VG Aachen, Urteil vom 11.11.2019 - 6 K 2713/18.A
Fundstelle
openJur 2020, 351
  • Rkr:

Allein der Umstand, dass der Asylbewerber sich der Überstellung entziehen will und sich dazu in das Kirchenasyl begeben hat, reicht nicht für die Annahme, dass er flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist. Das Kirchenasyl steht der Durchführung der Überstellung weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht entgegen.

Tenor

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. Juli 2018 wird aufgehoben.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerinnen vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leisten.

Tatbestand

Die am 00.00.0000 Oktober 1985 geborene Klägerin zu 1. und ihre am 00.00.0000 geborene Tochter, die Klägerin zu 2., sind iranische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Sie reisten am 25. Juni 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 4. Juli 2018 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) förmliche Asylanträge.

Im persönlichen Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates und der persönlichen Anhörung zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrags gab die Klägerin zu 1. am 4. Juli 2018 an, gemeinsam mit ihrer Tochter über die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien, Bosnien, Kroatien, Slowenien und Italien in die Bundesrepublik eingereist zu sein und ihr Heimatland am 30. März 2018 erstmalig verlassen zu haben. Sie habe in Kroatien und Slowenien Fingerabdrücke abgegeben und sei Diabetikerin.

Ein Datenabgleich mit der EURODAC-Datenbank ergab einen Treffer mit der Länderkennung Kroatiens ("HR "), ausweislich dessen die Klägerin zu 1. in Zagreb am 25. Mai 2018 einen Asylantrag gestellt hat. Unter dem 6. Juli 2018 leitete das Bundesamt daraufhin ein Wiederaufnahmegesuch gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO) der Republik Kroatien zu. Die dortigen Behörden erklärten unter dem 20. Juli 2018 aufgrund von Art. 18 Abs. 1 lit. b) Dublin III-VO ihre Zuständigkeit für die Prüfung der klägerischen Asylanträge sowie ihre Übernahmebereitschaft.

Mit Bescheid vom 23. Juli 2018, den Klägerinnen zugestellt am 27. Juli 2018, lehnte das Bundesamt die Asylanträge der Klägerinnen als unzulässig ab (Ziffer 1.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Ziffer 2.), ordnete ihre Abschiebung nach Kroatien an (Ziffer 3.) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4.). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Asylanträge seien gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, da Kroatien gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b) Dublin III-VO für die Behandlung der Asylanträge zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Beklagte veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Insbesondere lägen keine Gründe für die Annahme von systemischen Mängeln im kroatischen Asylverfahren oder bei der medizinischen Versorgung der Asylantragsteller vor. Die Anordnung der Abschiebung nach Kroatien beruhe auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG.

Die Klägerinnen haben am 3. August 2018 Klage erhoben.

Zur Begründung tragen sie vor, der angefochtene Bescheid sei rechtswidrig. Dem Bundesamt sei am 5. September 2018 mitgeteilt worden, dass sie am selben Tag in das Kirchenasyl der Evangelischen Kirchengemeinde Q. aufgenommen worden seien. Da der Aufenthaltsort bekannt sei, sei eine Verlängerung der Überstellungsfrist unzutreffend.

Die Klägerinnen beantragen schriftsätzlich,

1. den Bescheid des Bundesamts vom 23. Juli 2018 aufzuheben,

2. hilfsweise,

die Beklagte zu verpflichten, das Asylverfahren fortzuführen,

3. weiter hilfsweise,

die Beklagte zu verpflichten, die Klägerinnen als Asylberechtigte anzuerkennen und die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen, hilfsweise subsidiären Schutz gemäß § 4 AsylG zu gewähren und weiter hilfsweise festzustellen, dass die Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung ihres Klageabweisungsantrags nimmt sie Bezug auf den Inhalt des angefochtenen Bescheids. Dass die Klägerinnen sich in das Kirchenasyl begeben haben, stünde einer Abschiebung entgegen, da sie als unbekannt verzogen gälten und daher die Überstellungsfrist um 18 Monate bis zum 14. Februar 2020 verlängert worden sei.

Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist mit Beschluss der Kammer vom 14. August 2018 (6 L 1134/18.A) abgelehnt worden. Mit Beschluss vom 27. März 2019 (6 L 194/19.A) ist dieser wegen Ablaufs der Überstellungsfrist dahingehend abgeändert worden, dass die aufschiebende Wirkung angeordnet wurde.

Die Beteiligten - die Klägerinnen mit Schriftsatz vom 8. November 2019, die Beklagte mit allgemeiner Prozesserklärung vom 27. Juni 2017 - haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen.

Gründe

Das Gericht kann mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, vgl. § 101 Abs. 2 VwGO.

Die zulässige Klage ist begründet.

Der angefochtene Bescheid des Bundesamts ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Klägerinnen in ihren Rechten, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Voraussetzungen für eine Ablehnung des Asylantrags als unzulässig auf der Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG und der Annahme einer Aufnahmeverpflichtung bzw. einer Zuständigkeit der Republik Kroatien liegen nicht (mehr) vor. Ein Asylantrag ist nach dieser Vorschrift unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Dublin III-Verordnung für die Durchführung des Asylverfahrens oder auf Grund von anderen Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages zuständig ist.

Zwar war die Republik Kroatien ursprünglich nach den Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b) Dublin III-VO zur Aufnahme der Klägerinnen verpflichtet (siehe Beschluss vom 14. August 2018 - 6 L 1134/18.A). Die Zuständigkeit für die Prüfung der Asylanträge der Klägerinnen ist jedoch zwischenzeitlich auf die Beklagte übergegangen.

Gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO hat die Überstellung des Asylantragstellers vom ersuchenden Staat in den ersuchten Staat spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese nach Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat, zu erfolgen. Ein Rechtsbehelf bzw. eine Überprüfung mit aufschiebender Wirkung im unionsrechtlichen Sinne der Verordnung liegt nach Art. 27 Abs. 3 lit. c) Dublin III-VO dann vor, wenn der Asylantragsteller bei einem Gericht innerhalb einer angemessenen Frist eine Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung beantragen kann. Ein derartiges Verfahren mit - in diesem unionsrechtlichen Sinne verstandener - aufschiebender Wirkung stellt das Verfahren nach § 34a Abs. 2 AsylG dar, das eine gerichtliche Überprüfung der Abschiebungsanordnung, durch die die Überstellungsentscheidung vollzogen werden soll, im Wege des Eilrechtsschutzes vorsieht. Leitet der Asylantragsteller ein Verfahren nach § 34a Abs. 2 AsylG ein, so beginnt die Überstellungsfrist nicht bereits mit dem Zugang der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat zu laufen, sondern erst mit der Bekanntgabe der endgültigen - ablehnenden - Entscheidung über den auf § 34a Abs. 2 AsylG gestützten Eilantrag.

Vgl. ausführlich zum Ganzen BVerwG, Urteil vom 9. August 2016 - 1 C 6.16 -, juris Rn. 13 ff.

Die danach mit Bekanntgabe des Beschlusses vom 14. August 2018 (6 L 1134/18.A) am 21. August 2018 beginnende Frist von sechs Monaten ist zwischenzeitlich offensichtlich abgelaufen.

Eine Verlängerung nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist entgegen der Ansicht des Bundesamts nicht eingetreten. Nach dieser Vorschrift kann die Frist unter anderem höchstens auf achtzehn Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person flüchtig ist.

Eine Definition von "flüchtig" enthält die Dublin III-Verordnung nicht. Die Vorschrift ist jedoch dahin auszulegen, dass ein Antragsteller "flüchtig" im Sinne dieser Bestimmung ist, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Antragsteller die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde. Der Antragsteller behält die Möglichkeit, nachzuweisen, dass er diesen Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen.

Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 -, juris Rn. 70.

Gemessen an diesem Maßstab sind die Klägerinnen, die sich in das Kirchenasyl der Evangelischen Gemeinde Q. begeben haben, nicht flüchtig. Allein der Umstand, dass der Asylbewerber sich der Überstellung entziehen will und sich dazu in das Kirchenasyl begeben hat, reicht nicht für die Annahme, dass er flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO ist, wenn das Kirchenasyl der Durchführung der Überstellung an den anderen Mitgliedstaat nicht entgegensteht.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 29. August 2019 - 11 A 2874/19.A -, juris Rn. 9.

Das Kirchenasyl steht der Durchführung der Überstellung weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht entgegen. Ein Sonderrecht der Kirchen, aufgrund dessen die Behörden bei Aufnahme einer Person in das Kirchenasyl gehindert wären, eine Überstellung durchzuführen und hierzu gegebenenfalls unmittelbaren Zwang anzuwenden, gibt es nicht.

Vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 23. März 2018 - 1 LA 7/18 -, juris Rn. 18; OVG Lüneburg, Beschluss vom 25. Juli 2019 - 10 LA 155/19 -, juris Rn. 14.

Die Beklagte war an einer Überstellung der Klägerinnen nach Kroatien auch nicht tatsächlich gehindert. Dem Bundesamt war die ladungsfähige Anschrift der Klägerinnen und somit auch der Ort, an dem er im Falle einer geplanten Überstellung anzutreffen sind, stets bekannt.

Auf den Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist können die Klägerinnen sich auch berufen.

Vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 -, juris Rn. 70.

Da die Zuständigkeit der Republik Kroatien nicht gegeben und die Unzulässigkeitsentscheidung (Ziffer 1. des angefochtenen Bescheids) aufzuheben ist, kann auch die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3. keinen Bestand haben. Gleiches gilt für die Feststellung hinsichtlich der Abschiebungsverbote (Ziffer 2.) sowie der Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots (Ziffer 4.)

Da dem Hauptantrag der Klägerinnen stattgegeben wurde, war über die Hilfsanträge nicht zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 Zivilprozessordnung.

Zitiert0
Referenzen0
Schlagworte