messer in seine Richtung gestoßen. Er habe diesen Männern kein Geld geben wollen, sei mutig geworden und habe einen der Männer mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Der andere, der eingreifen habe wollen, habe auch einen Schlag von ihm erhalten. Das Auto sei die ganze Zeit gefahren. Durch den Schlag auf den Fahrer sei dieser aus Reflex langsamer geworden, die hintere Autotür sei nicht verriegelt gewesen, daher habe er aus dem Auto springen können. Auf Nachfrage erklärte der Kläger, dieser Vorfall habe drei Monate vor seiner Ausreise stattgefunden. Etwa einen Monat nach diesem Vorfall habe er einen Knall in seinem Auto gehört. Als er stehengeblieben und ausgestiegen sei, habe er jemand gesehen, der mit einem Holzstock auf das Fahrzeugheck geschlagen habe. Er - der Kläger - habe ihn gefragt, warum er das getan hätte. Sofort habe der andere angefangen, ihn mit dem Stock zu schlagen. Er habe Hilfe durch weitere Personen bekommen, die ihn - den Kläger - festgehalten hätten. Er sei hingefallen mit dem Gesicht auf dem Boden, habe Blut auf der Straße gesehen und bemerkt, dass er verletzt gewesen sei. Die Männer hätten weiter auf seinen Rücken eingeschlagen. Er habe Hilfe von seinen Nachbarn bekommen. Er sei aufgestanden und man habe ihm Papiertaschentücher gereicht. Seine Nachbarn hätten ihm gesagt, dass diese Männer nicht damit aufhören würden, ihn als Palästinenser zu verfolgen. Er würde niemals Ruhe und Sicherheit in Libyen finden. Deswegen sei er dann geflohen. Auf Nachfrage erklärte der Kläger, er sei Anfang 2014 angeschossen worden, als er sich vor seiner Haustür befunden habe. Der Schuss sei seitlich an ihm vorbei gegangen. Er habe Angst bekommen und sei gleich ins Haus zurückgegangen. Auf Nachfrage antwortete er, er habe einen Knall gehört, aber niemanden gesehen. Nach der Revolution gegen Gaddafi habe es keine Polizei gegeben, die er hätte um Hilfe ersuchen können. Die Aufnahmen von ihm mit dem Gaddafi-Foto fänden sich leider nicht mehr im Internet, alles sei gelöscht worden. Ansonsten habe es viele weitere, kleine Vorfälle gegeben. Zum Beispiel habe er einmal am Straßenrand gesessen und ein ihm unbekannter Passant habe ihn gefragt, "lebst du noch?". Bei dem Vorfall, bei dem er im Auto bedroht worden sei, hätten die Täter sein Handy erbeutet, das nicht gegen unbefugten Zugriff geschützt gewesen sei, sodass sie Zugang zu seinen Kontaktdaten gehabt hätten. Sie hätten danach öfter seine Mutter angerufen und ihr gedroht, dass sie ihn töten würden. Bis 2016 habe seine Mutter von unterschiedlichen Telefonnummern Bedrohungen erhalten, dass man ihn töten werde. Er habe weder die libysche Staatsangehörigkeit noch eine Aufenthaltsgenehmigung. Der Kläger legte der Beklagten mehrere Unterlagen vor, u.a. eine "Family Registration Card" des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency für Palestine Refugees in the Near East - UNRWA -) betreffend das Flüchtlingslager Jarmuk in Damaskus, Syrien; die individuelle Registrierungsnummer des Klägers lautet: 2-00770685.

Mit Bescheid vom 18.05.2017 lehnte die Beklagte die Asyl- und Flüchtlingsanerkennung ab und verneinte Abschiebungsverbote. Zugleich forderte sie den Kläger auf, innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung auszureisen. Sollte er die Ausreisefrist nicht einhalten, werde er abgeschoben. Er könne auch in einen Staat abgeschoben werden, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rücknahme verpflichtet sei. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot befristete sie auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Zur Begründung führte sie aus, sie könne den Kläger weder als Asylberechtigten noch als Flüchtling anerkennen, weil ein Verfolgungsgrund nicht ersichtlich sei. Gemeinschaftsrechtliche oder nationale Abschiebungsverbote lägen nicht vor.

Am 29.05.2017 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung vertieft er den Vortrag aus dem Verwaltungsverfahren und ergänzt im Wesentlichen, er sei in Libyen wegen seiner palästinensischen Volkszugehörigkeit und unterstellten Gaddafi-Anhängerschaft verfolgt worden. Aufgrund der UNRWA-Registrierung stehe fest, dass er Palästinenser sei. Ihm sei ipso facto Flüchtlingsschutz zu gewähren. Anhörer und Entscheider bei der Beklagten seien nicht identisch gewesen. Bei der Protokollierung der Bundesamtsanhörung seien seine Aussagen zum Teil nicht oder nur gekürzt aufgenommen worden. Die von der international anerkannten libyschen Regierung ausgesprochene Rückkehrverweigerung gegenüber Palästinensern stelle ebenfalls eine politische Verfolgung dar. Bei einer etwaigen Rückkehr nach Syrien würde er sofort zum Militärdienst eingezogen und ebenfalls als Regimegegner eingestuft werden, der sich dem Militärdienst entzogen habe. Ihm drohe in Syrien auch willkürliche Verhaftung und Folter, seine palästinensische Volkszugehörigkeit wirke auch dort gefahrerhöhend.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18.05.2017 zu verpflichten,

ihm die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 Halbs. 1 AsylG zuzuerkennen,

hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG zuzuerkennen,

hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 18.02.2020 informatorisch angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung verweist das Gericht auf das Terminsprotokoll und wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes auf den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Akten des Bundesamtes.

Gründe

Das Gericht konnte ohne einen Vertreter der Beklagten in der mündlichen Verhandlung über die Klage verhandeln und entscheiden, weil es in der Ladung darauf hingewiesen hat (§ 102 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte konnte formlos geladen werden, weil sie mit allgemeiner Prozesserklärung auf eine förmliche Ladung verzichtet hat.

Die Klage hat im tenorierten Umfang Erfolg. Sie ist als Verpflichtungsklage i. S. v. § 42 Abs. 1 Fall 2 VwGO zulässig und teilweise begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Libyens. Insoweit ist der Bescheid vom 18.05.2017 rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Im Übrigen ist die Klage unbegründet.

Dem Kläger ist nicht die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Entgegen seiner Auffassung ergibt sich sein Flüchtlingsstatus nicht ipso facto, d. h. unmittelbar ohne eine Einzelfallprüfung der Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK -) genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand aber nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, sind § 3 Abs. 1 und 2 AsylG anwendbar, § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG. Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) fällt derzeit als einzige Organisation in den Anwendungsbereich dieser Bestimmungen, die Art. 1 Abschn. D GFK sowie Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie - QualRL -) aufgreifen bzw. umsetzen. Die Anwendung des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG, der an Satz 1 der Vorschrift anknüpft und mit diesem eine Einheit bildet, setzt nicht die Erfüllung der allgemeinen Flüchtlingsmerkmale (§ 3 Abs. 1 AsylG, Art. 1 Abschn. A GFK, Art. 2 Buchst. d QualRL) voraus; er enthält vielmehr eine gegenüber § 3 Abs. 1 AsylG/Art. 1 Abschn. A Nr. 2 GFK selbstständige Umschreibung der Flüchtlingseigenschaft. Liegen die Voraussetzungen dieser Regelung vor, ist einem Antragsteller daher auf seinen Antrag ipso facto die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, ohne dass dieser nachweisen muss, dass er in Bezug auf das Gebiet, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine begründete Furcht vor Verfolgung hat. Die - zunächst zu prüfende - Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist eng auszulegen und nur erfüllt, wenn der Betroffene den Schutz oder Beistand des UNRWA tatsächlich in Anspruch genommen hat. Ist eine Person beim UNRWA registriert, so ist diese Registrierung grundsätzlich ein ausreichender Nachweis der tatsächlichen Inanspruchnahme seiner Hilfe. Diese Vermutung (oder gar Fiktion), dass ein registrierter Palästinenser den Schutz oder Beistand des UNRWA auch tatsächlich in Anspruch nimmt, kann aber jedenfalls dann nicht mehr greifen, wenn der Betroffene seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt vor der Einreise in die Europäische Union in einem Drittstaat hatte, der nicht zum Einsatzgebiet des UNRWA zählt. In einem solchen Fall ist der Drittstaat zum (neuen) Herkunftsland im Sinne von § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylG des Betroffenen geworden und kann dem Schutzsuchenden die Ausschlussklausel des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG (etwa bei Geltendmachung einer Verfolgung durch den Drittstaat) nicht mehr entgegengehalten werden. Spiegelbildlich kann er sich dann aber auch nicht mehr auf den Erwerb einer infolge unfreiwilligen Wegfalls des Beistands bzw. Schutzes von UNRWA entstandenen ipso facto-Flüchtlingseigenschaft berufen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 25.04.2019 - 1 C 28.18 -, juris, Rn. 18 ff. m. w. N. auch aus der Rspr. des EuGH; VG Aachen, Urteil vom 08.03.2019 - 3 K 1069/16.A -, juris, Rn. 26 ff.; VG L2. , Urteil vom 07.11.2019 - 6 K 11839/16.A -.

Eine Berufung auf die ipso facto-Flüchtlingseigenschaft aufgrund der vorgelegten "Family Registration Card" des UNWRA ist dem Kläger verwehrt. Das Mandatsgebiet des UNRWA erstreckt sich unter anderem - worauf es hier nur ankommt - auf Syrien, nicht hingegen auf Libyen. Dort hatte der Kläger seinen letzten gewöhnlichen Aufenthalt vor der Einreise in die Europäische Union. Er hat vorgetragen, 1991 mit seinen Eltern aus Syrien in sein Geburtsland Libyen zurückgekehrt zu sein und bis zu seiner Ausreise im Jahr 2014 in Tripolis gewohnt zu haben.

Die Flüchtlingseigenschaft des Klägers ergibt sich auch nicht aus den allgemeinen Vorschriften. Gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG i. V. m. § 3 Abs. 4, 1 AsylG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bedroht ist und er sich außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a AsylG) oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylG). Eine Verfolgung kann nach § 3c AsylG ausgehen von dem Staat (Nr. 1), Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage und nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nummer 3), es sei denn, es besteht interner Schutz (§ 3e AsylG).

Für die Beurteilung der Frage, ob dem Ausländer Verfolgungsmaßnahmen drohen, gilt - unabhängig davon, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist - der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal der begründeten Furcht vor Verfolgung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK - auf die tatsächliche Gefahr ("real risk") abstellt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, juris, Rn. 22 m. w. N.

Eine Verfolgung ist beachtlich wahrscheinlich, wenn bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, juris, Rn. 32.

Nach Überzeugung des Gerichts droht dem Kläger in Libyen weder Gruppen- noch individuelle Verfolgung.

Eine Gruppenverfolgung liegt vor, wenn entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm vorliegen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder unmittelbar bevorsteht, oder wenn die Übergriffe, von denen Angehörige einer Gruppe in Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal getroffen werden, so zahlreich sind, dass für jedes Gruppenmitglied begründete Furcht besteht, in eigener Person Opfer von Übergriffen zu werden.

Vgl. VG L2. , Urteil vom 25.10.2018 - 6 K 1826/16.A -, juris, Rn. 24 m. w. N.

Diese Voraussetzungen sind für die in Libyen lebenden Staatenlosen palästinensischer Herkunft nicht erfüllt. Dem Gericht liegen nach der aktuellen Erkenntnislage keine Hinweise auf ein sie als Gruppe betreffendes staatliches Verfolgungsprogramm vor. Dies gilt auch, soweit der Kläger vorträgt, die von der international anerkannten libyschen Regierung ausgesprochene Rückkehrverweigerung gegenüber Palästinensern stelle eine politische Verfolgung dar. Es ist bereits zweifelhaft, ob dem Kläger tatsächlich die Einreise verweigert werden würde. Jedenfalls würde es an der erforderlichen Verbindung zwischen dieser Maßnahme und einem der Verfolgungsgründe nach § 3b AsylG fehlen, vgl. 3a Abs. 3 AsylG. Denn es liegt nahe, dass allgemeine einwanderungs- und sicherheitspolitische Gesichtspunkte für eine solche Einreiseverweigerung maßgeblich sein dürften, die nicht an flüchtlingsrelevante Verfolgungsmerkmale, sondern vielmehr an die Staatenlosigkeit anknüpft.

Vgl. dazu VG Aachen, Urteil vom 08.03.2019, a.a.O., Rn. 69 ff. m. w. N.

Der Kläger hat auch eine individuelle Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Im Falle einer Vorverfolgung ist die Beweiserleichterungsregelung des Art. 4 Abs. 4 QualRL unmittelbar anwendbar.

Vgl. VG L2. , Urteil vom 20.04.2016 - 23 K 877/16.A -, juris, Rn. 25.

Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird.

Der Schutzsuchende muss eine Furcht vor Verfolgung schlüssig und detailliert begründen. Das Gericht muss beurteilen, ob die persönlichen Erlebnisse des Asylbewerbers glaubhaft sind. Dies ist Teil der richterlichen Rechtsfindung im Rahmen freier Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dabei sind Persönlichkeitsstruktur, Bildung und Herkunft des Ausländers zu berücksichtigen.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 03.08.1990 - 9 B 45.90 -, juris, Rn. 2; OVG NRW, Urteil vom 14.02.2014 - 1 A 1139/13.A -, juris, Rn. 35, Beschluss vom 20.01.2016 - 13 A 1868/15.A -, juris, Rn. 12 ff.

Nach dem Eindruck in der mündlichen Verhandlung und unter Berücksichtigung seines Vortrags vor dem Bundesamt hat der Kläger eine Verfolgung in Libyen nicht glaubhaft gemacht. Insoweit ist entgegen seiner Ansicht die Personenverschiedenheit von Anhörer und Entscheider beim Bundesamt nicht zu beanstanden, weil eine Personenidentität weder einfachgesetzlich noch verfassungsrechtlich gefordert ist.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 01.08.2017 - 11 A 533/17.A -, juris, Rn. 7 ff.; BayVGH, Beschluss vom 05.02.2018 - 11 ZB 17.31802 -, juris, Rn. 4 jeweils m. w. N.

Der Kläger dringt auch nicht mit seinen Rügen gegen die Anhörungsprotokollierung beim Bundesamt durch. Denn ausweislich des Protokolls wurde ihm die verfasste Niederschrift am Tag der Anhörung von 15:45 bis 16:35 Uhr rückübersetzt. Auf dem Kontrollbogen haben der Kläger wie auch der Dolmetscher bestätigt, dass es keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben habe und das rückübersetzte Protokoll den gemachten Angaben entspreche. Der Kläger hat auch bestätigt, dass seine Angaben vollständig gewesen seien und der Wahrheit entsprochen hätten.

Seine Einlassungen in der mündlichen Verhandlung waren demgegenüber widersprüchlich und erheblich gesteigert. Für das Gericht ist bereits nicht nachvollziehbar, warum der Kläger - laut seiner Aussage beim Bundesamt - seine vermeintlichen Gegner bei der zweiten Entführung im Jahr 2014 nicht gekannt und deren Gaddafi-Gegnerschaft nur vermutet habe, wenn dies - so sein Vortrag in der mündlichen Verhandlung - immer die gleichen Leute, und zwar Gaddafi-Gegner, mit dem gleichen Auto gewesen seien sollen. Er hat diese Unstimmigkeit auch nicht auf entsprechenden Vorhalt auflösen können. Demnach habe er lediglich gemeint, diese Leute nicht persönlich zu kennen, aber sie hätten alle die gleichen Gründe gehabt. Diese Schutzbehauptung erklärt jedoch nicht, warum der Kläger zunächst vorgetragen hat, die Entführer nicht gekannt zu haben und ihr Motiv nur vermuten zu können, er schließlich jedoch behauptet hat, dass er sogar deren Auto wiedererkannt habe und sie als Gegner von Gaddafi alle die gleichen Gründe gehabt hätten.

Bei der Bundesamtsanhörung hat der Kläger in Bezug auf die Verfolgungsgründe nur die ihm unterstellte Gaddafi-Anhängerschaft genannt. Vor Gericht hat er demgegenüber erzählt, man habe ihm vorgeworfen, als Spitzel für Gaddafi verantwortlich für den Tod von Angehörigen seiner Entführer zu sein. Wäre dies wirklich der Fall gewesen, hätte es aus Sicht eines Schutzsuchenden nahe gelegen, dies bereits vor dem Bundesamt zu konkretisieren. Es erscheint zudem lebensfremd und übertrieben, dass der Kläger, wie er vor dem Bundesamt vermutet hat, wegen im Internet damals sehr bekannter und verbreiteter, mittlerweile "leider" gelöschter TV-Aufnahmen von einer Demonstrationsteilnahme anhaltend verfolgt wurde und bei einer Rückkehr auch wiederverfolgt würde, weil in Libyen "niemals vergessen" würde, "selbst 100 Jahre später" gebe es kein Vergessen.

Die vom Kläger vor dem Bundesamt geschilderten Ereignisse aus dem Jahr 2014 lassen auch keinen relevanten Verfolgungsgrund erkennen. Die angeblich drei Monate vor seiner Ausreise erfolgte Entführung stellt sich nach dem damaligen Vortrag des Klägers als kriminelles Unrecht dar. Der Kläger vermutete in seinem Vortrag vor dem Bundesamt lediglich Gegner von Gaddafi als Verfolger und die Filmaufnahmen von ihm mit Foto von Gaddafi als Verfolgungsgrund. Nach dem von ihm geschilderten Geschehen gibt es dafür aber keine Anhaltspunkte. Die Gegner hätten demnach wohl Geld erpressen wollen. Auch hinsichtlich der behaupteten Stockschläge, die ca. einen Monat später stattgefunden haben sollen, wurde nach der Schilderung des Klägers vor dem Bundesamt seine palästinensische Herkunft als Grund lediglich von Nachbarn vermutet.

Der Eindruck des gesteigerten Aussageverhaltens entstand in der mündlichen Verhandlung insbesondere dadurch, dass der Kläger hier erstmals erzählt hat, bei der Entführung im August 2011 vergewaltigt worden zu sein. Verfolgungsgründe sind regelmäßig - und so auch hier - nicht glaubhaft gemacht, wenn der Ausländer Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst spät in das Asylverfahren einführt.

Vgl. etwa: OVG NRW, Urteile vom 09.03.2004 - 15 A 2745/01.A -, juris, Rn. 27 ff. und vom 24.10.2018 - 14 A 718/18.A -, juris, Rn. 79.

Auch wenn dies für den Kläger mit Scham behaftet gewesen wäre, ist für das Gericht nicht zu erklären, warum er dieses für seine Flucht gewichtige Ereignis nicht vor dem Bundesamt, nicht gegenüber seinem Psychiater und auch nicht mit den eingereichten Klageschriftsätzen, sondern erst in der öffentlichen Sitzung vom 18.02.2020 vorgetragen hat. Ohnehin würden jedenfalls die geschilderten Ereignisse im Jahr 2011 - wenn man sie als wahr unterstellte - keine Flüchtlingseigenschaft des Klägers begründen können. Denn als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender nur dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asylrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.

Vgl. VG L2. , Urteil vom 10.12.2013 - 23 K 4978/11.A -, juris, Rn. 23 m.w.N.

Ein solcher wäre hier zu verneinen. Es spricht vielmehr gegen die Glaubhaftigkeit des seines Vortrags, dass der Kläger trotz einer behaupteten Vergewaltigung und angeblich anhaltender Verfolgung Libyen erst drei Jahre später verlassen hat.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 60 Abs. 2 AufenthG, § 4 Abs. 1 AsylG. Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht, § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG.

Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Unter dem Begriff der unmenschlichen Behandlung ist die vorsätzliche und beständige Verursachung körperlicher Verletzungen oder physischen oder psychischen Leids zu verstehen, während bei einer erniedrigenden Behandlung nicht die Zufügung von Schmerzen, sondern die Demütigung im Vordergrund steht. Rechtlich beachtlich ist die tatsächliche Gefahr eines solchen Schadens nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG, wenn sie von einem der in § 3c AsylG genannten Akteure ausgeht, keine Ausschlussgründe nach § 4 Abs. 2 AsylG vorliegen und der Betroffene nicht in einem Teil seines Herkunftslandes effektiven Schutz vor diesem drohenden ernsthaften Schaden finden kann (§ 4 Abs. 3 Satz 1, §§ 3d, 3e AsylG). Wie bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

Auch schlechte humanitäre Verhältnisse können eine unmenschliche Behandlung darstellen. Dies ist immer dann anzunehmen, wenn diese Verhältnisse ganz oder überwiegend auf staatlichem Handeln, auf Handlungen von Parteien eines innerstaatlichen Konflikts oder auf Handlungen sonstiger, nicht staatlicher Akteure, die dem Staat zurechenbar sind, beruhen, weil er der Zivilbevölkerung keinen ausreichenden Schutz bieten kann oder will. Aber auch dann, wenn diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, weil es an einem verantwortlichen Akteur fehlt, können schlechte humanitäre Bedingungen im Zielgebiet dennoch als unmenschliche Behandlung zu qualifizieren sein, wenn ganz außerordentliche individuelle Umstände mit einem sehr hohen Schädigungsniveau hinzutreten. Bei entsprechenden Rahmenbedingungen können schlechte humanitäre Verhältnisse eine Gefahrenlage begründen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung führt. Hierbei sind etwa zu berücksichtigen der Zugang für Rückkehrer zu Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse.

Vgl. EGMR, Urteil vom 28.06.2011 - 8319/07 - (Sufi u. Elmi/Vereinigtes Königreich), NVwZ 2012, 681 = BeckRS 2012, 8036, Rn. 278 ff. m. w. N.; BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, juris, Rn. 25; VGH BW, Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 1729/17 -, juris, Rn. 113 ff.; VG L2. , Urteil vom 13.12.2018 - 9006/16.A -.

Zwar geht das Gericht davon aus, dass die derzeitigen humanitären Verhältnisse in Libyen eine unmenschliche Behandlung im beschriebenen Sinne darstellen. Diese Lage kann jedoch nicht als Ergebnis eines zielgerichteten Handelns einem bestimmten Verfolgungsakteur zugeordnet werden. Die Situation stellte sich wie folgt dar:

Das Land befindet sich Ende 2019, im neunten Jahr nach der "Revolution des 17. Februar" (2011) und dem Tod des Diktators Muammar al-Gaddafi weiterhin im Umbruch. Es bleibt ein fragmentiertes, fragiles Land mit eingeschränkter Staatlichkeit und gespaltenen Institutionen. Die Regierung des Nationalen Einvernehmens (RNE) unter Premierminister Sarraj ist nur eingeschränkt handlungsfähig. Bereits vor dem Ausbruch der jüngsten Kampfhandlungen durch die Offensive der sogenannten "Libyschen Nationalen Armee" (LNA) unter General Haftar im April 2019 war es ihr nicht gelungen, das staatliche Gewaltmonopol wiederherzustellen. In den bewaffneten Auseinandersetzungen kann keine der beiden Parteien einen klaren militärischen Vorteil erzielen. Die Kampfhandlungen sind weitgehend niedrigschwellig, insbesondere die LNA setzt jedoch auch (oft Drohnenbasierte) Luftangriffe ein, bei denen es wiederholt auch zu zivilen Opfern kommt. Externe Waffenlieferungen sowie der Einsatz von Söldnern stellen ein fortgesetztes Eskalationsrisiko dar. Viele Regionen und Städte werden von bewaffneten Gruppen kontrolliert, die sich einer staatlichen Aufsicht verweigern; vom ostlibyschen Al-Bayda aus agiert zudem eine Haftar nahestehende Parallelregierung. Die Folgen des Konflikts und der eingeschränkten Handlungsfähigkeit der RNE wirken sich weiter auf Schutz und Versorgung großer Bevölkerungsgruppen aus: Laut Vereinten Nationen (UN) bedurften 2019 ca. 820.000 Menschen in Libyen humanitärer Hilfe. Vorläufigen Angaben der UN zufolge wird die Zahl im Jahr 2020 u. a. aufgrund der Folgen der bewaffneten Auseinandersetzungen bei etwa 880.000 Personen liegen. Die Menschenrechtslage in Libyen ist weiterhin schlecht. Menschenrechte werden weder staatlich effektiv geschützt noch gefördert. Gewalt und Straflosigkeit sind verbreitet. Ein einheitliches und funktionierendes Justizsystem steht nur begrenzt zur Verfügung. Die Zivilbevölkerung sowie Flüchtlinge und Migranten sind Menschenrechtsverletzungen durch staatliche wie nichtstaatliche Akteure häufig schutzlos ausgesetzt. Es kommt zu Angriffen auf Kritiker und Oppositionelle, politische Gegner, Menschenrechtsverteidiger, Journalisten, Juristen, religiöse Führer und (angebliche) ehemalige Anhänger Gaddafis. Es liegen Berichte zu Entführungen, Menschenhandel, irregulärer Haft, rechtswidrigen Tötungen, Folter und Unterdrückung der Meinungsfreiheit in allen Landesteilen vor. Zivilisten werden häufig Opfer bewaffneter Auseinandersetzungen, insbesondere bei unpräzisen Waffeneinsätzen, v. a. seit Beginn der Offensive der LNA.

Vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 15.01.2020.

Die Lage im ganzen Land ist extrem unübersichtlich und unsicher. Es kommt immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Davon können auch die Städte Tripolis und Bengasi betroffen sein. Die staatlichen Sicherheitsorgane können keinen ausreichenden Schutz garantieren. Bewaffnete Gruppen mit zum Teil unklarer Zugehörigkeit treten häufig als Vertreter der öffentlichen Ordnung auf, sind jedoch nicht ausgebildet und wenig berechenbar bzw. agieren straffrei im de facto rechtsfreien Raum. In großen Teilen des Landes herrschen bewaffnete Milizen oder sonstige bewaffnete Kräfte. Im ganzen Land besteht ein hohes Risiko von Anschlägen und Entführungen. Die Kriminalität ist hoch. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass Waffen aus dem Bürgerkrieg von 2011 in die Hände von Kriminellen geraten sind. Die schwerwiegenden Menschenrechtsprobleme resultieren aus der Abwesenheit effektiver Regierungsführung und Kontrolle sowie aus mangelnden Justiz- und Sicherheitsinstitutionen. Dies führt zu Misshandlungen und Menschenrechtsverletzungen durch bewaffnete Gruppen, sowohl durch regierungstreue als auch durch oppositionelle, sowie durch Terroristen und Kriminelle. Hauptleidende der Auseinandersetzungen sind die libysche Zivilbevölkerung sowie die ausländischen Flüchtlinge und Migranten, nicht nur infolge zahlreicher Angriffe auf zivile Ziele, sondern auch in Gestalt von irregulärer Haft, extralegalen Hinrichtungen, endemischer Folter, Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch die verschiedenen Akteure, willkürliche Angriffe und Gewaltanwendung sowie Entführungen und Verschwindenlassen. Die wirtschaftliche Lage ist weiterhin kritisch. Die angespannte Haushaltslage führte zu Liquiditätsengpässen (Bargeld-Ausgabe an Automaten), zur restriktiven Erteilung von Akkreditiven, zu Kapitalflucht und zu einem starken Kursverfall des Libyschen Dinars (Schwarzmarkt). Ein hoher Anteil der staatlichen Gelder versickert zudem in der Korruption. Die einst reiche Nation ist nun mit einer Finanzkrise konfrontiert. Die konfliktbeladene Wirtschaftskrise hat zu einem rapiden Einbruch der Lebensverhältnisse geführt. Besonders betroffen sind das Gesundheitswesen, das wegen Medikamentenmangel und Krankenhausschließungen in einem sehr prekären Zustand ist, sowie in einigen Landesteilen die Versorgung mit Lebensmitteln und sauberem Wasser. Schulen werden in mehreren Städten (u.a. Bengasi) zur Unterbringung von Binnenflüchtlingen genutzt und sind daher teilweise geschlossen. Die Entwicklungen in Libyen haben große Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung gehabt, die nur noch als mangelhaft bezeichnet werden kann. Es herrscht darüber hinaus erheblicher Personalmangel im medizinischen Bereich. Die medizinische Versorgung im Lande ist mit Europa nicht zu vergleichen, und ist insbesondere außerhalb der Hauptstadt vielfach technisch, apparativ und/oder hygienisch problematisch. Zunehmend gewalttätig ausgetragene Konflikte und die Ausreise des häufig ausländischen Klinikpersonals der staatlichen Krankenhäuser und privaten Kliniken stellen eine zusätzliche Belastung für das angeschlagene Gesundheitssystem dar.

Vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Libyen vom 20.10.2017/21.11.2019.

Die Deutsche Botschaft ist derzeit nach Tunis evakuiert. Im März 2018 benötigten 1,1 Millionen Menschen Schätzungen zufolge lebensrettende humanitäre Hilfe und Schutz, darunter 378.000 Kinder und 307.000 Frauen im gebärfähigen Alter. Die humanitäre Hilfe bleibt weiterhin schlecht finanziert, was den Zugang zu und die Verfügbarkeit von grundlegenden Dienstleistungen für Menschen in Not untergräbt. Die hochgradig volatile sicherheitspolitische Situation behindert den dauerhaften Zugang für humanitäre Hilfe und lässt insbesondere die am stärksten gefährdeten Gruppen, Binnenvertriebene, Asylsuchende, Flüchtlinge und Migranten mit noch nicht gedeckten dringenden Bedürfnissen zurück. Das Gesundheitssystem hat sich bis zum Zusammenbruch verschlechtert. Während die medizinischen Bedürfnisse, insbesondere die mit Konflikten verbundenen Verletzungen, weiter steigen, gibt es einen Mangel an Medikamenten, medizinischer Versorgung und Ausrüstung sowie einen kritischen Fachkräftemangel. Schwangere Frauen und Personen mit chronischen Krankheiten, Behinderungen und psychischen Problemen werden angesichts der begrenzten Kapazität von Gesundheitsdiensten als besonders gefährdet eingestuft. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung für Binnenvertriebene, Rückkehrer, Flüchtlinge und Migranten bleibt begrenzt. Drogen- und Alkoholmissbrauch sind Berichten zufolge seit Beginn des Konflikts gestiegen. Nach Libyen zurückkehrende Libyer können grundsätzlich auf Unterstützung durch ihre Kernfamilie oder Stamm zählen, sofern das individuelle Verhältnis der jeweiligen Personen zur jeweiligen Bezugsgruppe nicht belastet oder ganz abgerissen ist.

Vgl. VG L2. , Urteil vom 13.12.2018, a.a.O., UNHCR, Position on returns to Libya [Update II] vom September 2018; Adhoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom 03.08.2018.

In Konfliktgebieten haben bewaffnete Gruppen Angriffe auf medizinische Einrichtungen und medizinisches Personal verübt, darunter etwa Granatenbeschuss und Plünderung medizinischer Ausrüstung. Zudem hat das Fehlen einer effektiven öffentlichen Verwaltung aufgrund des Fehlens von Ressourcen, qualifizierten Mitarbeitern, Ausrüstung und Nachschub zu einer schlechten Bereitstellung von Diensten geführt. Landesweit ist der Zugang zu Gesundheitsversorgung bedeutend weniger vorhanden als der Bedarf. Unter Libyern sehen sich Rückkehrer den bedeutsamsten Herausforderungen beim Zugang zu Gesundheitsversorgung gegenüber gestellt. Die öffentlichen Dienste haben sich wegen der Krise bedeutend verschlechtert. Das nicht funktionierende öffentliche Gesundheitssystem, Herausforderungen im Bildungsbereich und nicht funktionierende Wasser- und Sanitärdienste haben bedeutende Auswirkungen auf vulnerable Personen gezeigt. Dies hat zu fehlendem Zugang zu wesentlicher primärer und sekundärer medizinischer Versorgung und zu Herausforderungen beim Zugang zu Trinkwasser und qualitativ hochwertiger Bildung geführt. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (World Food Programme - WFP -) schreibt in einem Länderüberblick vom Dezember 2018, dass Ernährungsunsicherheit aufgrund anhaltender Vertreibung, Behinderungen auf Märkten und geringerer Nahrungsmittelproduktion weiterhin eine Herausforderung ist. Der Konflikt hat Auswirkungen auf die Lebensgrundlagen und den Zugang zu grundlegenden sozialen Diensten gehabt, was die vulnerabelsten Personen einem hohen Risiko von nicht angemessener Nahrungsaufnahme aussetzt und die Menschen dazu zwingt, negative Bewältigungsstrategien anzuwenden, wie den Verbrauch ihrer Ersparnisse, Einschränkung der täglichen Mahlzeiten und die Reduzierung der nicht mit Nahrungsmittel in Zusammenhang stehenden Ausgaben, insbesondere für Gesundheit und Bildung.

Vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung vom 01.04.2019 zu Libyen: Informationen zur Versorgungslage.

Allerdings kann die eine unmenschliche Behandlung darstellende humanitäre Lage in Libyen nicht einem Verfolgungsakteur in flüchtlingsrechtlich relevanter Weise zugeordnet werden. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist mit Blick auf die Verweisungsregelung des § 4 Abs. 3 AsylG dahingehend auszulegen, dass es einer direkten oder indirekten Aktion eines Akteurs bedarf, die die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit zu verantworten hat, die jenseits nicht intendierter Nebenfolgen ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht erfordert. Die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung muss auf Faktoren beruhen, die den Behörden des Landes direkt oder indirekt anzulasten und ihnen stets bewusst sind, und zwar entweder weil die Behörden des Staates, dem der Betroffene angehört, ihn persönlich bedrohten oder diese Bedrohung tolerieren, oder weil diese Bedrohung auf unabhängige Gruppen zurückgeht, vor denen die Behörden ihre Staatsangehörigen nicht wirksam schützen können. Es ist ein bewusstes und zielgerichtetes Handeln bzw. Unterlassen eines Akteurs erforderlich, das die schlechte humanitäre Lage hervorruft oder erheblich verstärkt.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 13.02.2019 - 1 B 2.19 -, juris, Rn. 13 m. w. N. aus der Rspr. des EuGH.

Nach den dem Gericht vorliegenden Informationen ist die schlechte Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsversorgung maßgeblich durch die volatile und extrem unübersichtliche Sicherheitslage bestimmt. Es ist kein Handeln oder Unterlassen von (einem) bestimmten Akteur(en) erkennbar, das diese Verhältnisse bewusst und zielgerichtet hervorgerufen oder erheblich verstärkt hat. Insbesondere wird weder die notwendige medizinische oder humanitäre Versorgung gezielt vorenthalten noch werden all diese Umstände absichtlich herbeigeführt.

Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf den subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 3 AsylG. Danach ist dieser zuzuerkennen, wenn der Ausländer stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden in Gestalt einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht. Die Bejahung einer erheblichen individuellen Gefahr setzt voraus, dass dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ("real risk") ein Schaden an den Rechtsgütern Leib oder Leben droht.

Vgl. EuGH, Urteil vom 30.01.2014 - C-285/12 -, juris, Rn. 30; OVG NRW, Beschluss vom 09.03.2017 - 13 A 2575/16.A -, juris, Rn. 13.

Dies kann weder nach dem Vortrag des Klägers noch nach den vorliegenden Erkenntnissen angenommen werden.

Dem Kläger steht jedoch die Feststellung eines Abschiebungsverbots zu, welches einen einheitlichen Verfahrensgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen darstellt.

Vgl. dazu: BVerwG, Urteil vom 08.09.2011 - 10 C 14.10 -, juris, Rn. 17.

Der Anspruch des Klägers folgt aus § 60 Abs. 5 AufenthG. Danach darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Wie bereits ausgeführt, stellen die derzeitigen humanitären Verhältnisse in Libyen eine unmenschliche Behandlung dar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO, § 83b AsylG. Die verhältnismäßige Teilung der - allein entstandenen - außergerichtlichen Kosten berücksichtigt, dass der Kläger hinsichtlich der Zuerkennung von Flüchtlings- sowie subsidiärem Schutz unterliegt und hinsichtlich der Feststellung eines Abschiebungsverbots obsiegt.

Rechtsmittelbelehrung

Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen zu, wenn sie von diesem zugelassen wird. Die Berufung ist nur zuzulassen, wenn

1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder

2. das Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder

3. ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.

Die Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich bei dem Verwaltungsgericht Köln, Appellhofplatz, 50667 Köln, zu beantragen. Der Antrag muss das angefochtene Urteil bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen.

Statt in Schriftform können die Einlegung und die Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung auch als elektronisches Dokument nach Maßgabe des § 55a der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - und der Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach (Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung - ERVV) erfolgen.

Vor dem Oberverwaltungsgericht und bei Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Oberverwaltungsgericht eingeleitet wird, muss sich jeder Beteiligte durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, die die Befähigung zum Richteramt besitzen, für Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts auch eigene Beschäftigte oder Beschäftigte anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts mit Befähigung zum Richteramt zugelassen. Darüber hinaus sind die in § 67 Abs. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung im Übrigen bezeichneten und ihnen kraft Gesetzes gleichgestellten Personen zugelassen.

Die Antragsschrift sollte zweifach eingereicht werden. Im Fall der Einreichung eines elektronischen Dokuments bedarf es keiner Abschriften.

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