VG Minden, Urteil vom 13.11.2019 - 10 K 2221/18.A
Fundstelle
openJur 2020, 373
  • Rkr:

1. Dublin-Rückkehrern, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben, deren Asylverfahren noch nicht durch eine bestandskräftige Sachentscheidung abgeschlossen ist und die vollständig auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, droht im Falle ihrer Überstellung nach Italien aufgrund systemischer Schwachstellen der dortigen Aufnahmebedingungen eine erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GrCh.

2. Den Ausführungen der Sachverständigen von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe misst das Gericht einen besonderen Erkenntniswert zu.

Tenor

Soweit der Kläger die Klage zurückgenommen hat, wird das Verfahren eingestellt.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24. Mai 2018 wird aufgehoben.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner wird nachgelassen, die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils beizutreibenden Betrags abzuwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der nicht durch amtliche Dokumente seines Herkunftsstaats ausgewiesene Kläger gibt an, die nigerianische Staatsangehörigkeit zu besitzen. Er reiste nach eigenen Angaben Ende April 2018 über Italien in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 4. Mai 2018 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag. Eine Eurodac-Anfrage des Bundesamts ergab für den Kläger einen Treffer der Kategorie 1, wonach er im Oktober 2016 in Italien einen Asylantrag gestellt hat. Das an die italienischen Behörden gerichtete Wiederaufnahmegesuch blieb unbeantwortet.

Mit Bescheid vom 24. Mai 2018, dem Kläger am 30. Mai 2018 gegen Empfangsbestätigung ausgehändigt, lehnte das Bundesamt seinen Asylantrag als unzulässig ab (Ziffer 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), und ordnete seine Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3). Außerdem befristete das Bundesamt das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, der Asylantrag des Klägers sei gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG unzulässig, weil nicht die Bundesrepublik Deutschland, sondern Italien für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig sei.

Hiergegen hat der Kläger am 1. Juni 2018 Klage erhoben und zusätzlich einen Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt.

Der Kläger hat zunächst beantragt,

den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24. Mai 2018 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 oder § 4 Asylgesetz zuzuerkennen.

Nunmehr beantragt der Kläger unter Rücknahme der Klage im Übrigen,

den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24. Mai 2018 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen,

und nimmt zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid Bezug.

Mit Beschluss vom 14. Juni 2018 - 10 L 667/18.A - hat das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage angeordnet.

Mit Schreiben vom 29. Oktober 2018 teilte das italienische Innenministerium dem Bundesamt mit, dass über den Asylantrag des Klägers nicht entschieden worden sei, nachdem dieser Italien am 23. Oktober 2018 verlassen habe.

In der mündlichen Verhandlung hat das Gericht die Sachverständige Romer von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur Situation von Dublin-Rückkehrern in Italien vernommen. Bezüglich ihrer Aussage wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung und wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsvorgänge des Bundesamts für den Kläger (2 Dateien) Bezug genommen.

Gründe

A. Das Gericht ist nicht gehindert, aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 zu entscheiden, obwohl ein Vertreter der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung nicht anwesend war. Denn die Beteiligten wurden unter Hinweis auf die Möglichkeit, dass das Gericht beim Ausbleiben der Beteiligten auch ohne sie verhandeln und entscheiden kann, geladen (§ 102 Abs. 2 VwGO).

B. Das Verfahren wird gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingestellt, soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 die Klage zurückgenommen hat.

C. Die verbleibende Klage hat Erfolg. Sie ist mit dem im Klageantrag enthaltenen Anfechtungsbegehren zulässig (I.) und begründet (II.).

I. Die innerhalb der Wochenfrist der §§ 74 Abs. 1 Halbsatz 2, 34a Abs. 2 Satz 1 und 3 AsylG erhobene Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) zulässig. Weist das Bundesamt einen Asylantrag - wie hier - mit der Begründung als unzulässig ab, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens eines Asylsuchenden zuständig sei, ist eine Anfechtungsklage statthaft.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Oktober 2015 - 1 C 32.14 -, BVerwGE 153, 162, Rn. 14 mit ausführlicher Begründung.

II. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 24. Mai 2018 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

1. Dies gilt zunächst für die unter Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids verfügte Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig. Diese Regelung lässt sich nicht auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a) AsylG stützen. Danach ist ein Asylantrag unter anderem dann unzulässig, wenn nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 31; im Folgenden: VO 604/2013) ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt: Zwar ist Italien gemäß Art. 23 Abs. 1 VO 604/2013 für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig [a)]. Diese Zuständigkeit ist zwischenzeitlich nicht aufgrund des Ablaufs von Fristen auf die Beklagte übergegangen [b)]. Jedoch entfällt die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013, weil die Lebensbedingungen in Italien für Dublin-Rückkehrer, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben und deren dortiges Asylverfahren noch nicht durch eine bestandskräftige Sachentscheidung abgeschlossen ist und die vollständig auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, systemische Schwachstellen aufweisen [c)] und keine Hinweise auf die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates vorliegen, so dass gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 VO 604/2013 die Beklagte zuständig geworden ist. Durch den unveränderten Fortbestand des Ausspruchs unter Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids trotz bestehender Zuständigkeit der Beklagten für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers ist dieser auch in seinen Rechten verletzt.

Vgl. etwa OVG NRW, Beschluss vom 11. November 2015- 13 A 1692/15.A -, juris Rn. 6.

a) Italien war ursprünglich i.S.d Art. 23 Abs. 1 VO 604/2013 für den Kläger zuständig. Nach dieser Norm kann ein Mitgliedstaat, in dem eine Person im Sinne des Art. 18 Abs. 1 lit. b), c) oder d) VO 604/2013 einen neuen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat und dieser Mitgliedstaat der Auffassung ist, dass nach Art. 20 Abs. 5 und Art. 18 Abs. 1 lit. b), c) oder d) VO 604/2013 ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig ist, den anderen Mitgliedstaat ersuchen, die Person wiederaufzunehmen. Diese Voraussetzungen liegen hier vor:

Der Kläger hat Italien ausweislich des Schreibens des italienischen Innenministeriums vom 29. Oktober 2018 während eines dort laufenden Asylverfahrens verlassen, sodass es sich bei ihm um eine Person i.S.d. Art. 18 Abs. 1 lit. b) VO 604/2013 handelt. Folglich ist Italien für ihn zuständig. Die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs setzt gemäß Art. 23 Abs. 1 VO 604/2013 nicht voraus, dass die Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaats für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz feststeht. Vielmehr muss der ersuchte Mitgliedstaat den Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 5 oder Art. 18 Abs. 1 lit. b), c) oder d) VO 604/2013 genügen.

Vgl. EuGH, Urteil vom 2. April 2019 - C-582/17 u.a. (H. u.a.) -, www.curia.europa.eu, Rn. 61 ff.

b) Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers ist zwischenzeitlich nicht auf die Beklagte übergegangen. Das Bundesamt hat die Frist für die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs eingehalten [aa)]. Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers ist auch nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 VO 604/2013 aufgrund des Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Beklagte übergegangen [bb)].

aa) Das Wiederaufnahmegesuch ist vor Ablauf der Frist für die Stellung eines solchen Gesuchs bei den italienischen Behörden eingegangen. Angesichts dessen, dass für den Kläger am 25. April 2018 ein Eurodac-Treffer erzielt wurde und er seinen Angaben zufolge am 24. April 2018 nach Deutschland eingereist ist, wahrt das am 8. Mai 2018 bei den italienischen Behörden eingegangene Wiederaufnahmegesuch sowohl die Zweimonatsfrist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 VO 604/2013 ab Erhalt des Eurodac-Treffers als auch die die Zweimonatsfrist begrenzende

- vgl. EuGH, Urteil vom 26. Juli 2017 - C-670/16 (Mengesteab) -, juris Rn. 63 ff.; OVG NRW, Beschluss vom 6. September 2017- 11 A 1810/15.A -, juris Rn. 12 -

Dreimonatsfrist des Art. 23 Abs. 1 Unterabs. 2 VO 604/2013 ab Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz.

bb) Die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 VO 604/2013 ist ebenfalls gewahrt. Nach dieser Norm erfolgt die Überstellung in den zuständigen Mitgliedstaat, sobald sie praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch den anderen Mitgliedstaat (Alt. 1) oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 VO 604/2013 aufschiebende Wirkung hat (Alt. 2).

Diese Frist begann gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 1 VO 604/2013 mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs zu laufen. Im vorliegenden Fall gilt die Annahme gemäß Art. 25 Abs. 2 VO 604/2013 als am 23. Mai 2018 erteilt, weil die italienischen Behörden das bei ihnen am 8. Mai 2018 eingegangene Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts nicht innerhalb von zwei Wochen beantwortet haben. Dementsprechend endete die Überstellungsfrist zunächst am 23. November 2018. Jedoch wurde diese Frist durch den am 1. Juni 2018 und damit vor ihrem Ablauf beim Verwaltungsgericht eingegangenen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes unterbrochen und beginnt diese Frist aufgrund der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der im vorliegenden Verfahren erhobenen Klage mit Beschluss vom 14. Juni 2018 - 10 L 667/18.A - erst dann wieder zu laufen, wenn das vorliegende Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen werden sollte und diese Entscheidung in Rechtskraft erwächst.

c) Jedoch entfällt die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013. Danach setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Art. 8 bis 15 VO 604/2013 vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen. Letzteres ist hier der Fall.

aa) Aufgrund des zwischen den Mitgliedstaaten geltenden Grundsatzes des gegenseitigen Vertrauens hat jeder Mitgliedstaat - abgesehen von außergewöhnlichen Umständen - davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Folglich gilt im Kontext des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und insbesondere der Verordnung (EU) 604/2013 die Vermutung, dass die Behandlung Asylsuchender in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) - sowie der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten - Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) - steht.

Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. (N.S. u.a.) -, NVwZ 2012, 417, Rn. 78 ff., sowie vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, InfAuslR 2019, 236, Rn. 81 f., und - C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) -, Asylmagazin 2019, 195, Rn. 84 f.

Diese Vermutung ist zwar nicht unwiderleglich, jedoch ist die Widerlegung dieser Vermutung wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Daher steht nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Regeln für das gemeinsame Asylsystem der Überstellung eines Asylsuchenden in den zuständigen Mitgliedstaat entgegen. Dies wäre mit den Zielen und dem System der Verordnung (EU) 604/2013 unvereinbar.

Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. (N.S. u.a.) -, NVwZ 2012, 417, Rn. 81 ff., sowie vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, InfAuslR 2019, 236, Rn. 84 und 91 f.

bb) Das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Art. 4 GRCh ist entsprechend Art. 52 Abs. 3 GrCh unter Berücksichtigung von Art. 3 EMRK und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte auszulegen.

Vgl. EuGH, Urteile vom 16. Februar 2017 - C-578/16 PPU (C.K. u.a.) -, ZAR 2017, 172, Rn. 67 f., sowie vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, InfAuslR 2019, 236, Rn. 91, und - C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) -, Asylmagazin 2019, 195, Rn. 89 f.

Art. 4 GrCh steht der Überstellung einer Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in einen anderen Mitgliedstaat entgegen, sofern im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte festzustellen ist, dass sie in diesem Mitgliedstaat einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren.

Vgl. EuGH, Urteile vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 u.a. (N.S. u.a.) -, NVwZ 2012, 417, Rn. 94 und 106, vom 16. Februar 2017 - C-578/16 PPU (C.K. u.a.) -, ZAR 2017, 172, Rn. 65 und 96, sowie vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, InfAuslR 2019, 236, Rn. 85 und 98.

Dies gilt aufgrund des allgemeinen und absoluten Charakters des Art. 4 GrCh in allen Situationen, in denen ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass ein Asylsuchender bei oder infolge seiner Überstellung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung erfährt. Dementsprechend ist es für die Anwendung des Art. 4 GrCh unerheblich, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss zu einer solchen Behandlung kommt und ob systemische oder allgemeine oder bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen des Asylsystems in dem anderen Mitgliedstaat vorliegen

- vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, Inf-AuslR 2019, 236, Rn. 87, 88 und 90, sowie - C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) -, Asylmagazin 2019, 195, Rn. 87 und 88 -

oder ob es unabhängig vom Vorliegen solcher Schwachstellen zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kommt.

Vgl. EuGH, Urteil vom 16. Februar 2017 - C-578/16 PPU (C.K. u.a.) -, ZAR 2017, 172, Rn. 96, sowie vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, InfAuslR 2019, 236, Rn. 87.

Ein Verstoß gegen Art. 4 GrCh liegt aber nur dann vor, wenn die drohende Behandlung eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht, die von sämtlichen Umständen des Einzelfalles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle ist grundsätzlich erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden ("Fehlen von Bett, Brot, Seife") und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.

Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, Inf-AuslR 2019, 236, Rn. 91 f., sowie - C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) -, Asylmagazin 2019, 195, Rn. 89 f.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 40.

Bereits ein relativ kurzer Zeitraum, während dessen sich eine Person in einer Situation extremer materieller Not befindet, reicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 4 GrCh zu begründen. Dabei ist auch zu beachten, dass den Rechten, die die Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337, S. 9, sog. Qualifikationsrichtlinie) sowie die Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 60, sog. Verfahrensrichtlinie) Personen, die einen Asylantrag gestellt haben, einräumen, die tatsächlichen Wirkungen genommen würden, wenn sie selbst während einer relativ kurzen Zeitspanne nicht mit einer Befriedigung ihrer elementarsten Bedürfnisse einhergingen.

Vgl. EuGH, Urteile vom 27. Februar 2014 - C-79/13 (Saciri u.a.) -, InfAuslR 2014, 190, Rn. 35 (zu Art. 13 Abs. 1 RL 2003/9/EG), sowie vom 12. November 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, www.curia.europa.eu, Rn. 46 ff. (zu Art. 20 RL 2013/33/EU); Generalanwalt Sanchez-Bordona, Schlussanträge vom 6. Juni 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris Rn. 78 f.

Dagegen reichen große Armut, eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse oder der Umstand, dass im ersuchenden Mitgliedstaat höhere Sozialleistungen gewährt werden und/oder dort die Lebensverhältnisse günstiger sind als im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat, allein nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 4 GrCh zu begründen. Dasselbe gilt für Mängel bei der Integration von anerkannten Schutzbedürftigen und den Umstand, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen oder ihn gewährt bekommen haben, im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat anders als Einheimische in der Regel nicht über familiäre Verbindungen verfügen.

Vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, Inf-AuslR 2019, 236, Rn. 93 ff., sowie - C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) -, Asylmagazin 2019, 195, Rn. 91 ff.

cc) Einer drohenden Verletzung von Art. 4 GRCh kann im konkreten Einzelfall dadurch vorgebeugt werden, dass der überstellende Staat die Überstellung im Zusammenwirken mit dem anderen Mitgliedstaat so organisiert, dass eine solche Verletzung nicht eintreten kann. Es kann daher sowohl verfassungsrechtlich als auch konventionsrechtlich geboten sein, dass sich die zuständigen Behörden und Gerichte vor einer Abschiebung in den Drittstaat über die dortigen Verhältnisse informieren und gegebenenfalls Zusicherungen der zuständigen Behörden einholen.

Vgl. EGMR, Urteile vom 21. Januar 2011 - 30696/09 (M.S.S.) -, NVwZ 2011, 413, Rn. 353 f. und vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, NVwZ 2015, 127, Rn. 120 ff.; BVerfG, Beschlüsse vom 17. April 2015 - 2 BvR 602/15 -, juris Rn. 5; vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -, juris Rn. 16 f.; vom 31. Juli 2018 - 2 BvR 714/18 -, juris Rn. 19 f. und vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 -, juris Rn. 16.

dd) Bei der Feststellung, ob einem Asylsuchenden in einem Mitgliedstaat eine Art. 4 GRCh widersprechende Behandlung droht, haben die verfahrensrechtlichen Anforderungen an die Sachverhaltsaufklärung dem hohen Wert des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nach Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG Rechnung zu tragen. In Fällen, in denen es um die Beurteilung der Aufnahmebedingungen in einem Drittstaat als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh geht, kommt der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verfassungsrechtliches Gewicht zu. Die gerichtliche Beurteilung möglicherweise gegen Art. 4 GRCh verstoßender Aufnahmebedingungen muss daher, jedenfalls wenn diese ernsthaft zweifelhaft sind, auf einer hinreichend verlässlichen, auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage

- vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -, juris Rn. 16, vom 31. Juli 2018 - 2 BvR 714/18 -, juris Rn. 19 und vom 10. Oktober 2019 - 2 BvR 1380/19 -, juris Rn. 15 -,

die zudem fortlaufend gebührend aktualisiert werden muss

- vgl. EuGH, Urteile vom 19. März 2019 - C-163/17 (Jawo) -, InfAuslR 2019, 236, Rn. 90, und - C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) -, Asylmagazin 2019, 195, Rn. 88; BVerfG, Beschlüsse vom 27. März 2017 - 2 BvR 681/17 -, juris Rn. 11, und vom 25. April 2018 - 2 BvR 2435/17 -, juris Rn. 34 -,

erfolgen.

ee) Die Frage, ob die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 vorliegen, beurteilt sich entgegen § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht allein nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, sondern wegen des unionsrechtlichen Anwendungsvorrangs des Art. 7 Abs. 2 VO 604/2013 zusätzlich nach den Verhältnissen zum Zeitpunkt der erstmaligen Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat. Das bedeutet, dass auch ein Entfallen von systemischen Schwachstellen im Asylsystem im betreffenden Mitgliedstaat nach der erstmaligen Stellung eines Asylantrags und der Einreise des Asylsuchenden in das Bundesgebiet nicht eine (erneute) Zuständigkeit dieses Mitgliedstaats begründen kann. Nur so kann den unionsrechtlichen Erfordernissen eines klaren und praktikablen Zuständigkeitssystems, das zeitnah zu einer sachlichen Prüfung des Antrags zumindest in einem Mitgliedstaat führt und das einen potentiellen ständigen Wechsel der Zuständigkeit verbietet, genügt werden.

Vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 5. Juli 2016 - A 11 S 974/16 -, InfAuslR 2016, 391 (juris Rn. 26); OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2017 - 11 A 52/17.A -, juris Rn. 43; a.A. ohne weitere Diskussion wohl VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 42 ("im maßgebenden Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung").

ff) Gemessen an dem vorstehend unter aa) bis ee) dargelegten rechtlichen Maßstab liegen die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 für Dublin-Rückkehrer, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben, deren Asylverfahren noch nicht durch eine bestandskräftige Sachentscheidung abgeschlossen ist und die vollständig auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, jedenfalls zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor. Das italienische Asylsystem weist eine diese Personengruppe betreffende Schwachstelle auf, weil die Lebensbedingungen für Angehörige dieser Gruppe gegen Art. 4 GRCh verstoßen [(1)]. Auch unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie der obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland ergibt sich keine andere Bewertung [(2)]. Eine belastbare Zusicherung der italienischen Behörden, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Italien in eine Unterkunft aufgenommen wird, liegt nicht vor [(3)].

(1) Dublin-Rückkehrern, die in Italien - wie der Kläger - ausweislich des für sie für Italien erzielten Eurodac-Treffers der Kategorie 1 bereits einen Asylantrag gestellt haben, deren Asylverfahren - wie das des Klägers - noch nicht durch eine bestandskräftige Sachentscheidung abgeschlossen ist und die - wie der Kläger - vollständig auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, droht anders als nicht vulnerablen Dublin-Rückkehrern, die in Italien noch keinen Asylantrag gestellt haben

- vgl. zu diesen VG Minden, Urteil vom 27. Januar 2016 - 10 K 535/15 -, juris Rn. 65 ff., sowie Beschlüsse vom 19. Juni 2019 - 10 L 372/19.A -, und vom 2. Mai 2019 - 10 L 531/19.A - (jeweils unveröffentlicht) -,

aufgrund der nachfolgend unter (a) bis (e) dargestellten Lebensbedingungen in Italien im Falle ihrer Überstellung dorthin aufgrund systemischer Schwachstellen der dortigen Aufnahmebedingungen eine erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 4 GrCh.

Vgl. VG Minden, Urteil vom 15. Februar 2016 - 10 K 376/15.A -, juris Rn. 62 ff.; VG Hannover, Beschlüsse vom 8. Februar 2019 - 5 B 456/19 -, juris Rn. 33 ff., und vom 4. September 2019 - 5 B 11115/17 -, juris Rn. 13; a.A. OVG NRW, z.B. Urteile vom 6. Juli 2016 - 13 A 1476/15.A -, juris Rn. 67 ff., und vom 7. Juli 2016 - 13 A 2302/15.A -, juris Rn. 65 ff.; Niedersächsisches OVG, z.B. Urteil vom 4. April 2018 - 10 LB 96/17 -, juris Rn. 32 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 42 ff.; VG Trier, Urteil vom 10. Juli 2019 - 7 K 3478/18.TR -, juris Rn. 28 ff.

Entgegen der Darstellung des Bundesamts im Schriftsatz vom 26. September 2019 wird nicht jeder Dublin-Rückkehrer in Italien mit einer Unterkunft versorgt. Dies gilt insbesondere für die Dublin-Rückkehrer, denen das Recht auf Unterbringung zuvor entzogen wurde [dazu nachfolgend (b)]. Dies trifft auf Dublin-Rückkehrer, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben, in der Regel zu [dazu nachfolgend (c)], so dass Angehörige dieser Gruppe nach ihrer Überstellung nach Italien in der Regel weder in einer staatlichen Unterkunft aufgenommen werden, noch ihnen mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit eine adäquate Unterkunft durch karitative Organisationen oder Privatpersonen zur Verfügung gestellt wird.

(a) Allerdings verfügt Italien derzeit über ausreichend Unterbringungsplätze. Anfang Dezember 2018 soll Italien insgesamt über etwa 175.000 Unterbringungsplätze verfügt haben.

Vgl. Bundesamt, Das italienische Asylsystem und die Änderungen durch das Salvini Decreto Legge, 10. Januar 2019, S. 5.

Dazu sollen etwa 35.000 Plätze in SIPROIMI-Einrichtungen gezählt haben

- vgl. Asylum Information Database (aida), Country Report: Italy, April 2019, S. 145 -,

in die jedoch seit Oktober 2018 nur noch anerkannte Schutzberechtigte und unbegleitete Minderjährige aufgenommen werden.

Vgl. Bundesamt, Das italienische Asylsystem und die Änderungen durch das Salvini Decreto Legge, 10. Januar 2019, S. 3; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SF), Aktuelle Situation in Italien, 11. Januar 2019, S. 6.

Angesichts des starken Rückgangs der neu in Italien eintreffenden Asylsuchenden

- vgl. Danish Refugee Council (DRC)/ SF, Mutual trust is still not enough, 12. Dezember 2018, S. 5 f.; UNHCR, Italy weekly snapshot, 30. Dezember 2018; SF, Aktuelle Situation in Italien, 11. Januar 2019, S. 2 -

ist das italienische Unterbringungssystem nicht mehr so stark belastet wie in den Vorjahren. Dementsprechend sollen Anfang Dezember 2018 etwa 34.000 Plätze verfügbar gewesen sein.

Vgl. Bundesamt, Das italienische Asylsystem und die Änderungen durch das Salvini Decreto Legge, 10. Januar 2019, S. 5.

Zwar ist davon auszugehen, dass sich diese Zahl im Laufe des Jahres 2019 aufgrund der Schließung von Unterbringungszentren wesentlich verringert hat. Es liegen jedoch keine Anhaltpunkte dafür vor, dass die Zahl der insgesamt vorhandenen Unterbringungsplätze wesentlich unter 150.000 gesunken ist, zumal nach Einschätzung der Sachverständigen Romer davon auszugehen ist, dass Personen ohne spezielle Bedürfnisse, die - anders als der Kläger - in Italien noch nicht in einer Unterkunft für Asylsuchende untergebracht waren, derzeit innerhalb von vier Wochen Zugang zu einer Unterkunft erhalten.

Vgl. Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. Dezember 2019 in den Verfahren 10 K 7608/17.A u.a., S. 11 und 16.

Den Ausführungen der Sachverständigen Romer, die für die Schweizerische Flüchtlingshilfe arbeitet, misst das Gericht einen besonderen Erkenntniswert zu. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe berichtet seit Jahren über die Situation von Asylsuchenden in Italien - der älteste dem Gericht diesbezüglich vorliegende Bericht datiert vom Mai 2011 - und führt zu diesem Zweck regelmäßig Aufklärungsreisen nach Italien durch, um sich aus erster Hand über die dortige Lage zu informieren. In diesem Rahmen befasst sich die Sachverständige Romer zumindest seit 2016 mit der Situation von Asylsuchenden in Italien. Sie war in diesem Zusammenhang mehrfach selbst in Italien und hat die maßgeblichen Berichte der Schweizerischen Flüchtlingshilfe hierzu mitverantwortet.

Vgl. SF, Auskünfte an das OVG NRW, 7. April 2016 und 18. Mai 2016, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, Aktuelle Situation in Italien, 11. Januar 2019, sowie Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8. Mai 2019; DRC/SF, Is Mutual Trust Enough? The Situation of Persons with Special Reception Needs upon Return to Italy, 9. Februar 2017, sowie Mutual Trust is Still not Enough - The Situation of Persons with Special Reception Needs Transferred to Italy under the Dublin III Regulation, 12. Dezember 2018.

(b) Jedoch sieht Art. 23 Abs. 3 des Decreto Legislativo 18 agosto 2015, n. 142 (Dekret 142/2015) vor, dass der Präfekt der Region, in welcher die für den Asylsuchenden zuständige Unterbringungseinrichtung liegt, aufgrund einer Einzelfallbetrachtung über den Entzug des Rechts auf Unterbringung entscheidet, wenn der Asylsuchende die Einrichtung ohne Benachrichtigung der Präfektur verlassen hat oder dort, obwohl er einer solchen Einrichtung zugewiesen wurde, gar nicht erst einzieht.

Vgl. aida, Country Report: Italy, April 2019, S. 86 f.

Diese Regelung findet sowohl auf Erst- als auch auf Zweitaufnahmeeinrichtungen Anwendung.

Vgl. Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 7608/17.A u.a., S. 19.

Ist ein Asylsuchender für mehr als 72 Stunden unentschuldigt abwesend oder bezieht er eine ihm zugewiesene Unterkunft gar nicht erst, wird sein Name durch den Betreiber der Einrichtung der zuständigen Präfektur gemeldet. Daraufhin entzieht der Präfekt dem Asylsuchenden das Recht auf Unterbringung, indem er dessen Namen, ohne ihm dies mitzuteilen, auf eine bei der Präfektur geführte Liste setzt. Mit dem Entzug der Unterkunft verliert der Asylsuchende auch den Zugang zu allen weiteren in der Unterkunft erbrachten staatlichen Leistungen. Dieses Verfahren wird zur Überzeugung des Gerichts nicht nur im Einzelfall, sondern regelhaft durchgeführt, wenn ein Asylsuchender seine Unterkunft unentschuldigt verlässt oder dort nicht erscheint. Eine Studie, die auf Angaben von 58 der 100 italienischen Präfekturen aus den Jahren 2016 und 2017 beruht, ergab, dass in diesem Zeitraum allein in den an der Studie beteiligten Präfekturen circa 40.000 Asylsuchenden das Recht auf Unterkunft entzogen wurde. Zwar kann der Präfekt die Wiederaufnahme von Asylsuchenden in die Unterkunft verfügen, wenn diese sich auf höhere Gewalt, unvorhersehbare Umstände oder schwerwiegende persönliche Gründe berufen. Jedoch haben sowohl ein solcher Antrag als auch ein sich ggf. anschließendes Gerichtsverfahren nur äußerst geringe Erfolgsaussichten und dauern sowohl das behördliche als auch im Falle einer abschlägigen Entscheidung des Präfekten das gerichtliche Verfahren in Abhängigkeit von der jeweiligen Region mehrere Monate. In dieser Zeit hat der Asylsuchende kein Recht auf Unterbringung.

Vgl. aida, Country Report: Italy, April 2019, S. 86 f.; SF, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8. Mai 2019, S. 14; borderlineeurope (be), Stellungnahme zu der derzeitigen Situation von Geflüchteten in Italien mit besonderem Blick auf die Unterbringung, 3. Mai 2019, S. 5; Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 7608/17.A u.a., S. 19 ff.

Geldleistungen für Asylsuchende, die nicht in einer staatlichen Unterkunft untergebracht sind, sind im italienischen Recht nicht vorgesehen.

Vgl. aida, Country Report: Italy, Februar 2017, S. 66, März 2018, S. 76, und April 2019, S. 86.

Von Kirchen, Kommunen, Wohltätigkeitsorganisationen und Privatpersonen gestellte Unterbringungsmöglichkeiten bieten keinen adäquaten Ersatz für eine fehlende staatliche Unterbringung. Es gibt keine valide Datenlage zum Umfang der hierdurch bereitgestellten Plätze. Der aktuelle aida-Bericht benennt beispielhaft nur um die 1.000 Plätze. In einigen Regionen wurde diese Art der Unterbringung zudem staatlicherseits unterbunden. Auch das United Kingdom Upper Tribunal (UKUT) gelangt in seiner Entscheidung vom 4. Dezember 2018 aufgrund der während einer Aufklärungsreise des United Kingdom Home Office (UKHO) u.a. beim UNHCR und der Caritas in Italien erhobenen Informationen zu dem Ergebnis, dass die so bereitgestellten Plätze eine nur geringe Entlastung des staatlichen Aufnahmesystems bewirken. Diese Plätze werden zum Teil in besonderen Notlagen ad hoc geschaffen, befinden sich zumeist in abgelegenen Gebieten und sind daher für Asylsuchende oft nicht aufgrund eigener Anstrengungen zu erreichen.

Vgl. UKUT, Urteil vom 4. Dezember 2018 - R (on the application of SM & Others) v Secretary of State for the Home Department (Dublin Regulation - Italy) -, [2018] UKUT 00429 (IAC), Rn. 138 ff.; aida, Country Report: Italy, April 2019, S. 86 f., 95 f.; Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 2275/19.A u.a., S. 7.

Betroffene sind daher im Falle ihrer Überstellung ohne ausreichende Geldmittel auf Bekannte oder Notunterkünfte angewiesen, ansonsten droht ihnen Obdachlosigkeit oder ein Leben in informellen Siedlungen oder verlassenen Gebäuden zu den dort üblichen erbärmlichen Bedingungen, insbesondere in hygienischer Sicht. Statistische Zahlen zur Anzahl der betroffenen Personen gibt es nicht. Es handelt sich jedoch um mehr als ein paar Einzelfälle. Im Februar 2018 sollen mindestens 10.000 Personen faktisch von der Unterbringung ausgeschlossen gewesen sein, darunter Asylsuchende, anerkannte Schutzberechtigte, Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, durchziehende Migranten, deren Ziel ein anderer (Mitglied-) Staat ist, und ausländische Saisonarbeiter.

Vgl. UKUT, Urteil vom 4. Dezember 2018 - R (on the application of SM & Others) v Secretary of State for the Home Department (Dublin Regulation - Italy) -, [2018] UKUT 00429 (IAC), Rn. 214, 217 f., 238 f., 241 ff.; 301 f., 311; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich (BFA), Länderinformationsblatt Italien, Stand: 26. Februar 2019, S. 18; aida, Country Report: Italy, April 2019, S. 82 f.; Bundesamt, Entscheiderbrief 5/2019, S. 7, Fn. 4; SF, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 8. Mai 2019, S. 12 und 21.

Angesichts dessen, das eine valide statistische Datengrundlage fehlt, rechnet das Gericht mit einer beträchtlichen Dunkelziffer.

(c) Ausgehend von den Ausführungen unter (b) ist das Gericht davon überzeugt, dass Asylsuchenden, die bereits in Italien einen Asylantrag gestellt haben und die Italien während ihres laufenden Asylverfahrens verlassen haben, anders als Asylsuchenden, die in Italien noch keinen Asylantrag gestellt haben, in der Regel das Recht auf Unterbringung entzogen wurde. Zwar steht Asylsuchenden rechtlich ein Anspruch auf Unterbringung ab ihrer Erstregistrierung (fotosegnalemento) zu

- vgl. aida, Country Report: Italy, April 2019, S. 82 -,

jedoch wird Asylsuchenden in der Praxis in der Regel erst nach der förmlichen Aufnahme ihres Asylantrags (verbalizzazione) eine Unterkunft zugewiesen.

Vgl. UKUT, Urteil vom 4. Dezember 2018 - R (on the application of SM & Others) v Secretary of State for the Home Department (Dublin Regulation - Italy) -, [2018] UKUT 00429 (IAC), Rn. 301 f. und 311; BFA, Länderinformationsblatt Italien, Stand: 26. Februar 2019, S. 18; aida, Country Report: Italy, April 2019, S. 82 f.

Diese Vorgehensweise der italienischen Behörden rechtfertigt den Schluss, dass Asylsuchenden, die in Italien - was durch einen Eurodac-Treffer der Kategorie 1 dokumentiert wird - bereits einen Asylantrag gestellt haben, dort eine Unterkunft zugewiesen wurde. Dies führt nach den Ausführungen unter (b) dazu, dass ihnen das Recht auf Unterbringung in der Regel entzogen wird, wenn sie ihre Unterkunft aufgeben oder dort gar nicht erst einziehen.

(d) Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts Aachen

- vgl. Urteile vom 27. Mai 2019 - 9 K 1780/18.A -, juris Rn. 22, und vom 21. Juni 2019 - 9 K 1700/18.A -, nrwe Rn. 29; Beschluss vom 7. Februar 2019 - 9 L 84/19.A -, juris Rn. 37 -

kann ein Verstoß gegen Art. 4 GrCh nicht unter Hinweis darauf verneint werden, dass Dublin-Rückkehrer, denen das Recht auf Unterbringung entzogen wurde, ihr Recht auf Unterbringung vor den italienischen Gerichten geltend machen können. Zwar ist der Rechtsweg gegen den Entzug des Rechts auf Unterbringung in Italien grundsätzlich eröffnet. Jedoch dauern sowohl das behördliche Verfahren auf Wiederaufnahme in eine staatliche Unterkunft bei der zuständigen Präfektur als auch das gerichtliche Verfahren - wie bereits dargelegt - mehrere Monate, in denen die betroffene Person nicht untergebracht wird. Entscheidend hinzu kommt, dass ein entsprechendes Klageverfahren nur äußerst geringe Erfolgsaussichten hat, da der Entzug der Unterbringung zumindest derzeit mit italienischem Recht in Einklang steht.

Vgl. aida, Country Report: Italy, April 2019, S. 86 f.; Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 7608/17.A u.a., S. 19 ff.

(e) Die Wahrscheinlichkeit, dass Dublin-Rückkehrer innerhalb absehbarer Zeit nach ihrer Überstellung nach Italien einen Arbeitsplatz finden, der ihnen ein ausreichendes Einkommen zur Finanzierung einer menschenwürdigen Unterkunft und des unabdingbar erforderlichen Lebensunterhalts bietet, sind aufgrund der Lage auf dem italienischen Arbeitsmarkt, die auch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen als schwierig einstuft

- vgl. z.B. Urteil vom 19. Mai 2016 - 13 A 1490/13.A -, Asylmagazin 2016, 312 (juris Rn. 131); a.A. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 118 f. -,

derzeit als gering einzuschätzen. Zwar ist Asylsuchenden in Italien die Arbeitsaufnahme ab dem 60. Tag nach der Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz gestattet.

Vgl. aida, Country Report: Italy, April 2019, S. 102.

Alle dem Gericht vorliegenden Erkenntnisse verweisen jedoch darauf, dass aufgrund der derzeitigen Wirtschaftskrise in Italien, sprachlicher Barrieren sowie administrativer Hürden nur ein kleiner Teil der Asylsuchenden innerhalb absehbarer Zeit eine auskömmliche Arbeit findet.

Die allgemeine Arbeitslosigkeit in Italien lag im Oktober 2019 bei 9,7 %

- vgl. https://www.boerse.de/konjunktur/arbeitslosenrateitalien/ (abgerufen am 11. November 2019) -,

die Jugendarbeitslosigkeit (Personen zwischen 15 und 24 Jahren) im September 2019 bei 27,8 %.

Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/74795/umfrage/ jugendarbeitslosigkeitineuropa/ (abgerufen am 11. November 2019).

Die Beschäftigungsquote von Nicht-EU-Ausländern in Italien liegt bei 60 %; mit großen regionalen Unterschieden mit 49% in der Region Calabria und 69 % in der Metropolregion Rom.

Vgl. Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 119 m.w.N; Ministero del Lavoro e delle Politiche Sociali, Ninth Annual Report - Foreigners in the Italian labour market, 2019, S. 36.

Allerdings erfassen diese Werte nicht nur Asylsuchende, sondern alle in Italien lebenden Nicht-EU-Ausländer, also auch diejenigen, die bereits seit Jahren in Italien leben. Hinzu kommt, dass die Beschäftigungsquote in der Altersgruppe der 15 bis 34-jährigen weitaus geringer ist, diese beträgt z.B. bei in Italien geborenen Kindern von Immigranten, die dieser Altersgruppe angehören, 28 % (gegenüber 69 % in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union).

Vgl. Ministero del Lavoro e delle Politiche Sociali, Ninth Annual Report - Foreigners in the Italian labour market, 2019, S. 40.

Angesichts der vorstehend referierten Daten, insbesondere der hohen Arbeitslosenquote unter jüngeren Personen, schließt sich das Gericht der Einschätzung der Sachverständigen Romer an, dass ein Asylsuchender nur im Ausnahmefall in absehbarer Zeit einen Arbeitsplatz finden wird, mit dem er seinen Lebensunterhalt finanzieren kann

- vgl. Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 7608/17.A u.a., S. 25 -;

zumal sie mit dieser Einschätzung nicht allein steht. Danach ist es für Asylsuchende schon seit Jahren kaum möglich, in Italien eine legale Arbeit zu finden.

Vgl. be, Gutachten für das VG Braunschweig, Dezember 2012, S. 10, sowie Stellungnahme zu der derzeitigen Situation von Geflüchteten in Italien mit besonderem Blick auf die Unterbringung, 3. Mai 2019, S. 2; aida, Country Report: Italy, März 2018, S. 91 f., und April 2019, S. 102.

Dieser Einschätzung steht nicht entgegen, dass 2019 nur 14 % der in Italien lebenden Nicht-EU-Ausländer als arbeitssuchend registriert waren.

Vgl. Ministero del Lavoro e delle Politiche Sociali, Ninth Annual Report - Foreigners in the Italian labour market, 2019, S. 36.

In diese Erhebung gehen nur Personen ein, die sich in einem Online-Portal als arbeitslos registriert haben, dessen Webseiten nur auf Italienisch verfasst sind, und die zusätzlich noch einen Termin beim Arbeitsamt wahrgenommen haben.

Vgl. Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 7608/17.A u.a., S. 24.

Angesichts dessen schließt sich das Gericht der Auffassung der Sachverständigen Romer an, dass viele Asylsuchende sich nicht offiziell arbeitslos melden und die tatsächliche Zahl der arbeitslosen Asylsuchenden weitaus höher liegt.

Vgl. Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 7608/17.A u.a., S. 24.

Im Übrigen finden Asylsuchende allenfalls saisonal in der Landwirtschaft, auf dem Bau oder im Tourismussektor Arbeit. Für die zumeist niedrig qualifizierten Tätigkeiten werden insbesondere in der Landwirtschaft Niedrigstlöhne von beispielsweise 25,- Euro für 10 Arbeitsstunden gezahlt.

Vgl. SF, Aufnahmebedingungen in Italien, August 2016, S. 52; Sachverständige Romer, Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 13. November 2019 im Verfahren 10 K 7608/17.A u.a., S. 24.

Das entspricht selbst bei einer Sechs-Tagewoche einem Monatslohn von 600,- €. Dieser Betrag reicht bei saisonaler Beschäftigung nicht aus, um den Lebensunterhalt für das ganze Jahr zu bestreiten.

(f) Auf Grundlage der vorstehend unter (a) bis (e) dargestellten Lebensbedingungen für Dublin-Rückkehrer, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben und deren Asylverfahren noch nicht durch eine bestandskräftige Sachentscheidung abgeschlossen ist, gelangt das Gericht zu der Überzeugung, dass Angehörigen dieser Gruppe, die vollständig auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, im Falle ihrer Überstellung nach Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 4 GrCh droht. Dies gilt auch für den Kläger.

Aufgrund der glaubhaften Ausführungen des Klägers vor dem Bundesamt zur Zulässigkeit seines Asylantrages ist das Gericht davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass er seine ihm in Italien zugewiesene Unterkunft verlassen hat, um nach Deutschland zu kommen. Insofern hat der Kläger angegeben, er sei während seines ein Jahr und sieben Monate dauernden Aufenthalts in Italien in einem "Camp" untergebracht worden. Da er seine Unterkunft aus Sicht der italienischen Behörden ohne rechtfertigenden Grund verlassen hat, ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger sein Recht auf Unterbringung in Italien verloren hat. Wie vorstehend ausgeführt, ist das Gericht der Überzeugung, dass es sich bei dem Entzug des Rechts auf Unterbringung um ein standardisiertes und im Regelfall durchgeführtes Verfahren handelt. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die italienischen Behörden im Falle des Klägers abweichend vorgegangen sind und bei ihm von einem Entzug des Rechts auf Unterbringung abgesehen haben, sind weder vorgetragen noch anderweitig ersichtlich.

Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger über ausreichende Geldmittel zur Bestreitung seines Lebensunterhalts oder über Bekannte in Italien verfügt, bei denen er unterkommen kann, liegen nicht vor, so dass er vollständig auf staatliche Unterstützung angewiesen ist. Schließlich ist der Kläger nach seinen glaubhaften Ausführungen in der Anhörung vor dem Bundesamt Analphabet und daher für den italienischen Arbeitsmarkt nicht in besonderer Weise qualifiziert. Dementsprechend ist die Wahrscheinlichkeit, dass er innerhalb absehbarer Zeit nach seiner Überstellung nach Italien einen Arbeitsplatz finden wird, der ihm ein ausreichendes Einkommen zur Finanzierung einer menschenwürdigen Unterkunft und des unabdingbar erforderlichen Lebensunterhalts bietet, als gering einzuschätzen.

(2) Eine andere Bewertung der Lebensbedingungen für Dublin-Rückkehrer, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben, deren Asylverfahren noch nicht durch eine bestandskräftige Sachentscheidung abgeschlossen ist und die vollständig auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, ergibt sich weder aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (a) noch aus der obergerichtlichen Rechtsprechung in Deutschland (b). Dasselbe gilt für den Umstand, dass keine aktuelle Empfehlung des UNHCR vorliegt, Überstellungen von Asylsuchenden nach Italien wegen der Gefahr einer erniedrigenden Behandlung auszusetzen (c).

(a) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat dem Entzug des Rechts auf Unterbringung bisher keine Beachtung geschenkt. Auf das Fehlen adäquater Unterbringungsplätze in Italien ist der Gerichtshof erstmals im Tarakhel-Urteil eingegangen, allerdings betraf diese Entscheidung eine Familie mit Kindern.

Vgl. EGMR, Entscheidung vom 4. November 2014 - 29217/12 (Tarakhel/Schweiz) -, NVwZ 2015, 127, Rn. 120 ff.

In den auf das Tarakhel-Urteil folgenden Entscheidungen

- vgl. Entscheidungen vom 13. Januar 2015 - 51428/10 A.M.E./Netherlands) -, HUDOC Rn. 31 ff., und 30. Juni 2015 - 39350/13 (A.S./Switzerland) -, HUDOC, Rn. 35 ff. -

hat der Gerichtshof den Umstand des Entzuges des Rechts auf Unterbringung nicht thematisiert. Beiden Entscheidungen lagen keine Fälle zugrunde, in denen die betroffene Person in Italien bereits einen Asylantrag gestellt hatte, der noch nicht beschieden wurde.

(b) Die aktuelle obergerichtliche Rechtsprechung differenziert nicht ausreichend zwischen Dublin-Rückkehrern, die in Italien noch keinen Asylantrag gestellt haben, und solchen, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben und deren Asylverfahren noch nicht durch eine bestandskräftige Entscheidung abgeschlossen ist. Der Unterschied zwischen den beiden Gruppen besteht - wie bereits dargelegt - darin, dass Angehörigen der letzteren Gruppe in der Regel ihr Recht auf Unterbringung entzogen wurde. Dies berücksichtigt das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen nicht ausreichend, wenn es aufgrund überholter Erkenntnisse davon ausgeht, dass Dublin-Rückkehrer während des nach ihrer Rückkehr durchzuführenden Folgeverfahrens grundsätzlich untergebracht werden.

Vgl. OVG NRW, z.B. Urteile vom 6. Juli 2016 - 13 A 1476/15.A -, juris Rn. 67 ff., sowie vom 7. Juli 2016 - 13 A 2302/15 -, juris Rn. 65 ff.

Die diesbezüglichen Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg sind widersprüchlich: Während beide Gerichte zunächst davon ausgehen, dass Dublin-Rückkehrer, deren Asylverfahren in Italien noch nicht abgeschlossen ist, im Rahmen der Fortführung ihres Asylverfahrens "einen mit den Vorgaben aus Art. 17 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 lit. g) der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (ABl. L 180, S. 96, sog. Aufnahmerichtlinie) übereinstimmenden durchsetzbaren Unterkunftsanspruch" und "auch faktisch in der Regel einen Zugang zu Wohnraum" haben

- vgl. Niedersächsisches OVG, z.B. Urteil vom 4. April 2018- 10 LB 96/17 -, juris Rn. 57; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 45 -,

heißt es später, dass dann, wenn der Betroffene beim vorherigen Aufenthalt in Italien die ihm zugewiesene Unterkunft nicht in Anspruch genommen oder diese ohne Meldung verlassen hat, der Anspruch auf eine Unterkunft verloren geht.

Vgl. Niedersächsisches OVG, Urteil vom 4. April 2018 - 10 LB 96/17 -, juris Rn. 65; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 68.

Diese Ausführungen verkennen das Ausmaß, in dem seitens der italienischen Behörden vom Entzug des Rechts auf Unterbringung Gebrauch gemacht wird, nämlich dass Dublin-Rückkehrern, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben und Italien während des dort laufenden Asylverfahrens verlassen haben, in der Regel kein Recht auf Unterbringung mehr zusteht [s.o. (1) (b)]. Der weiteren Annahme der beiden Obergerichte, dass der dauerhafte Entzug der Unterbringung und der damit verbunden Leistungen unionsrechtskonform ist

- vgl. Niedersächsisches OVG, z.B. Urteil vom 4. April 2018- 10 LB 96/17 -, juris Rn. 39; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 43 ff. -,

vermag sich das erkennende Gericht ebenfalls nicht anzuschließen. Insoweit hat der Gerichtshofs der Europäischen Union zwischenzeitlich entschieden, dass der Entzug sämtlicher im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder der in diesem Rahmen gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung, und sei es nur zeitweilig, nicht nur mit den Verpflichtungen aus Art. 20 RL 2013/33 sondern auch mit dem Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 GRCh unvereinbar ist.

Vgl. EuGH, Urteil vom 12. November 2019 - C-233/18 (Haqbin) -, juris Rn. 46 f.

Diese zum Entzug der Aufnahmebedingungen gemäß Art. 20 Abs. 4 RL 2013/33/EU ergangene Entscheidung gilt angesichts der gravierenden Folgen eines umfassenden und unbefristeten Entzugs der Aufnahmebedingungen gemäß Art. 20 Abs. 1 RL 2013/33/EU jedenfalls für den Fall entsprechend, dass die betroffene Person sich wieder bei den zuständigen Behörden meldet (vgl. Art. 20 Abs. 1 Unterabs. 2 RL 2013/33/EU).

Soweit die obergerichtliche Rechtsprechung auf die Hilfe karitativer Organisationen verweist

- vgl. OVG NRW, Urteile vom 6. Juli 2016 - 13 A 1476/15.A -, juris Rn. 87 f., sowie vom 7. Juli 2016 - 13 A 2302/15 -, juris Rn. 85 f.; Niedersächsisches OVG, Urteil vom 4. April 2018 - 10 LB 96/17 -, juris Rn. 57; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 60 -,

kann das Gericht den ihm vorliegenden Erkenntnissen keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass die staatlichen Defizite, insbesondere in Bezug auf die Bereitstellung einer Unterkunft, durch kirchliche oder nichtkirchliche Einrichtungen effektiv ausgeglichen werden [s.o. (1) (b)].

Den Ausführungen des VGH Baden-Württemberg zur Möglichkeit, dass Dublin-Rückkehrer ihren Lebensunterhalt zur Sicherung der Grundbedürfnisse durch die Erzielung von Arbeitseinkommen decken

- vgl. Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 118 f.; deutlich skeptischer OVG NRW, Urteil vom 19. Mai 2016 - 13 A 1490/13.A -, Asylmagazin 2016, 312 (juris Rn. 131) -,

vermag sich das erkennende Gericht aus den ausführlich unter (1) (e) dargelegten Gründen ebenfalls nicht anzuschließen.

(c) Das Fehlen einer aktuellen Empfehlung des UNHCR, Überstellungen von Asylsuchenden und anerkannten Schutzberechtigten nach Italien wegen der Gefahr einer erniedrigenden Behandlung auszusetzen, führt zu keinem anderen Ergebnis. Der UNHCR hat in mehreren seiner Stellungnahmen ausdrücklich darauf hingewiesen, dass aus der Tatsache des Fehlens einer solchen Empfehlung nicht geschlossen werden könne, der UNHCR vertrete die Auffassung, dass keine einer Überstellung entgegenstehenden Umstände vorlägen oder im Einzelfall vorliegen könnten. Die Äußerungen des UNHCR richteten sich in erster Linie mit Empfehlungen zur Verbesserung des Flüchtlingsschutzes an die betreffende Regierung. Es sei Aufgabe der Behörden und Gerichte, im Einzelfall zu entscheiden, ob drohende Verletzungen von Art. 3 EMRK eine Überstellung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union ausschließen.

Vgl. z.B. UNHCR, Ergänzende Informationen zur Veröffentlichung "UNHCR-Empfehlungen zu wichtigen Aspekten des Flüchtlingsschutzes in Italien - Juli 2013", März 2014.

(3) Eine belastbare individuelle Zusicherung der italienischen Behörden, dass dem Kläger nach seiner Überstellung nach Italien eine zumutbare Unterkunft zur Verfügung gestellt wird, liegt nicht vor. Derartige Zusicherungen gibt Italien ausweislich eines Rundschreibens an die Mitgliedstaaten vom 24. Juni 2015 auch nicht mehr ab.

Vgl. EGMR, Beschluss vom 28. Juni 2016 - 15636/16 (N.A./Dänemark) -, HUDOC, Rn. 12; DRC/SF, Is Mutual Trust Enough? The Situation of Persons with Special Reception Needs upon Return to Italy, 9. Februar 2017, S. 9.

Das Rundschreiben 1/2019 ("circular letter n. 1/2019") der italienischen Dublin-Einheit stellt keine solche Zusicherung dar. In diesem Rundschreiben teilt die italienische Dublin-Einheit mit, dass in den nunmehr in SIPROIMI-Einrichtungen umbenannten ehemaligen SPRAR-Einrichtungen fortan nur noch Personen, die internationalen Schutz genießen, unbegleitete Minderjährige und Inhaber "neuer" Aufenthaltstitel humanitärer Art untergebracht werden. Im Anschluss hieran heißt es:

"Folglich werden alle Antragsteller, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, in anderen Zentren untergebracht, die im Gesetzesdekret Nr. 142/2015 genannt sind.

Unter Berücksichtigung der Bemühungen der italienischen Regierung, die Migrationsströme deutlich zu verringern, sind diese Zentren für die Unterbringung aller möglichen Begünstigten geeignet, so dass der Schutz der Grundrechte, insbesondere die Einheit der Familie und der Schutz von Minderjährigen, sichergestellt sind."

Hiermit wird lediglich erklärt, dass die Unterbringung von Familien mit Kindern in SIPROIMI-Einrichtungen in Abkehr von früheren Zusicherungen nicht mehr gewährleistet ist. Eine Zusicherung der Unterbringung sämtlicher nach Italien überstellter Dublin-Rückkehrer, insbesondere solcher, denen das Recht auf Unterbringung entzogen wurde, erfolgt nicht. Dies ergibt sich schon daraus, dass nach dem Rundschreiben eine Unterbringung nach den Regelungen des Dekrets 142/2015 erfolgen soll, das u.a. auch die Vorschriften über den Entzug des Rechts auf Unterbringung enthält.

2. Die unter Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids getroffene Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ebenfalls aufzuheben, da sie - wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt - inhaltlich nicht zutrifft.

3. Die unter Ziffer 3 des angefochtenen Bescheids verfügte Anordnung der Abschiebung nach Italien ist ebenfalls aufzuheben. Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen - wie sich aus den Ausführungen unter 1. ergibt - nicht vor, weil nicht Italien, sondern die Beklagte für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig ist.

4. Die in Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids enthaltene Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist infolge der Aufhebung der Abschiebungsanordnung gegenstandslos geworden, so dass auch sie aus Gründen der Klarstellung aufzuheben ist.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO, 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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