VG Aachen, Beschluss vom 27.12.2019 - 10 Nc 11/19
Fundstelle
openJur 2020, 491
  • Rkr:
Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

2. Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung, mit der die Antragstellerin die vorläufige Zulassung zum Studium der Humanmedizin im 5. Fachsemester des Modellstudiengangs Medizin nach den Rechtsverhältnissen des Wintersemesters 2019/2020 bei der Antragsgegnerin anstrebt, ist unbegründet.

Es fehlt an der erforderlichen Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs (§ 123 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 VwGO i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zur vorläufigen Zulassung im 5. Fachsemester, weil die zur Verfügung stehenden Plätze kapazitätsdeckend besetzt sind.

Die Zahl der Studienplätze hat das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (MKW) durch Verordnung über die Festsetzung von Zulassungszahlen und die Vergabe von Studienplätzen in höheren Fachsemestern für das Wintersemester 2019/2020 vom 2. September 2019 (GV. NRW. 2019 S. 545) auf 254 festgesetzt.

Nach Mitteilung der Antragsgegnerin vom 15. Oktober 2019 (Stand: 14. Oktober 2019) sind 264 Studierende für das 5. Fachsemester eingeschrieben. Eine darüber hinausgehende Kapazität besteht nicht.

I. Die jährliche Ausbildungskapazität des integrierten Modellstudiengangs Medizin, der im Wintersemester 2003/2004 an der S. B. eingerichtet worden ist, lässt sich nicht mehr anhand der Verordnung über die Kapazitätsermittlung, die Curricularnormwerte und die Festsetzung von Zulassungszahlen (Kapazitätsverordnung - KapVO -) in der Neufassung vom 25. August 1994 (GV. NRW. S. 732), zuletzt geändert durch Verordnung vom 12. August 2003 (GV. NRW. S. 544), herleiten, weil die Erprobungsphase abgelaufen und es nunmehr rechtlich geboten ist, die wahre Kapazität dieses Studiengangs zu ermitteln.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 3. Juli 2015 - 13 B 113/15 -, juris, Rn. 4 ff., vom 18. April 2016 - 13 C 6/16 -, juris, Rn. 3 ff., vom 15. Mai 2017 - 13 B 110/17 -, juris, Rn. 3 ff., vom 18. April 2018 - 13 C 25/18 u. a. -, S. 3 ff., des Beschlussabdrucks (nicht veröffentlicht), und vom 18. April 2019 - 13 B 307/19 u. a. -, S. 3 ff. des Beschlussabdrucks (nicht veröffentlicht), alle zum Aachener Modellstudiengang Medizin.

1. Den geltenden Bestimmungen ist (weiterhin) nicht zu entnehmen, wie die Ausbildungskapazität in einem integrierten Modellstudiengang Medizin, der sich nicht mehr in der Erprobungsphase befindet, zu ermitteln ist. Die Ausbildungskapazität ist in Ermangelung einer den Verhältnissen des Modellstudiengangs Rechnung tragenden landesrechtlichen Grundlage zur Kapazitätsberechnung in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes vielmehr zunächst weiterhin fiktiv nach den Vorgaben der Kapazitätsverordnung zu berechnen.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 3. Juli 2015 - 13 B 113/15 -, juris, Rn. 41, vom 18. April 2016 - 13 C 6/16 -, juris, Rn. 40, vom 15. Mai 2017 - 13 B 110/17 -, juris, Rn. 4, vom 18. April 2018 - 13 C 25/18 u. a. -, S. 4 des Beschlussabdrucks, und vom 18. April 2019 - 13 B 307/19 u. a. -, S. 3 des Beschlussabdrucks.

Denn es ist grundsätzlich Sache des Gesetz- und Verordnungsgebers, eine Berechnungsmethode zur Ermittlung der Ausbildungskapazität normativ festzulegen, die den verfassungsrechtlichen Anforderungen, die an die Beschränkung des aus Art. 12 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG und dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten Rechts jedes hochschulreifen Bürgers auf Zulassung zu einem Hochschulstudium seiner Wahl zu stellen sind, genügt. Er muss, auch unter Beachtung des Kapazitätserschöpfungsgebots, einen Rechtsrahmen für Studiengänge schaffen, die in den bisherigen Regelungen nicht abgebildet sind. Dazu gehören nachvollziehbare und überprüfbare Kriterien und Regeln für die Ermittlung der Zahl der im Modellstudiengang zuzulassenden Studienbewerber. Geboten ist deshalb eine Regelung, nach der die Zulassungszahl ausgehend von dem integrierten Konzept des Modellstudiengangs festzusetzen ist. Dieser verfassungsrechtlichen Verpflichtung wird der nordrheinwestfälische Gesetz- und Verordnungsgeber derzeit nicht gerecht, weil jegliche Regelung zu den Modellstudiengängen für die Zeit nach Ablauf der Erprobung des neuen Studiengangs fehlt.

2. Daraus folgt aber weder, dass im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes sämtliche Anträge von rechtsschutzsuchenden Studienbewerbern von vornherein erfolglos wären, noch führt das Fehlen einer normativen Berechnungsmethode für den Modellstudiengang dazu, dass im Wege eines pauschalen Sicherzuschlags (etwa 15 %) mehr Plätze als festgesetzt zu vergeben oder sämtliche Studienbewerber bis zu einer sog. Grenze der Funktionsunfähigkeit der Hochschule nach Maßgabe der tatsächlichen Verhältnisse aufzunehmen wären. Diese Verfahrensweisen würden dem bei der Kapazitätsberechnung zu berücksichtigenden Spannungsfeld aus verfassungs- und einfachrechtlich geschützten Rechten der Studienbewerber, der (schon) Studierenden, der Hochschulen sowie der Hochschullehrer nicht gerecht. Die Studienbewerber haben deshalb auch bei Fehlen einer normativen Berechnungsgrundlage lediglich einen Anspruch auf eine erschöpfende Nutzung freigebliebener Kapazitäten. Solange andere plausible Rechenmodelle nicht zu höheren Kapazitäten führen, ist die Aufnahmekapazität demnach weiterhin (fiktiv) nach den Vorgaben der Kapazitätsverordnung zum früheren Regelstudiengang zu berechnen, was nach allen bisherigen Erkenntnissen studienbewerberfreundlich ist.

Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 3. Juli 2015 - 13 B 113/15 -, juris, Rn. 41, vom 18. April 2016 - 13 C 6/16 -, juris, Rn. 40, vom 15. Mai 2017 - 13 B 110/17 -, juris, Rn. 4, vom 18. April 2018 - 13 C 25/18 u. a. -, S. 4 des Beschlussabdrucks, und vom 18. April 2019 - 13 B 307/19 u. a. -, S. 4 des Beschlussabdrucks.

Ein geeigneteres plausibles Rechenmodell steht zum Wintersemester 2019/2020 nicht zur Verfügung. Auch liegen keine belastbaren Erkenntnisse dafür vor, dass die fiktive Berechnung nach den Vorgaben der Kapazitätsverordnung die wahre Ausbildungskapazität der Antragsgegnerin erkennbar verfehlt.

Vgl. hierzu OVG NRW, Beschlüsse vom 15. Mai 2017 - 13 C 7/17 -, juris, Rn. 18, und vom 18. April 2018 - 13 C 25/18 u. a. -, S. 6 des Beschlussabdrucks.

II. Die hiernach für den Studiengang Medizin, der in das zentrale Vergabeverfahren einbezogen ist, nach der derzeit geltenden Kapazitätsverordnung zu berechnende Ausbildungskapazität ermittelt sich dem Grunde nach aus einer Gegenüberstellung von Lehrangebot und Lehrnachfrage, ausgedrückt jeweils in Deputatstunden (DS). Dabei wird gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 KapVO der Studiengang Medizin für Berechnungszwecke in einen vorklinischen und einen klinischen Teil untergliedert, wobei der vorklinische Teil den Studienabschnitt bis zum Ersten Abschnitt der ärztlichen Prüfung nach § 1 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Approbationsordnung für Ärzte vom 27. Juni 2002 (BGBl. I, S. 2405 - ÄApprO n. F. -), zuletzt geändert durch Gesetz vom 15. August 2019 (BGBl. I, S. 1307), und der klinische Teil den Studienabschnitt zwischen dem Ersten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung und dem Beginn des Praktischen Jahres nach § 1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ÄAppO n. F. umfasst. Nach § 7 Abs. 3 Satz 2 KapVO sind dann zur Berechnung der jährlichen Aufnahmekapazität für den Studiengang Medizin die Lehreinheiten Vorklinische Medizin - umfassend das erste bis vierte Fachsemester -, Klinischtheoretische Medizin und Klinischpraktische Medizin zu bilden.

1. Das Lehrangebot in der Lehreinheit Klinischpraktische Medizin der S. B. beträgt gemäß der Kapazitätsermittlung der Hochschule nach § 4 Abs. 1 KapVO zum Berechnungsstichtag 15. September 2019 insgesamt 3.895 DS bei 700 Stellen. Diese werden entsprechend dem Stellenplan für das Wissenschaftliche Personal gebildet von 24 Universitätsprofessoren (W3) und 24 Universitätsprofessoren (W2) sowie 8 Akademischen Räten mit ständiger Lehrverpflichtung mit jeweils 9 DS, 2 Junior-Professoren mit jeweils 5 DS und 3 Junior-Professoren mit jeweils 4 DS, 47 Akademischen Oberräten auf Zeit mit jeweils 7 DS, 65 Akademischen Räten auf Zeit mit jeweils 4 DS, 168 Wissenschaftlichen Angestellten mit unbefristeten Arbeitsverträgen mit jeweils 8 DS und 359 Wissenschaftlichen Angestellten mit befristeten Arbeitsverträgen mit jeweils 4 DS.

Ausgehend von dieser personellen Ausstattung hat das MKW - basierend auf dem Bericht der Antragsgegnerin gemäß § 4 KapVO - unter Einbeziehung der weiter zu berücksichtigenden Parameter für den Krankenversorgungsabzug, die Lehrauftragsstunden, den Dienstleistungsbedarf, den gewichteten Curricularanteil und einen Schwundausgleichsfaktor für das Studienjahr 2019/2020 eine personalbezogene Kapazität der Lehreinheit Klinischpraktische Medizin von insgesamt 900 Studienplätzen ermittelt. Diese Berechnung ist nach der gebotenen und allein möglichen summarischen Prüfung nicht zu beanstanden.

2. Allerdings ist dieses Berechnungsergebnis für den klinischen Teil des Studiengangs Medizin gemäß § 17 Abs. 1 KapVO anhand der patientenbezogenen Einflussfaktoren zu überprüfen. Liegt das Berechnungsergebnis dieser Überprüfung niedriger als das des Zweiten Abschnitts, ist es gemäß § 17 Abs. 2 KapVO der Festsetzung der Zulassungszahl zugrunde zu legen. Dies ist hier nach der von der Antragsgegnerin im Verfahren vorgelegten Berechnung der Fall. Die Überprüfung nach § 17 Abs. 1 KapVO führt danach zu einer Zulassungszahl von 254 Studienplätzen im 5. Fachsemester.

a. Diese ergeben sich zunächst aus der Berechnung nach § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KapVO. Danach sind als patientenbezogene jährliche Aufnahmekapazität für den klinischen Teil des Studiengangs 15,5 % der Gesamtzahl der tagesbelegten Betten des Klinikums anzusetzen. In der von der Antragsgegnerin insoweit vorgenommenen Berechnung wurden 390.521 Pflegetage (einschließlich Privatpatienten von Chefärzten, die über Verträge nach "neuem Chefarztrecht" verfügen - sog. "Neuvertragler" -) veranschlagt. Dividiert man diese durch 365 Tage, errechnet sich eine Anzahl von 1.069,92 tagesbelegten Betten. 15,5 % von 1.069,92 tagesbelegten Betten ergeben gerundet 166 Studienplätze.

Vgl. dazu, dass der Wert von 15,5 % nach wie vor keiner gerichtlichen Korrektur bedarf: OVG NRW, Beschlüsse vom 5. Juni 2019 - 13 C 3/19 -, juris, Rn. 8 ff., m. w. N., und vom 25. Oktober 2019 - 13 C 49/19 u. a. -, S. 4 des Beschlussabdrucks.

Dabei begegnet es keinen rechtlichen Bedenken, dass bei der Ermittlung der tagesbelegten Betten nicht sämtliche Privatpatienten einbezogen wurden. Maßgeblich hierfür ist, dass die jeweiligen Stelleninhaber, die über sog. Altverträge verfügen, dienst- bzw. arbeitsrechtlich nicht dazu verpflichtet sind, Privatpatienten zu behandeln und dass Privatpatienten insoweit auch nicht Patienten des Klinikums sind. Deren fehlende Berücksichtigung verstößt auch nicht gegen das Kapazitätserschöpfungsgebot. Dieses richtet sich ausschließlich an die Hochschule als Trägerin öffentlicher Gewalt. In dieser Eigenschaft kann die Hochschule nur im Rahmen des geltenden Arbeits- bzw. Dienstrechts von den liquidationsberechtigten Klinikärzten eine mit der Lehre verbundene Krankenversorgung der Allgemeinpatienten als hauptamtliche Aufgabe verlangen.

Vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 9. September 2013 - 13 C 51/13 -, juris, Rn. 3 ff., vom 7. Mai 2018 - 13 C 20/18 -, juris, Rn. 22 ff., vom 5. Juni 2019 - 13 C 3/19 -, juris, Rn. 15 ff., und vom 25. Oktober 2019 - 13 C 49/19 u. a. -, S. 6 des Beschlussabdrucks.

Schließlich bestehen im Einklang mit der Rechtsprechung des OVG NRW keine Bedenken dagegen, dass der Berechnung der tagesbelegten Betten die sog. "Mitternachtsstatistik" zu Grunde gelegt wird. Die Zählweise, die am stationären Planbett anknüpft, geht von dem klassisch stationären Patienten aus, der sich in der Regel mehrtägig und während des gesamten Tages im Klinikum aufhalten wird. Die dazu gehörende Anknüpfung an "Übernachtungspatienten" ist ein folgerichtiger und sachlicher Gesichtspunkt. Es ist zwar unbestritten, dass Betten und Belegungstage in den letzten Jahren aus Gründen der Verringerung der Kosten zurückgegangen sind. Es liegt aber im gesetzgeberischen Einschätzungsermessen, in welchem Umfang Folgen aus dem Umstand der Verringerung der stationären Patientenressourcen zu ziehen sind.

Vgl. etwa OVG NRW, Beschlüsse vom 7. Mai 2018 - 13 C 20/18 -, juris, Rn. 8 ff., vom 8. April 2019 - 13 C 19/19 -, juris, Rn. 13 ff., und vom 25. Oktober 2019 - 13 C 49/19 u. a. -, S. 5 des Beschlussabdrucks, jeweils m. w. N.

Dass der Verordnungsgeber diesen Einschätzungsspielraum überschritten hat, ist nicht erkennbar.

b. Zu den zutreffend nach § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 KapVO ermittelten 166 Studienplätzen kommen 83 weitere hinzu. Diese ermitteln sich nach § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 KapVO. Danach führen die insgesamt 180.619 poliklinischen Neuzugänge grundsätzlich zu einer Erhöhung um einen Studienplatz je 1.000 poliklinischer Neuzugänge, hier also zu einer Erhöhung um - gerundet - 181 Studienplätze (vgl. § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Satz 1 KapVO). Allerdings ist diese Erhöhung auf 50 % der anhand der tagesbelegten Betten ermittelten Plätze gedeckelt (vgl. § 17 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Satz 2 KapVO), weshalb vorliegend eine Erhöhung um 83 Plätze (50 % von 166) vorzunehmen ist.

c. Hinsichtlich der sich so ergebenden Gesamtzahl von 249 Studienplätzen ist noch ein Schwundausgleichsfaktor von 1/0,98 zu berücksichtigen, wodurch sich die festgesetzte Zulassungszahl von 254 ergibt. Hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass die von der Antragsgegnerin angegebenen Daten in Zweifel zu ziehen sein könnten, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

Die so ermittelte Zulassungszahl von 254 ist durch die vorgenommenen 264 Einschreibungen überschritten und die vorhandene Kapazität somit erschöpft.

Ein etwaiger sinngemäß gestellter Hilfsantrag auf vorläufige Zulassung innerhalb der festgesetzten Kapazität bleibt ohne Erfolg, da diese Studienplätze durch die derzeitigen Einschreibungen belegt sind.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG und berücksichtigt, dass die begehrte Entscheidung die Hauptsache vorwegnimmt.

Zitiert0
Referenzen0
Schlagworte