LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 17.05.2017 - L 16 U 18/16
Fundstelle
openJur 2020, 3202
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. S 22 U 126/11

Nicht nur für ehrenamtlich Tätige, sondern auch für hauptamtlich Beschäftigte, die in Einrichtungen zur Hilfe bei Unglückfällen tätig sind, sind gemäß § 185 Abs 2 Satz 1 iVm § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII in der gesetzlichen Unfallversicherung Beiträge nicht zu erheben.

Tenor

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 7. Oktober 2015 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.

Der Streitwert wird auf  6.947,- Euro festgesetzt.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen den Beitragsbescheid des Beklagten für das Umlagejahr 2011, mit dem für die hauptamtlichen Mitarbeiter im Bereich des Rettungsdienstes Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung erhoben werden.

Die Klägerin ist eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Gegenstand ihrer Tätigkeit ist die Erbringung von Rettungsdienstleistungen in der Region G. sowie für Stadt und Landkreis H.. Seit dem Jahr 2003 bestand ein grundsätzlicher Streit in Bezug auf die Zuständigkeit des Unfallversicherungsträgers zwischen Hilfeleistungsunternehmen und Wohlfahrtsverbänden auf der einen und dem Beklagten sowie der Berufsgenossenschaft für Gesundheit und Wohlfahrtspflege (BGW) auf der anderen Seite. Zur Erarbeitung einer einvernehmlichen Lösung fanden mehrere Gesprächsrunden mit dem Beklagten statt. Am 21. Dezember 2006 schlossen die Beteiligten einen Vergleich zur Erledigung der Auseinandersetzungen um die Zuständigkeit für den ASB-Landesverband Niedersachsen eV. Dort heißt es in:

Ziffer 1

Ab dem 1. Januar 2006  sind die örtlich zuständigen Gemeinde-Unfallversicherungsverbände in Niedersachsen zuständig für die im Bereich der Hilfeleistung (zB Rettungsdienst, Katastrophenschutz) tätigen Personen des ASB Landesverbandes Niedersachsen eV.

Ziffer 3

In der Zuständigkeit der Berufsgenossenschaft für Gesundheitswesen (BGW) verbleiben die ASB gemeinnützige Heimbetriebsgesellschaft mbH Barsinghausen, die ASB gemeinnützige Heimbetriebsgesellschaft mbH Rodenberg sowie bezüglich des ASB Landesverbanden Niedersachen eV die nicht zur Hilfeleistung zählenden Bereiche (zB soziale Dienste).

Am 17. November 2006 schlossen die Beteiligten  eine Nebenabrede zum Vergleich:

„ Zur Erledigung der Auseinandersetzungen um die Zuständigkeit für die ASB Rettungsdienst gGmbH und die ASB gemeinnützige Gesellschaft für Sozialdienste und Krankentransporte schließen die Obengenannten mit dem GUV Hannover folgende Nebenabrede:

Die Parteien sind sich darüber einig, dass der Gemeinde-Unfallversicherungsverband Hannover – zuständiger Unfallversicherungsträger für die ASB Rettungsdienst gGmbH und die ASB gemeinnützige Gesellschaft für Sozialdienste und Krankentransporte – für das Jahr 2005 den halben Beitrag, ab 2006 den vollen Beitrag erhebt.“

Im Dezember 2009 wurde die Vereinbarung über die Anwendung eines gemeinsamen Auslegungskatalogs zur Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der öffentlichen und gewerblichen Unfallversicherung für die Einrichtungen von Johanniter-Unfall-Hilfe und Malteser Hilfsdienst geschlossen für die Zeit ab 1. Oktober 2010. Dort wird die Zuständigkeit des Beklagten für den Katastrophenschutz (Ziffer 4.1) sowie den Rettungs- und Sanitätsdienst (Ziffer 4.2) geregelt. Im Rundschreiben des DGUV 006/2010 vom 5. Januar 2010 zum gemeinsamen Auslegungskatalog mit der Johanniter-Unfall-Hilfe eV und dem Malteser Hilfsdienst eV wurde mitgeteilt, dass sich das Bundessozialgericht (BSG) in seinem Urteil vom 28. November 2006 (B 2 U 33/05 R) mit der Abgrenzung der Zuständigkeiten für Unternehmen der Wohlfahrtspflege einerseits und Einrichtungen zur Hilfe bei Unglücksfällen („Hilfeleistungsunternehmen“) andererseits auseinander gesetzt habe. Zur Umsetzung der Vorgaben des Bundessozialgerichts und zur Sicherstellung einer bundeseinheitlichen Rechtsanwendung hätten sich die Vertreter der betroffenen Unfallversicherungsträger sowie der maßgeblichen Wohlfahrtsorganisationen auf einen gemeinsamen Auslegungskatalog zur Zuständigkeitsabgrenzung und deren Umsetzung (Anlage) verständigt.

Mit Beitragsbescheid vom 21. März 2011 erhob der Beklagte auf der Grundlage einer Versichertenzahl von 67 zu einem Beitragssatz von je 103,69 Euro einen Gesamtbeitrag zur gesetzlichen Unfallversicherung für das Jahr 2011 iHv 6.947,23 Euro. Mit ihrem Widerspruch wandte die Klägerin ein, dass Personen, die in Unglückshilfeeinrichtungen gemäß § 128 Abs 1 NR 6 iVm § 185 Abs 2 SGB VII tätig sind, beitragsfrei versichert seien. Bei den seitens der Klägerin gemeldeten Versicherten  handele es sich ausschließlich um Mitarbeiter in der Notfallrettung und im qualifizierten Krankentransport. Diese Mitarbeiter würden allesamt gemäß § 5 ff NRettdG in öffentlichem Auftrag tätig. Daher bestehe ein öffentliches Interesse an der Tätigkeit dieser Personen, weshalb der Gesetzgeber für sie einen kostenlosen Unfallversicherungsschutz durch die öffentliche Hand geregelt habe. Dies habe das BSG in seinem obiter dictum in seiner Entscheidung vom 28. November 2006 – B 2 U 33/05 R – bestätigt. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 18. April 2011 zurück.

Die Klägerin hat am 20. Mai 2011 Klage beim Sozialgericht (SG) Hannover eingelegt.

Die Rechtsauffassung des Beklagten, dass die Beitragsfreiheit nach § 185 Abs 2 S 2 SGB VII nicht die entgeltlich Beschäftigten in Einrichtungen zur Hilfe bei Unglücksfällen erfasse, gehe fehl, weil damit in den Wortlaut der Vorschrift des § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII eine Differenzierung zwischen ehrenamtlich und hauptamtlich tätigen Personen interpretiert werde, die vom Gesetzgeber nicht gewollt sei. Gegen eine solche Differenzierung spreche auch die Entscheidung des BSG  vom 28. November 2006 (B 2 U 33/05 R). Dort stelle der Senat unmissverständlich dar, dass sich die Regelung in § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII schlicht und einfach auf die Personen beziehe, die in Einrichtungen zur Unglückshilfe tätig seien. Diese Auffassung werde im Schrifttum geteilt (mit Hinweis auf Höller in Hauck/Noftz zu § 185 Rn 6). Bei den seitens der Klägerin gemeldeten Personen  handele es sich ausschließlich um Beschäftigte gemäß § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII, die in Teil- oder Vollzeit im Rettungsdienst und qualifizierten Krankentransport beschäftigt seien. Dementsprechend sei der Beitragsbescheid für das Jahr 2011 aufzuheben. Die vom Beklagten geltend gemachte Nebenabrede vom 17. November 2006 lasse eine Verpflichtung der Klägerin zur Zahlung von Beiträgen von Versicherten, die nach dem Gesetz beitragsfrei zu versichern seien, nicht erkennen. Die Nebenabrede regle nach ihrem Sinn und Zweck  Zuständigkeitsfragen.

Die Beklagte hat die Auffassung vertreten, dass die Beteiligten nicht nur über die Zuständigkeit des Beklagten einen Vergleich geschlossen hätten sondern auch über die Beitragszahlung und verweist auf die Nebenabrede zum Vergleich. So habe die Klägerin bis zum Jahr 2010 entsprechend berechnete Beiträge für hauptamtlich Tätige bezahlt und die Beitragsbescheide bestandskräftig werden lassen. Hinsichtlich des hauptamtlichen Personals im Rettungsdienst der Klägerin bedürfe es in Bezug auf die Frage der Beitragsfreiheit einer gesonderten Betrachtung. Es sei Geschäftsgrundlage für die gesetzliche Unfallversicherung, dass der Unfallversicherungsschutz nur gegen Zahlung von Beiträgen durch Unternehmer erlangt werden könne. Dies folge nicht nur aus den allgemeinen Vorschriften der §§ 150, 151 SGB VII, auf die § 185 SGB VII ausdrücklich Bezug nehme, sondern auch aus dem Prinzip der Haftungsersetzung  nach §§ 104 ff SGB VII. Träfe die Auffassung der Klägerin zu, würde die  ratio legis für den Haftungsausschluss nach §§ 104, 105 SGB VII entfallen. Dann wären hauptamtlich Beschäftigte gerade nicht als Versicherte in Unternehmen der Klägerin anzusehen, sondern es käme allenfalls ein Haftungsausschluss gem § 106 Abs 3 SGB VII in Betracht. Dieser Haftungsausschluss knüpfe ausdrücklich daran an, dass es sich um Personen handele, die unentgeltlich, insbesondere ehrenamtlich gem § 2 Abs 1 Nr 12 SGB VII tätig seien.  Der organisierte Rettungsdienst sei Aufgabe der Länder, die die Rettungsdienststellen ausschrieben. Die Vergütungen richteten sich nach Marktpreisen. Es würde einen Verstoß gegen das Kartellrecht darstellen, einschließlich europäischen Kartellrechts, wenn der Wettbewerber Kosten für den Unfallversicherungsschutz einspare. Zudem habe § 2 Abs 1 Nr 12 SGB VII eine lange historische Tradition. Der Bestimmung des § 185 Abs 2 SGB VII liege noch ein Verständnis zu Grunde, wonach in den Hilfeunternehmen vor allem Ehrenamtler tätig seien. Dies habe sich erst in den letzten 15 bis 20 Jahren geändert. Weder aus § 185 Abs 2 SGB VII noch aus der Gesetzesbegründung lasse sich eine halbwegs tragfähige Grundlage für eine Privilegierung der hauptamtlich Tätigen herleiten.

Das SG hat mit Urteil vom 7. Oktober 2015 den Bescheid vom 21. März 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. April 2011 aufgehoben. Zur Begründung ist ausgeführt worden, die Zuständigkeit der Beklagten als Unfallversicherungsträger ergebe sich aus dem zwischen den Beteiligten geschlossenen Vergleich vom 21. Dezember 2006. Da die Klägerin im Bereich der Erbringung von Rettungsdienstleistungen tätig sei und gegenüber dem Beklagten die im Rettungsdienst und im qualifizierten Krankentransport hauptamtlich in Teil- und Vollzeit tätigen Personen gemeldet habe, gelte der § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII. Die Beitragsfreiheit der im Unfallhilfebereich entgeltlich Beschäftigten folge aus § 185 Abs 2 S 1 iVm § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII. Zur Überzeugung der Kammer erfolge nach § 185 Abs 2 iVm § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII keine Differenzierung zwischen hauptamtlich und ehrenamtlich tätigen Personen. So nehme § 185 Abs 2 SGB VII zur Regelung der Beitragsfreiheit keinen Bezug auf die Vorschrift des § 2 Abs 1 Nr 12 SGB VII. Zudem  spreche schon der Wortlaut gegen eine Differenzierung, was sich aus dem Begriff „tätig sind“ ergebe. Der Begriff des Tätigseins sei im Unterschied zu anderen Vorschriften gerade nicht mit einer Einschränkung versehen (unter Bezugnahme aus Ricke in SGb 2003, S 566 ff). Gegen eine Begrenzung der Beitragsfreiheit auf ehrenamtlich Tätige spreche die Aufzählung der Versicherungstatbestände in § 128 Abs 1 SGB VII. Dabei erwähne die Regelung des § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII die Vorschrift des § 2 Abs 1 Nr 12 SGB VII gerade nicht. Schließlich spreche für eine generelle Beitragsfreiheit aller in Unglückshilfeunternehmen  Beschäftigten, dass diese Unternehmen im öffentlichen Interesse tätig seien und nicht gewinnorientiert arbeiteten. Aufgrund einer umfassenden Beitragsfreiheit seien – entgegen der Auffassung des Beklagten – auch keine Wettbewerbsverzerrungen ersichtlich. Ungleichheiten von Unternehmen, die darauf angewiesen seien zum überwiegenden Teil mit ehrenamtlich Tätigen zu arbeiten, würden gerade vermieden. Auch der pauschal vorgetragene Kartellrechtsverstoß sei aufgrund der daraus resultierenden Chancengleichheit für alle Mitarbeiter nicht erkennbar. Die im November 2006 abgeschlossene Nebenabrede zum Vergleich führe nicht zu einer Beitragsverpflichtung der Klägerin. Diese sei nach dem ausdrücklichen Wortlaut gerade nicht aufgenommen worden. Aus dem Umstand, dass die Klägerin bis 2010 Beiträge für ihre hauptamtlichen Mitarbeiter erbracht habe, könne keine Verpflichtung für die Zukunft abgeleitet werden.

Der Beklagte hat gegen das ihm am 11. Januar 2006 zugestellte Urteil am 25. Januar 2016 beim Sozialgericht Hannover Berufung eingelegt, die an das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen weitergeleitet worden ist. Er hält daran fest, dass der Rettungsdienst nicht Teil des Sicherstellungsauftrags der Kassenärztlichen Vereinigungen sei, sondern eine Landesaufgabe. Auch unter Geltung von EU-Recht stehe fest, dass sich die Rettungsdienstleister an einer Ausschreibung zu beteiligen hätten und die Beauftragung im Konzessionsmodell erfolge (unter Hinweis auf Urteile des EUGH vom 29. April 2010 – C 160/08 – und vom 10. März 2011 – C 274/09). Dabei seien wettbewerbsrechtliche Belange zu berücksichtigen. Die Zuständigkeitsregel in § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII betreffe ausschließlich die Zuständigkeit von Ehrenamtlern gemäß § 2 Abs 1 Nr 12 SGB VII.  Das Wort „Versicherte“ in § 185 Abs 2 SGB VII beziehe sich nicht auf Versicherte iSd § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII. Dies schon deshalb nicht, weil die Grundregel der Beitragspflicht für hauptamtlich Beschäftigte durch § 185 Abs 2 nicht aufgehoben werden solle. In den Gesetzesmaterialien zu §§ 128 und 185 SGB VII finde sich nicht ein Wort zur Beitragsfreiheit der hauptamtlich Beschäftigten. Der Gesetzgeber habe nicht den Zweck verfolgt, Unglückshilfeunternehmen mit einer beitragsfreien Unfallversicherung zu begünstigen, weil diese „nicht gewinnorientiert“ arbeiteten.  Die Ausnahmeregelung in § 186 Abs 3 Nr 3 SGB VII könne im Umkehrschluss nur dahin verstanden werden, dass nur das Deutsche Rote Kreuz hinsichtlich einer (grundsätzlichen) Beitragsfreiheit der Beschäftigten begünstigt werden solle. Zudem handele es sich bei der Übernahme von Sozialversicherungsbeiträgen um eine Beihilfe iSd Art 107 AEUV. In der Berufungsverhandlung hat der Beklagte ergänzend ausgeführt, dass seinerzeit ein Interesse an der Zuständigkeit für die Versicherten in Unglückshilfeeinrichtungen der Klägerin auch deshalb bestanden habe, weil der Beklagte andere Zuständigkeiten infolge von kommunalen Umstrukturierungen habe abgegeben müssen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 7. Oktober 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Rettungsdienstleistungen erbringe die Klägerin im Landkreis Hannover im Wesentlichen mit hauptamtlichen beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Ehrenamtliche Mitarbeiter des ASB würden für Rettungsdienstleistungen nach § 5 NRettdG nur in geringfügigem Umfang von bis zu 105 der zu leistenden Rollstunden der Rettungsfahrzeuge eingesetzt. Seit dem Jahr 2012 erbringe die Klägerin auch im Landkreis Hildesheim sowie der Stadt Hildesheim Rettungsdienstleistungen. Im Unterscheid zur gemeinnützigen Gesellschaft für Sozialdienste und Krankentransporte mbH erbringe die hiesige Klägerin nur Rettungsdienstleistungen. Infolgedessen bewerbe sie sich nach Maßgabe des NRettdG und der vergaberechtlichen Vorschriften um die Erbringung von Rettungsdienstleistungen. Die Kosten des Rettungsdienstes, also insbesondere die Personal- und Sachkosten, seien von den Kostenträgern zu übernehmen. Kostenträger seien die Krankenkassen; hierzu schließe der öffentliche Auftraggeber mit den Krankenkassen eine entsprechende Vereinbarung. Um die Rettungsdienstaufträge würden sich in der Regel eine Vielzahl von Anbieter bewerben. Zu den größten Anbietern gehörten neben der Klägerin das Deutsche Rote Kreuz, die Malteser und die Johanniter Unfallhilfe. Der Beklagte erhebe als einziger Unfallversicherungsverband in Deutschland Beiträge für hauptamtlich im Rettungsdienst beschäftigte Personen. Die Vorschrift des § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII betreffe nicht nur Ehrenamtler. Dafür gebe es auch keinen Grund, denn § 128 grenze iVm § 129 SGB VII nur die Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger im Landesbereich von den kommunalen Unfallversicherungsträgern ab. Diese Abgrenzung habe aber an Bedeutung verloren. Entgegen der Auffassung des Beklagten sei die in § 185 Abs 2 SGB VII getroffene Feststellung zur Beitragsfreiheit auch keine politische Entscheidung für das Ehrenamt, sondern für die Frage, wer den Unfallversicherungsschutz im Rettungsdienst finanzieren soll. Die Klägerin könne als gemeinnütziger Rettungsdienstleister die Beitragslasten für die Unfallversicherung ohnehin nicht selbst tragen, sodass diese als Personalkosten nach dem NRettdG als Kosten des Rettungsdienstes durch die Aufgabenträger oder die Kostenträger zu erstatten seien. Die Gesetzesmaterialien enthielten keine Hinweise darauf, dass nur Ehrenamtler zur Rettung in Unglücksfällen beitragsfrei versichert seien. Auch der Verweis des Beklagten auf § 107 AEUV gehe fehl, denn die Klägerin beanspruche vorliegend keine Senkung der Arbeitskosten, sondern mache einen Befreiungstatbestand geltend.  Dementsprechend handele es sich um eine allgemeine Maßnahme, sodass es an der von § 107 AEUV vorausgesetzten Selektivität fehle.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten verwiesen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.

241. Die Klage ist als Anfechtungsklage nach § 54 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig.  Sie ist auch begründet.  Das SG hat den Beitragsbescheid des Beklagten für das Jahr 2011 zu Recht aufgehoben. Für die hauptberuflich im Rettungsdienst der Klägerin beschäftigten Mitarbeiter sind keine Beiträge zur Unfallversicherung zu erheben.

2. Der angefochtene Beitragsbescheid des Beklagten vom  21. März 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheids  vom 18. April 2011 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

a) Der Beklagte ist der zuständige Unfallversicherungsträger für alle im Rettungsdienst beschäftigten Mitarbeiter der Klägerin. In dieser Weise haben die Beteiligten die Zuständigkeit in dem von ihnen zur Erledigung der Auseinandersetzungen über die Zuständigkeit geschlossenen Vergleich vom 21. Dezember 2006  geregelt. Die Zuständigkeit des Unfallversicherungsträgers für alle – auch die hauptamtlich – im Rettungsdienst beschäftigten Mitarbeiter ergibt sich zudem unmittelbar aus der Vorschrift des § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII.  Insoweit wird auf die Ausführungen unter Ziffer 2 a)  aa) im Parallelverfahren zum Az: L 16 U 19/16 Bezug genommen.

b) Der Beklagte hat aber rechtsirrig verkannt, dass auch für die hauptamtlich in Unglückshilfeeinrichtungen – und damit im Rettungsdienst – Beschäftigten keine Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung erhoben werden. Das folgt aus § 185 Abs 2 S 1 iVm § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII. Auf die grundlegenden Ausführungen in den Entscheidungsgründen des Parallelverfahren L 16 U 19/16 unter Ziffer 2 a) bb)  wird verwiesen.

aa) Diese Beurteilung wird durch den Vortrag des Beklagten, Geschäftsgrundlage der gesetzlichen Unfallversicherung sei, dass Versicherungsschutz nur als Gegenleistung zu den von den Unternehmern zu entrichtenden Beiträgen gewährt werde, nicht erschüttert.  Zutreffend ist, dass die gesetzliche Unfallversicherung grundsätzlich aus Beiträgen der Unternehmer finanziert wird. Allerdings gibt es Ausnahmen von diesem Finanzierungsgrundsatz, etwa  für besondere Versichertengruppen, für die  ein Erstattungsanspruch nach § 186 Abs 3 S 3 bis 5 SGB VII besteht. Eine weitere Ausnahme bilden die hauptamtlich Beschäftigten in Unglückshilfeunternehmen, für die § 185 Abs 2 S 1 ivm § 128 Abs 1 Nr 6 SGB VII eine Sonderregelung trifft und diese Versicherten beitragsfrei stellt. Auf die entsprechenden Ausführungen im Parallelverfahren zum Az L 16 U 19/16 unter Ziffer 2 a) aa) (2) wird Bezug genommen.

bb) Entgegen der Auffassung des Beklagten hat die Klägerin auch in der Nebenabrede vom 17. November 2006 eine Beitragspflicht für die hauptamtlich im Rettungsdienst Beschäftigten nicht anerkannt. In der Nebenabrede wird ohne nähere Verifizierung  erklärt, dass der Beklagte für das Jahr 2005 den halben und ab 2006 den vollen Beitrag erhebt. Aus dieser allgemeinen Formulierung kann nicht geschlossen werden, dass sich die Klägerin zu einer Beitragszahlung für Versicherte verpflichtet, für die im Gesetz eine Beitragsfreiheit geregelt ist. Ausweislich des ersten Absatzes ist die Nebenabrede ausdrücklich  zur Erledigung der Auseinandersetzungen  um die Zuständigkeit des Beklagten geschlossen worden. Damit erfolgt eine Klarstellung in Bezug auf den die Zuständigkeitsfrage regelnden Vergleich. Die vertragliche Einführung einer Beitragspflicht für vom Gesetz beitragsbefreite Versicherte ist jedoch ein selbstständiger Vertragsgegenstand, der einer ausdrücklichen willensgetragenen Regelung beider Vertragspartner bedurft hätte. Es mag sein, dass Vergleich und Nebenabrede aufseiten des Beklagten auch von der Intention getragen war, neue beitragspflichtige Versicherte zu gewinnen, um aufgrund kommunaler Umstrukturierungen erlittene Verluste auszugleichen. Allerdings ist nicht erkennbar, dass die vom Beklagten vor diesem Hintergrund möglicherweise in Aussicht genommene Beitragspflicht für hauptamtlich Beschäftigte zur einvernehmlichen Vertragsgrundlage geworden ist.

cc) Eine andere Bewertung folgt auch nicht aus dem Prinzip der Haftungsersetzung nach §§ 104 ff SGB VII. Insbesondere erschließen sich weder aus Wortlaut noch  Systematik der §§ 104 ff SGB VII Anhaltspunkte für die Annahme des Beklagten, dass der Haftungsausschluss nach § 106 Abs 3 SGB VII ausdrücklich an ehrenamtlich handelnde Personen anknüpft.

Die Haftungsbeschränkung der Unternehmer  nach § 104 SGB VII regelt nach Sinn und Zweck die Ablösung der Haftpflicht der Unternehmer als einer der wesentlichen Grundlagen der gesetzlichen Unfallversicherung. An die Stelle des zivilrechtlichen Schadenersatzanspruchs gegenüber dem Unternehmer tritt der sozialrechtliche Sozialversicherungsanspruch  wegen des durch den Unternehmer verursachten Versicherungsfalls (Nehls in Hauck/Noftz, SGB VII, § 104 Rn 1 und 7,8; Ricke in Kasseler Kommentar, SGB VII, § 104 Rn 2, Stand April 2015).  Nach der ratio legis beruht die Haftungsfreistellung auf zwei Gesichtspunkten: zum einem auf dem Finanzierungsargument, sprich der alleinigen Beitragspflicht der Unternehmer; zum anderen zielt sie auf die Wahrung des Betriebsfriedens durch Vermeidung oder Verminderung von Streitigkeiten zwischen Unternehmer (Arbeitgeber) und Versicherten (Arbeitnehmer) ab. Die Haftungsfreistellung geht über die Haftungsersetzung durch Versicherungsschutz inzwischen erheblich hinaus und ist in weiten Teilen rechtspolitisch motiviert, (Waltermann in: Wannagat/Wenner/Eichenhoff, SGB VII, Stand 2010, § 104 Rn 5). Voraussetzung für das Haftungsprivileg ist die Erbringung einer Tätigkeit für den Unternehmer im  Versichertenstatus. Auch wenn die versicherte Tätigkeit nach § 2 Abs 1 S 1 Nr 1 SGB VII den Regelfall bildet (Nehls aaO Rn 22); ist  Versicherter, wer Versicherungsschutz genießt (Waltermann aaO, Rn 8). Das sind alle in § 2 Abs 1 SGB VII genannten Versichertengruppen. Nicht maßgeblich ist insoweit, in welchem Beschäftigtenstatus – ehrenamtlich (Nr 12) oder hauptamtlich (Nr 1)  – die Tätigkeit erbracht wird. Damit wird entgegen der Auffassung des Beklagten eine Differenzierung zwischen hauptamtlich und ehrenamtlich Tätigen in Bezug auf das Haftungsprivileg des Unternehmers gerade nicht vorgenommen. § 106 Abs 3 SGB VII dehnt die Haftungsfreistellung  auf Fälle aus, in denen Versicherte aus mehreren Unternehmen zur Hilfe bei Unglücksfällen vorübergehend zusammenwirken. Die hier betroffenen Versicherten wären nicht nach § 105 Abs 1 SGB VII gegenseitig haftungsbeschränkt. Dies gilt unabhängig davon, ob sie als hauptamtlich Beschäftigte oder als Ehrenamtler tätig werden, sondern ist allein dem Umstand geschuldet, dass  sie unterschiedlichen Unternehmen angehören. Die Haftungsbeschränkung für Versicherte, die andere Versicherte (Kollegen)  in Ausübung ihrer betrieblichen Tätigkeit schädigen, ist nach § 105 Abs 1 SGB VII auf Angehörige desselben Betriebs beschränkt. Deswegen erfolgt im Rahmen des Normzwecks in § 106 Abs 3 Alt 1 SGB VII ihre ausdrückliche Freistellung (Ricke, aaO, § 106 Rn 10, Stand September 2016).

dd) Ebenso wenig ist ein Verstoß gegen europäisches oder inländisches Kartellrecht oder die Wettbewerbsfreiheit ersichtlich.

Es ist für den Senat schon nicht nachvollziehbar, inwiefern sich ein einseitiger Wettbewerbsvorteil durch Einsparung von Unfallversicherungsbeiträgen für Mitarbeiter im Rettungsdienst ergeben soll. Wie bereits ausgeführt, sind die Unternehmer für Personen, die in Einrichtungen zur Hilfe bei Unglücksfällen tätig sind, von den Beiträgen zur Unfallversicherung befreit. Damit sind  alle Unternehmen, die im Rettungsdienst tätig sind, gleichermaßen von den Unfallversicherungsbeiträgen befreit und durch geringere Personalkosten begünstigt. Da die Privilegierung sämtlichen Rettungsdienstleistern zugutekommt, vermag sich eine einseitige Wettbewerbsverzerrung durch Ungleichbehandlung nicht zu erschließen.

(1) Zutreffend weist der Beklagte daraufhin, dass Träger des Rettungsdienstes in Niedersachsen das Land für die Luftrettung (§ 3 Abs 1 Nr 1 NRettdG) und im Übrigen die Kommunen sind (Abs 1 Nr 2). Den Trägern obliegt nach § 3 Abs 2 NRettdG der Rettungsdienst als Aufgabe des eigenen Wirkungskreises.  Die Vergabe der Durchführung der Rettungsdienstleistungen ist in § 5 Abs 1 NRettdG geregelt. Danach können  die Träger des Rettungsdienstes Dritte mit der Durchführung der Leistungen des Rettungsdienstes nach § 2 Abs 2 und der Einrichtung und Unterhaltung der Einrichtung nach § 4 Abs 4 ganz oder teilweise beauftragen. Die Beauftragung erfolgt entweder durch Erteilung eines Dienstleistungsauftrags (Abs 2 Nr 1) oder durch Erteilung  einer oder mehrerer Dienstleistungskonzessionen. Inwiefern die Vergabe von Dienstleistungsaufträgen oder Dienstleistungskonzessionen durch die Beitragsfreiheit der hauptamtlichen Mitarbeiter des Rettungsdienstes verzerrt werden soll, ist für den Senat nicht erkennbar.

(2) Entsprechende Anhaltspunkte ergeben sich auch nicht aus den vom Beklagten benannten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).

(a) Dem Urteil des EuGH vom 10. März 2011 –C 274/09 – liegt ein Rechtsstreit zwischen einem privaten Rettungsdienst und Krankentransport und dem Zweckverband für Rettungsdienst und Feuerwehralarmierung einer bayerischen Stadt zugrunde. In der Sache streiten die Parteien darum, ob diese Verträge als Dienstleistungsaufträge oder als Dienstleistungskonzessionen einzuordnen sind. Im Kern geht es um die Frage, ob mit der Beauftragung auch ein Betriebsrisiko der fraglichen Dienstleistungen auf die ausgewählten Leistungserbringer übertragen worden ist. Das Oberlandesgericht München hat die Fragestellungen zur Vorabentscheidung dem EuGH vorgelegt. Dementsprechend nimmt der EuGH grundsätzliche Ausführungen zum Betriebsrisiko nur unter dem Blickwinkel der Einordnung des Vertrages vor. Das Betriebsrisiko wird definiert als das Risiko, den Unwägbarkeiten des Marktes ausgesetzt zu sein. Genannt werden die allgemeingültigen Faktoren. Ein irgendwie gearteter Bezug zu der vorliegend streitbefangenen Frage der Beitragsfreiheit für hauptamtlich Beschäftigte im Rettungsdienst lässt sich den Ausführungen nicht entnehmen

(b) Auch der Verweis auf das Urteil des EuGH vom 29. April 2010 – C 160/08- verfängt nicht.

Dieser Entscheidung liegt ein Antrag der Kommission der Europäischen Gemeinschaft zugrunde, indem es ua um die Feststellung geht, ob die Bundesrepublik Deutschland gegen europäische Richtlinien verstoßen hat, indem sie Aufträge im Bereich öffentlicher Notfalltransportleistungen und qualifizierter Krankentransportleistungen nicht öffentlich ausgeschrieben bzw nicht transparent vergeben hat und dass sie keine Bekanntmachungen über vergebene Aufträge veröffentlich hat. In der Sache geht es somit um die Modalitäten des Vergabeverfahrens, die keine Aussage für die hier streitige Rechtsfrage erkennen lassen.

3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG iVm § 154 Abs 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 SGG iVm § 52 Abs 1 und 3, § 47 Abs 1 Gerichtskostengesetz (GKG).

4. Der Senat hat die Revision zugelassen, weil es zur Frage der Beitragsfreiheit der hauptamtlich im Rettungsdienst Beschäftigten, soweit ersichtlich, noch keine höchstrichterliche Rechtsprechung gibt. Dabei handelt es sich um eine klärungsbedürftige Rechtsfrage, deren Bedeutung über den Einzelfall hinausgeht, weil eine Mehrzahl ähnlich gelagerter Fälle vor dem Berufungsgericht anhängig ist.