BGH, Beschluss vom 10.12.2019 - XIII ZB 119/19
Fundstelle
openJur 2020, 2570
  • Rkr:
Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde wird der Beschluss des Vergabesenats des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 19. Dezember 2018 insoweit aufgehoben, als der Rechtsweg zu den Vergabenachprüfungsinstanzen für nicht eröffnet erklärt und das Verfahren an das Sozialgericht München verwiesen worden ist.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung an das Beschwerdegericht zurückverwiesen.

Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens trägt die Antragstellerin.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren wird auf bis 80.000 Euro festgesetzt.

Gründe

A. Die Antragsgegnerin zu 1 - eine gesetzliche Krankenkasse - schloss im Februar 2018 mit den Beigeladenen zu 1 bis 3 - den Apothekerverbänden in den Ländern B. , Br. und M. - Vereinbarungen über die Abrechnung von Grippeimpfstoff, der von einem Arzt als Sprechstundenbedarf gesetzlich Krankenversicherten in der Impfsaison 2018/20 verordnet werden sollte. Die Antragsgegnerin zu 1 verpflichtete sich in diesen Vereinbarungen, Apotheken jede Impfdosis mit 9,20 € netto zu vergüten, sollte der Arzt den Grippeimpfstoff wirkstoffbezogen und nicht produktbezogen verordnen, also nicht den Impfstoff eines bestimmten Herstellers verschreiben. Die Beigeladene zu 4 - eine Herstellerin von Grippeimpfstoff - sicherte der Antragsgegnerin zu 2 - einer Tochtergesellschaft des Beigeladenen zu 1, die für Apotheken den Einkauf von Grippeimpfstoff organisiert - in einer Vereinbarung von Februar 2018 zu, Apotheken zu einem Preis von maximal 7,55 € netto je Dosis mit Grippeimpfstoff zu beliefern.

Die Antragstellerin beantragte im Wege eines Nachprüfungsverfahrens gemäß § 160 Abs. 1 GWB festzustellen, dass die von den Antragsgegnerinnen zu 1 und 2 geschlossenen Verträge betreffend die Grippeimpfstoffversorgung in den Ländern B. , Br. und M. für die Impfsaison 2018/2019 unwirksam seien. Sie beantragte weiter, den Antragsgegnerinnen zu 1 und 2 aufzugeben, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht die Verträge nach den gesetzlichen Bestimmungen für die Vergabe öffentlicher Aufträge auszuschreiben, soweit dies nicht durch andere gesetzliche Vorschriften ausgeschlossen sei. Den Auftragswert gab die Antragstellerin mit 12,76 Millionen Euro netto an.

Mit Beschluss vom 15. Mai 2018 erklärte die Vergabekammer die Vereinbarungen der Antragsgegnerin zu 1 mit den Beigeladenen zu 1 bis 3 für unwirksam und gab der Antragsgegnerin zu 1 auf, ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer durchzuführen. In Bezug auf die Antragsgegnerin zu 2 verwarf die Vergabekammer den Nachprüfungsantrag als unzulässig.

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin zu 1 hat der Vergabesenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf den Beschluss der Vergabekammer insoweit aufgehoben, als die Vergabekammer festgestellt hat, dass die Vereinbarungen der Antragsgegnerin zu 1 mit den Beigeladenen zu 1 bis 3 unwirksam seien, und der Antragsgegnerin zu 1 aufgegeben worden ist, bei fortbestehender Beschaffungsabsicht ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung der Vergabekammer durchzuführen. Eine von der Antragstellerin eingelegte Anschlussbeschwerde hat der Vergabesenat als unzulässig verworfen. Er hat den Rechtsweg zu den Vergabenachprüfungsinstanzen für nicht eröffnet erklärt und das Verfahren an das Sozialgericht M. verwiesen. Mit ihrer vom Vergabesenat zugelassenen Rechtsbeschwerde begehrt die Antragsgegnerin zu 1 die Aufhebung des Beschlusses des Vergabesenats, soweit das Verfahren an das Sozialgericht verwiesen worden ist.

B. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und hat in der Sache Erfolg.

I. Das Beschwerdegericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet:

Der Rechtsweg zur Vergabekammer und zum Vergabesenat sei nicht eröffnet, da es an einem der Kontrolle der Vergabenachprüfungsinstanzen unterliegenden Vergabevorgang fehle. Die Antragsgegnerin zu 1 habe kein förmliches Vergabeverfahren durchgeführt. Es liege auch keine unzulässige Defacto-Vergabe vor, da es sich bei den mit den Beigeladenen zu 1 bis 3 getroffenen Vereinbarungen nicht - auch nicht aufgrund einer wertenden Gesamtschau - um öffentliche Aufträge handele. Weder vergaberechtliche noch sonstige Vorschriften verböten der Antragsgegnerin zu 1 ein Vertragsmodell auf der Grundlage von § 129 Abs. 5 SGB V. Da die Antragsgegnerin zu 1 zudem nicht verpflichtet sei, die Versorgung ihrer Mitglieder mit Grippeimpfstoffen durch die Erteilung öffentlicher Aufträge sicherzustellen, könne von einer Umgehung kartellvergaberechtlicher Ausschreibungspflichten keine Rede sein. Da es sich um eine Streitigkeit in Angelegenheiten der gesetzlichen Krankenversicherung gem. § 51 Abs. 1 Nr. 2 SGG handele, sei das Verfahren - auch ohne Antrag eines Verfahrensbeteiligten - an das sachlich und örtlich zuständige Sozialgericht M. zu verweisen.

II. Die Rechtsbeschwerde ist zulässig. Die Zulassung der Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof durch ein oberstes Landesgericht zur Klärung der Zulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs ist im Gesetz ausdrücklich vorgesehen, § 17a Abs. 4 Satz 5 GVG. Der Bundesgerichtshof ist an die Zulassung der Rechtsbeschwerde gebunden, § 17a Abs. 4 Satz 6 GVG.

III. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Eine Verweisung des Verfahrens an das Sozialgericht M. entsprechend § 17a GVG, die aus Gründen der Verfahrensökonomie und des effektiven Rechtsschutzes durch den Vergabesenat ausgesprochen werden kann, kommt hier nicht in Betracht, da sie nicht dem Interesse der Antragstellerin entspricht.

1. Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin zu 1 hat der Vergabesenat - abweichend von der Auffassung der Vergabekammer - den Nachprüfungsantrag gegen die Antragsgegnerin zu 1 als nicht statthaft angesehen. Dies wird von der Rechtsbeschwerde nicht angegriffen.

2. Eine Verweisung des nicht statthaften Nachprüfungsantrags an das Gericht eines anderen Rechtswegs durch einen Vergabesenat kommt grundsätzlich in Betracht und zwar in entsprechender Anwendung des § 17a GVG.

a) § 175 Abs. 2 i.V.m. § 73 Nr. 1 GWB ordnet an, welche Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes für das Verfahren vor dem Vergabesenat gelten. § 17a GVG wird hierbei nicht in Bezug genommen.

b) Wird die Entscheidung einer Vergabekammer mit der sofortigen Beschwerde zum Vergabesenat angefochten, liegt die Situation des § 17a GVG im Grunde nicht vor: Nach § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG verweist das angerufene Gericht den Rechtsstreit an das zuständige Gericht, wenn der beschrittene Rechtsweg zum angerufenen Gericht unzulässig ist. Nach § 171 Abs. 1 Satz 1 GWB ist gegen eine Entscheidung der Vergabekammer aber ausschließlich die sofortige Beschwerde zum Vergabesenat beim Oberlandesgericht statthaft. Aufgrund der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Beschluss vom 22. April 2008 - B 1 SF 1/08 R, VergabeR 2008, 693), die den Rechtsweg gegen Entscheidungen der Vergabekammern auch zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit als eröffnet angesehen hat, hat der Gesetzgeber durch Einführung des § 51 Abs. 3 SGG mit Wirkung zum 1. Januar 2011 klargestellt, dass Verfahren nach dem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen, die Rechtsbeziehungen nach § 69 SGB V betreffen, von der Zuständigkeit der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit ausgenommen sind.

c) Der Bundesgerichtshof hat unter Geltung der in den entscheidenden Punkten wortgleichen Vorgängervorschriften zu § 175 Abs. 2 i.V.m. § 73 Nr. 1 GWB dennoch die entsprechende Anwendung des § 17a GVG durch den Vergabesenat bejaht (BGH, Beschluss vom 18. Juni 2012 - X ZB 9/11, VergabeR 2012, 839 Rn. 6 - Abfallentsorgung II; BGH, Beschluss vom 23. Januar 2012 - X ZB 5/11, VergabeR 2012, 440 Rn. 6 - Rettungsdienstleistungen III), und zwar aus Gründen der Verfahrensökonomie und des effektiven Rechtsschutzes (BGH, VergabeR 2012, 839 Rn. 24 - Abfallentsorgung II).

d) Die Regelung des § 17a Abs. 5 GVG hindert die Verweisung durch den Vergabesenat - entgegen der Ansicht der Rechtsbeschwerde - nicht. Die Situation, die § 17a Abs. 5 GVG zugrunde liegt, liegt im Vergabenachprüfungsverfahren nicht vor: Nach § 17a Abs. 5 GVG prüft ein Rechtsmittelgericht, das über eine erstinstanzliche Entscheidung in der Hauptsache befindet, nicht mehr, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist. Wenn das erstinstanzliche Gericht den Rechtsweg für zulässig erachtet und in der Hauptsache entschieden hat, soll das weitere Verfahren nicht mehr mit dem Risiko eines später erkannten Mangels des gewählten Rechtswegs belastet werden (BT-Drucks. 11/7030, S. 36). Dies setzt aber voraus, dass das erstinstanzliche Gericht auf den richtigen Rechtsweg hätte verweisen können. Die Vergabekammer ist jedoch kein Gericht und kann daher auch nicht entsprechend § 17a GVG an das Gericht eines anderen Rechtswegs verweisen. Der Vergabesenat entscheidet im Vergabenachprüfungsverfahren im Übrigen nicht als Rechtsmittelgericht über die Entscheidung eines anderen Gerichts, sondern über die Entscheidung in einem behördlichen Verfahren (vgl. BGH, VergabeR 2012, 440 Rn. 24 - Rettungsdienstleistungen III). Daher kann nur der Vergabesenat eine Verweisung an das Gericht eines anderen Rechtswegs aussprechen.

3. Eine entsprechende Anwendung des § 17a GVG kommt jedoch dann nicht in Betracht, wenn Gründe der Verfahrensökonomie und des effektiven Rechtsschutzes eine Verweisung nicht rechtfertigen.

a) Der Bundesgerichtshof hat - entgegen der Ansicht des Beschwerdegerichts - bisher nicht ausgesprochen, dass die Verneinung der Statthaftigkeit eines Vergabenachprüfungsverfahrens in entsprechender Anwendung des § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG regelmäßig zur Verweisung in einen anderen zuständigen Rechtsweg führt. Der Bundesgerichtshof hat nur ausgesprochen, dass der Vergabesenat die Möglichkeit zur Verweisung des Rechtsstreits hat - und zwar aus Gründen der Verfahrensökonomie und des effektiven Rechtsschutzes (BGH, VergabeR 2012, 440 Rn. 24 - Rettungsdienstleistungen III). Aus der bisherigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ergibt sich allerdings nicht, in welchen Fällen die Verfahrensökonomie und der effektive Rechtsschutz eine Verweisung erfordern.

b) Gründe der Verfahrensökonomie und des effektiven Rechtsschutzes erfordern nur dann eine Verweisung entsprechend § 17a GVG, wenn der Rechtsuchende sein Rechtsschutzziel im anderen Rechtsweg weiterverfolgen will und weiterverfolgen kann. Nur in diesen Fällen hat der Vergabesenat bei Zweifeln über den zulässigen Rechtsweg durch eine bindende Verweisung des Verfahrens entsprechend § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG zu verhindern, dass eine Rechtsschutzlücke entsteht. Diese Situation liegt hier nicht vor.

aa) Die Antragstellerin hat ihren Nachprüfungsantrag auf § 135 Abs. 1 Nr. 2 GWB, also auf die rechtswidrig fehlende Auftragsbekanntmachung, gestützt. Das damit verfolgte Rechtsschutzziel kann sie nur im Vergabenachprüfungsverfahren erreichen, nicht aber vor den Sozialgerichten. Zwar ist eine Überprüfung der hier angegriffenen Vereinbarungen zwischen der Antragsgegnerin zu 1 und den Beigeladenen zu 1 bis 3 auf ihre Vereinbarkeit mit § 129 Abs. 5 SGB V vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit denkbar (vgl. Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 13. Juni 2018 - L 8 KR 229/18 B ER), jedoch lassen weder die im Vergabenachprüfungsverfahren gestellten Anträge noch der Vortrag der Antragstellerin erkennen, dass sie ihr Begehren - eventuell hilfsweise - auch auf einen Verstoß gegen sozialrechtliche Vorschriften stützen will. Die Antragstellerin hat im Gegenteil im Beschwerdeverfahren ausdrücklich erklärt, es gehe in dem von ihr angestrengten Nachprüfungsverfahren nicht um das sozialrechtliche "Ob", sondern ausschließlich um das vergaberechtliche "Wie". Die sozialrechtliche Form des Handelns sei ebenso unerheblich wie die Frage, ob und inwieweit dieses Handeln von einer hinreichenden sozialrechtlichen Ermächtigungsgrundlage gedeckt sei.

bb) Aufgrund dieses Vorbringens der Antragstellerin ist eine Verweisung des Rechtsstreits an die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit aus Gründen der Verfahrensökonomie und des effektiven Rechtsschutzes nicht geboten, da eine dort vorzunehmende Überprüfung anhand sozialrechtlicher Normen völlig neuen Vortrag der Parteien zu einem neuen rechtlichen Prüfungsmaßstab erfordern würde, den die Antragstellerin ihrem Rechtsschutzbegehren bisher nicht zugrunde gelegt hat und auch ausdrücklich nicht zugrunde legen wollte. Es kann dahinstehen, ob die Antragstellerin - wie die Rechtsbeschwerde geltend macht - sich vor dem Beschwerdegericht zudem ausdrücklich gegen eine Verweisung an das Sozialgericht verwehrt und erklärt habe, dass dies nicht ihrem Begehren entspreche.

cc) Ihr fehlendes Interesse an der Weiterführung des Rechtsstreits in einem anderen Rechtsweg musste die Antragstellerin auch nicht durch Rücknahme des Nachprüfungsantrags gegen die Antragsgegnerin zu 1 beim Beschwerdegericht zum Ausdruck bringen, da sie ansonsten um die verbindliche Klärung der hier streitigen Rechtsfrage durch den Vergabesenat gebracht worden wäre, ob ein öffentlicher Auftrag vorliegt.

IV. Der Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens wird, da nur über die Zulässigkeit der Rechtswegverweisung zu entscheiden ist, mit 1/10 des Bruttoauftragswerts entsprechend § 50 Abs. 2 GKG festgesetzt.

Meier-Beck Kirchhoff Tolkmitt Richterin am Bundesgerichtshof Dr. Picker ist erkrankt und kann deshalb nicht unterschreiben.

Meier-Beck Linder Vorinstanz:

OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 19.12.2018 - VII-Verg 40/18 -