LG Marburg, Urteil vom 08.07.2014 - 2 O 63/13
Fundstelle
openJur 2019, 37182
  • Rkr:

Für die Bemessung des immateriellen Schadensersatzes im Rahmen des Art. 5 Abs. 5 EMRK im Falle einer mit Art. 5 Abs. 1 EMRK nicht zu vereinbarenden nachträglichen Sicherungsverwahrung kann auf die WErtungen des § 7 StrEG zurückgefriffen werden

Tenor

1. Das beklagte Land wird verurteilt, an den Kläger € 6.851,00 zuzüglich Zinsen aus dem Betrag in Höhe von € 21.815,00 in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz für den Zeitraum zwischen dem 5. Dezember 2012 und dem 13. Februar 2014 sowie Zinsen aus dem Betrag in Höhe von € 6.851,00 in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 14. Februar 2014 (abzüglich der auf die Zinsforderung bereits gezahlten € 855,59) zu zahlen.

2. Das beklagte Land wird ferner verurteilt, an den Kläger einen Betrag in Höhe von € 1.023,16 zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 19. Juli 2013 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

3. Die Kosten des Rechtsstreits hat das beklagte Land zu tragen.

4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

Der Kläger begehrt von dem beklagten Land immateriellen Schadensersatz wegen nachträglich verlängerter Sicherungsverwahrung.

Der Kläger wurde durch Urteil des Landgerichts Kassel vom 8. Juli 1994 wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch eines Kindes zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt; zugleich ordnete das Gericht anschließende Sicherungsverwahrung an. Diese wurde nach Verbüßung der Strafhaft ab dem 25. Juni 1999 in der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt vollzogen.

Nach § 67d Abs. 1, Abs. 3 StGB in der im Zeitpunkt der Verurteilung des Klägers geltenden Fassung des Zweiten Gesetzes zur Reform des Strafrechts vom 4. Juli 1969 (BGBl. I S. 717) durfte die Dauer der erstmaligen Unterbringung in der Sicherungsverwahrung zehn Jahre nicht übersteigen; nach Ablauf dieser Höchstfrist war der Untergebrachte zu entlassen. Durch das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. Januar 1998 (BGBl. I 160) wurde diese Regelung geändert. Die Höchstfrist von zehn Jahren entfiel; § 67d Abs. 3 StGB bestimmte nunmehr, dass nach Ablauf von zehn Jahren das Gericht die Sicherungsverwahrung für erledigt erklärt, wenn nicht die Gefahr besteht, dass der Untergebrachte infolge seines Hanges erhebliche Straftaten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden. Zugleich wurde in dem neu angefügten Absatz 3 des – mittlerweile (durch Art. 4 Nr. 1 des Gesetzes zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22. Dezember 2010, BGBl. I S. 2300) in Gänze aufgehobenen –Art. 1a EGStGB festgelegt, dass § 67d StGB neuer Fassung uneingeschränkt Anwendung findet, also auch für Altfälle und damit für Straftäter gelten soll, die ihre Tat vor Verkündung und Inkrafttreten des Gesetzes begangen hatten und vor diesem Zeitpunkt verurteilt worden waren (siehe auch § 2 Abs. 6 StGB sowie BT-Drucks. 13/9062 S. 12).

Aufgrund der Gesetzesänderung wurde der Kläger nicht am 24. Juni 2009 aus der Sicherungsverwahrung entlassen. Vielmehr beschloss die 7. Strafkammer - Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts Marburg am 22. Juni 2009, dass die Maßregel wegen fortbestehender Gefährlichkeit des Klägers nicht für erledigt erklärt werde.

Mit Beschluss vom 2. Juli 2010 (Bl. 7 ff. d. A.) gestaltete dieselbe Kammer vorsorglich für den Fall, dass der Kläger aus der Sicherungsverwahrung in Folge der Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte - EGMR - vom 17. Dezember 2009 (Nr. 19359/04) entlassen werde und deshalb Führungsaufsicht eintrete, dieselbe aus und erteilte dem Kläger eine Reihe von Weisungen.

Die Strafvollstreckungskammer nahm dabei Bezug auf das im Rahmen eines Individualbeschwerdeverfahrens eines anderen sicherungsverwahrten Straftäters ergangene Urteil des EGMR - V. Sektion - vom 17. Dezember 2009 (Beschwerde-Nr. 19359/04), wonach die Änderung des § 67d Abs. 3 StGB mit Art. 5 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention - EMRK - nicht vereinbar sei. Diese Entscheidung ist seit dem 10. Mai 2010 endgültig, nachdem ein Ausschuss der Großen Kammer den Antrag der Bundesregierung auf Verweisung an die Große Kammer nach Art. 43 Abs. 2 EMRK abgelehnt hat (Art. 44 Abs. 2 lit. c EMRK).

Mit Beschluss vom 14. Juli 2010 beschloss die 7. Strafkammer - Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts Marburg, dass die weitere Vollstreckung der Unterbringung des Klägers in der Sicherungsverwahrung unzulässig sei (Bl. 11 ff. d. A.). Die Staatsanwaltschaft erhob gegen diesen Beschluss das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde. Nachdem der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main die Entscheidung über die sofortige Beschwerde zunächst mit Beschluss vom 19. August 2010 bis zur Entscheidung des Bundesgerichtshofes über den Vorlagebeschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 4. August 2010 - 1 Ws 404/10 - zurückgestellt hatte (Bl. 16 ff. d. A.), hob der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main sodann mit Beschluss vom 14. Dezember 2010 den Beschluss der 7. Strafkammer - Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts Marburg vom 14. Juli 2010 auf und wies die Sache zur neuen Entscheidung an das Landgericht Marburg zurück (Bl. 22 ff. d. A.).

Nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vom 4. Mai 2011 (2 BvR 2365/09 u. a., BVerfGE 128, 326) die gesetzlichen Regelungen zur nachträglichen Verlängerung der Sicherungsverwahrung für verfassungswidrig erklärte hatte, setzte die 7. Strafkammer - Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts Marburg mit Beschluss vom 16. August 2011 die weitere Vollstreckung der Unterbringung des Klägers in der Sicherungsverwahrung mit Ablauf des 31. August 2011 zur Bewährung aus. Die Staatsanwaltschaft erhob auch gegen diesen Beschluss das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde. Daraufhin hob die Strafvollstreckungskammer ihren Beschluss vom 16. August 2011 mit Beschluss vom 26. September 2011 auf (Bl. 36 ff. d. A.). Auf die dagegen nunmehr von dem Kläger eingelegte sofortige Beschwerde hin hob der 3. Strafsenat des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main den Beschluss der 7. Strafkammer - Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts Marburg auf, erklärte die mit Urteil des Landgerichts Kassel vom 8. Juli 1994 angeordnete Sicherungsverwahrung für erledigt und ordnete an, dass der Kläger sofort zu entlassen ist (Bl. 39 ff.). Dies geschah noch am selben Tage.

Mit Anwaltsschreiben vom 20. April 2012 hat der Kläger die Zahlung eines angemessenen Entschädigungsbetrages für den Freiheitsentzug im Zeitraum vom 25. Juni 2009 bis zum 8. Dezember 2011 verlangt. Das beklagte Land wies mit Schreiben vom 3. Dezember 2012 jegliche geltend gemachten Ansprüche zurück.

Mit Beschluss vom 5. Juli 2013 hat die Kammer dem Kläger unter Beiordnung von Rechtsanwalt Dr. Braun Prozesskostenhilfe bewilligt.

Das beklagte Land hat am 13. Februar 2014 ein Betrag in Höhe von € 15.000,00 nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten seit dem 5. Dezember 2012, insgesamt also € 15.855,59, an den Kläger überwiesen. Der entsprechende Betrag ist am 14. Februar 2014 beim Kläger eingegangen.

Der Kläger ist der Ansicht, die Vollstreckung der Sicherungsverwahrung sei hinsichtlich des Zeitraums vom 25. Juni 2009 bis zum 8. Dezember 2011 rechtswidrig gewesen, so dass dem Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld zustehe.

Der Kläger hatte zunächst beantragt, die Beklagte zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch einen Betrag in Höhe von € 21.815,00 zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz sowie weitere € 1.023,16 zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

In der mündlichen Verhandlung am 17. Juni 2014 haben beide Parteien übereinstimmend die Klage hinsichtlich der Hauptforderung in Höhe eines Betrages von € 15.000,00 und hinsichtlich des Zinsantrages in Höhe eines Betrages von € 855,59 für erledigt erklärt.

Der Kläger beantragt nunmehr,

1. das beklagte Land zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, mindestens jedoch einen Betrag von weiteren € 6.815,00, zuzüglich Zinsen aus dem Betrag in Höhe von € 21.815,00 in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 5. Dezember 2012 (abzüglich der auf die Zinsforderung bereits gezahlten € 855,59) zu zahlen, und  2. das beklagte Land zu verurteilen, an ihn einen Betrag in Höhe von € 1.023,16 zuzüglich Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 19. Juli 2013 zu zahlen.

Das beklagte Land beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das beklagte Land ist der Ansicht, Art. 5 Abs. 5 EMRK sei hier nicht anwendbar. Eine Konventionswidrigkeit der Sicherungsverwahrung des Klägers über den 24. Juni 2009 hinaus liege nicht vor. Die Feststellungen des EGMR über die Konventionswidrigkeit der die Zehnjahreshöchstfrist überschreitenden Sicherungsverwahrung seien lediglich "in die Zukunft gerichtet". Eine zeitlich unbegrenzte Haftung "in die Vergangenheit" für konventionswidriges Recht sei mit Art. 5 Abs. 5 EMRK nicht beabsichtigt. Außerdem sei die "streitige Frage einer hochgradigen Gefährlichkeit des Klägers" erst im Dezember 2011 abschließend geklärt worden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze Bezug genommen.

Gründe

Dem Kläger steht gegen das beklagte Land ein Anspruch auf immateriellen Schadensersatz nach Art. 5 Abs. 5 EMRK in der aus dem Tenor ersichtlichen Höhe zu.

Nach Art. 5 Abs. 5 EMRK hat jede Person einen Anspruch auf Schadensersatz, die unter Verletzung dieses Artikels von Festnahme und Freiheitsentziehung betroffen ist. In den vorstehenden Absätzen werden die Voraussetzungen näher beschrieben, unter denen die Freiheit entzogen werden darf.

Art. 5 Abs. 5 EMRK gewährt dem Betroffenen einen unmittelbaren Schadensersatzanspruch wegen rechtswidriger Freiheitsbeschränkungen durch die öffentliche Hand (vgl. nur BGH, Urteil vom 10.01.1966 - III ZR 70/64, BGHZ 45, 46, 49 ff.; Urteil vom 04.07.2013 - III ZR 342/12, NJW 2013, 3176, 3179, Rdnr. 28), der vom Verschulden der handelnden Amtsträger unabhängig ist (vgl. nur BGH, Urteile vom 31.01.1966 - III ZR 118/64, BGHZ 45, 58, 65 ff.; Urteil vom 04.07.2013 - III ZR 342/12, NJW 2013, 3176, 3179, Rdnr. 28) und auch den Ersatz immateriellen Schadens umfasst (vgl. nur BGH, Urteil vom 29. April 1993 - III ZR 3/92, BGHZ 122, 268, 279 ff., Urteil vom 04.07.2013 - III ZR 342/12, NJW 2013, 3176, 3179, Rdnr. 28; OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 09.04.2013 - 15 W 2/12, NStZ-RR 2013, 295, 296).

Die nachträgliche Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung des Klägers und deren Vollzug vom 25. Juni 2009 bis zum 8. Dezember 2011 war eine rechtswidrige Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 Abs. 5 EMRK.

Nach Art. 5 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den nachfolgend im Satz 2 lit. a bis f aufgeführten Fällen – von denen für den hier streitgegenständlichen Freiheitsentzug von vorneherein nur die Buchstaben a, c und e in Betracht kommen – und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden.

Art. 5 Abs. 1 EMRK zählt damit die Gründe, aus denen eine Freiheitsentziehung zulässig ist, abschließend auf (s. EGMR, Urteil vom 17.12.2009 - Beschwerde-Nr. 19359/04, NJW 2010, 2495, [EGMR 17.12.2009 - 19359/04] Rdnr. 86 m. w. N.; BGH, Urteil vom 19.09.2013 - III ZR 405/12, NJW 2014, 67, Rdnr. 16). Der Entzug der Freiheit muss darüber hinaus "rechtmäßig" sein, wobei sich die Rechtswidrigkeit nicht nur aus der Konvention selbst, sondern auch aus dem nationalen Recht ergeben kann (vgl. EGMR, Urteil vom 17.12.2009 - Beschwerde-Nr. 19359/04, NJW 2010, 2495, 2496 [EGMR 17.12.2009 - 19359/04], Rdnr. 90 m. w. N; BGH, Urteil vom 04.07.2013 - III ZR 342/12, NJW 2013, 3176, 3179, Rdnr. 28; Urteil vom 19.09.2013 - III ZR 405/12, NJW 2014, 67, Rdnr. 16).

Die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung des Klägers durch die 7. Strafkammer - Strafvollstreckungskammer - des Landgerichts Marburg war nicht mit Art. 5 Abs. 1 EMRK vereinbar.

Eine rechtmäßige Freiheitsentziehung "nach Verurteilung durch ein zuständiges Gericht" (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. a EMRK) liegt nicht vor. Die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer stellen keine "Verurteilung" im Sinne der EMRK dar (vgl. EGMR, Urteil vom 17.12.2009 - Beschwerde-Nr. 19359/04, NJW 2010, 2495, 2495 f. [EGMR 17.12.2009 - 19359/04], Rdnr. 87, 96; BGH, Urteil vom 19.09.2013 - III ZR 405/12, NJW 2014, 67, Rdnr. 18). Zwischen der Verurteilung durch das Landgericht Kassel vom 8. Juli 1994 und der Fortdauer der Sicherungsverwahrung fehlt es an dem notwendigen (spezifischen) Kausalzusammenhang, da die Verlängerung allein auf der Gesetzesänderung im Jahr 1998 beruht (vgl. EGMR, Urteil vom 17.12.2009 - Beschwerde-Nr. 19359/04, NJW 2010, 2495, 2496 f. [EGMR 17.12.2009 - 19359/04], Rdnr. 88, 100; BGH, Urteil vom 19.09.2013 - III ZR 405/12, NJW 2014, 67, 67 f., Rdnr. 18). Nach Maßgabe der zitierten Rechtsprechung des EGMR ist in den so genannten Altfällen, in denen der Betroffene wegen seiner Anlasstat bereits vor Inkrafttreten der Neuregelung verurteilt wurde, eine Rechtfertigung des Freiheitsentzugs nach dieser Bestimmung als generell ausgeschlossen anzusehen (vgl. BVerfG, Urteil vom 04.05.2011 - 2 BvR 2365/09 u. a., BVerfGE 128, 326, 395; BGH, Urteil vom 19.09.2013 - III ZR 405/12, NJW 2014, 67, Rdnr. 18).

Der Haftgrund des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. c EMRK ("wenn begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, sie [= die betreffende Person] an der Begehung einer Straftat zu hindern") erlaubt kein präventives Vorgehen gegen einen Einzelnen oder eine Gruppe von Personen, die wegen ihres fortbestehenden Hangs zu Straftaten eine Gefahr darstellen. Er bietet den Vertragsstaaten – zudem nur "zur Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde"– lediglich ein Mittel zur Verhütung einer konkreten und spezifischen Straftat und eignet sich deshalb zur Rechtfertigung der Sicherungsverwahrung nicht (vgl. EGMR, Urteil vom 17.12.2009 - Beschwerde-Nr. 19359/04, StV 2010, 181, 183 f., Rdnr. 89 und 102; s. auch BVerfG, Urteil vom 04.05.2011 - 2 BvR 2365/09 u. a., BVerfGE 128, 326, 396; BGH, Urteil vom 19.09.2013 - III ZR 405/12, NJW 2014, 67, Rdnr. 19).

Soweit es der EGMR (Urteil vom 17.12.2009 - Beschwerde-Nr. 19359/04, juris, Rdnr. 103) nicht ausgeschlossen hat, dass in Ausnahmefällen die Sicherungsverwahrung bestimmter Straftäter die Bedingungen einer rechtmäßigen Freiheitsentziehung "bei psychisch Kranken" (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. e EMRK) erfüllen kann, liegen die hierfür notwendigen Voraussetzungen (vgl. BVerfG, Urteil vom 04.05.2011 - 2 BvR 2365/09 u. a., BVerfGE 128, 326, 396 ff.) nicht vor. Insoweit nimmt die Kammer zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die Ausführungen des 3. Strafsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt in dem Beschluss vom 8. Dezember 2011 (Bl. 39 ff. d. A.). Diesen Ausführungen des 3. Strafsenats ist das beklagte Land in dem vorliegenden Verfahren nicht entgegengetreten. Vielmehr geht auch das beklagte Land offenbar davon aus, dass eine hochgradige Gefährlichkeit des Klägers in dem hier relevanten Zeitraum nicht (mehr) gegeben war. In diesem Sinne heißt es jedenfalls auf S. 10 der Klageerwiderung vom 20. August 2013, die Frage nach einer hochgradigen Gefährlichkeit des Klägers sei bis zu der Entscheidung des 3. Strafsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt vom 8. Dezember 2011 "streitig" gewesen (Bl. 86 d. A.).

Darüber hinaus handelt es sich auch nicht um eine "rechtmäßige" Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 5 Abs. 1 EMRK. Denn die nachträgliche Anordnung der Fortdauer der Sicherungsverwahrung verstößt gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 7 Abs. 1 EMRK (vgl. EGMR, Urteil vom 17.12.2009 - Beschwerde-Nr. 19359/04, NJW 2010, 2495, 2497 ff. [EGMR 17.12.2009 - 19359/04], Rdnr. 117 ff., 135, 137; BGH, Urteil vom 19.09.2013 - III ZR 405/12, NJW 2014, 67, 68, Rdnr. 21). Der Freiheitsentzug ist zudem nicht mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 (auch in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3), 104 Abs. 1 Satz 1 GG vereinbar (vgl. BVerfG, Urteil vom 04.05.2011 - 2 BvR 2365/09 u. a., BVerfGE 128, 326, 372 ff., 388 ff.; BGH, Urteil vom 19.09.2013 - III ZR 405/12, NJW 2014, 67, 68, Rdnr. 21).

Auf den Umstand, dass der Verstoß gegen die EMRK zum Zeitpunkt der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer oder anderer beteiligter Stellen möglicherweise noch nicht erkennbar war, kommt es nicht an. Denn Art. 5 Abs. 5 EMRK statuiert – wie oben bereits erwähnt – bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen gerade eine verschuldensunabhängige Haftung (vgl. etwa BGH, Urteil vom 31.01.1966 - III ZR 118/64, BGHZ 45, 58 ff.; Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl. 2011, Art. 5, Rdnr. 96).

Das beklagte Land ist auch passivlegitimiert.

Zwar ist im Verfahren der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK die Bundesrepublik Deutschland als Vertragspartei Beschwerdegegner; dementsprechend trifft sie eine etwaige vom EGMR nach Art. 41 EMRK dem jeweiligen Beschwerdeführer zugesprochene Entschädigung. Allerdings bleibt dem Bund sodann die Möglichkeit eines Rückgriffs gegenüber dem betroffenen Land nach Art. 104a Abs. 6 GG in Verbindung mit den §§ 4 und 5 des Gesetzes zur Lastentragung im Bund-Länder-Verhältnis bei Verletzung von supranationalen oder völkerrechtlichen Verpflichtungen (Lastentragungsgesetz) vom 5. September 2006 (vgl. dazu etwa BVerwG, Urteil vom 26.04.2007 - 3 A 5/05, NVwZ 2008, 86).

Im Rahmen der innerstaatlichen Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs nach Art. 5 Abs. 5 EMRK ist jedoch die Frage der Person des Verpflichteten – wie bei der Amtshaftung – durch Anwendung des Art. 34 GG zu klären. Danach ist der Hoheitsträger (Bund, Land oder sonstige Gebietskörperschaft) verantwortlich, dessen Hoheitsgewalt bei der rechtswidrigen Freiheitsentziehung ausgeübt wurde (vgl. BGH, Urteil vom 19.09.2013 - III ZR 405/12, NJW 2014, 67, 68, Rdnr. 24).

Der unmittelbare Eingriff in das Freiheitsrecht des Klägers ist hier durch die Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Marburg und deren anschließenden Vollzug in der Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt erfolgt. Dass die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung auf der Anwendung bundesrechtlicher Vorschriften beruhte und es im vorliegenden Fall auch nicht darum geht, dass den zuständigen Amtsträgern bei der Anwendung dieser Normen Fehler im Einzelfall unterlaufen sind, ändert im Verhältnis der Parteien zueinander nichts an der Passivlegitimation des beklagten Landes. Es geht hier nicht etwa ausschließlich um legislatives Unrecht, für das das beklagte Land möglicherweise nicht einzustehen hätte. Vielmehr knüpft Art. 5 Abs. 5 EMRK an eine rechtswidrige (konventionswidrige) Freiheitsentziehung an. Diese ist hier aber durch ein Gericht des beklagten Landes (und in Umsetzung der Gerichtsentscheidungen durch die Vollzugsbehörden des beklagten Landes) erfolgt (vgl. BGH, Urteil vom 19.09.2013 - III ZR 405/12, NJW 2014, 67, 68, Rdnr. 25).

Hinsichtlich der Höhe erachtet die Kammer einen immateriellen Schadensersatz in Höhe von € 21.851,00 als angemessen, aber auch als ausreichend. Da das beklagte Land auf den Anspruch des Klägers bereits einen Betrag in Höhe von € 15.000,00 gezahlt hat, verbleibt ein Anspruch des Klägers auf immateriellen Schadensersatz in Höhe von € 6.851,00.

Bei der Bemessung des immateriellen Schadensersatzes hat sich die Kammer an der seitens des Gesetzgebers im Rahmen des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen - StrEG - getroffenen Wertentscheidung orientiert; sie hat daher einen Tagessatz in Höhe von € 11,00 bzw. € 25,00 zugrunde gelegt.

Für die Bemessung eines immateriellen Schadenersatzes nach festgestellten Konventionsverletzungen kann auf die Wertungen des § 7 StrEG zurückgegriffen werden (vgl. OLG München, Urteil vom 22.08.2013 - 1 U 1488/13, juris; Meyer, StrEG, 8. Auflage 2011, Art. 5 EMRK, Rdnr. 5; vorsichtig in diese Richtung auch OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 09.04.2013 - 15 W 2/12, NStZ-RR 2013, 295, 296), wobei die Kammer nicht verkennt, dass eine unmittelbare Anwendung des StrEG hier ausscheidet.

Einem Heranziehen der Wertungen des § 7 StrEG stehen auch nicht die in der Leitentscheidung des EGMR vom 17. Dezember 2009 angestellten Überlegungen entgegen. Zum einen basiert der Ausspruch des EGMR zum Ersatz immateriellen Schäden auf Art. 41 EMRK. Diese Bestimmung stellt jedoch gerade keine Anspruchsgrundlage dar, auf welche die Kammer ihre Entscheidung stützen könnte. Über eine Geldentschädigung nach Art. 41 EMRK hat allein der EGMR unter Ausschluss der Gerichte der Vertragsstaaten zu entscheiden (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 05.02.1998 - IX ZB 113/97, NJW 1998, 2288, 2289; Grüneberg, in: Palandt, BGB, 72. Aufl. 2013, § 253, Rdnr. 2). Überdies kann der jeweils Betroffene nach Art. 5 Abs. 5 EMRK– anders als nach Art. 41 EMRK– Schadensersatz und nicht nur eine "gerechte Entschädigung" verlangen (vgl. BGH, Urteil vom 10.01.1966 - III ZR 70/64, BGHZ 45, 58, 68 ff.).

Zum anderen gilt es bei Betrachtung der konkreten Schadensbestimmung durch den EGMR nach Art. 41 EMRK zu bedenken, dass dieser wegen seiner völkerrechtlichen Qualität und im Hinblick auf seine Ausstattung und sein Verfahren nicht mit einem nationalen Zivilgericht verglichen werden kann. Der Gerichtshof betont regelmäßig, dass er – insbesondere bei Ersatz für immateriellen Schaden – auch nach Billigkeit entscheidet ("on an equitable basis"; vgl. Grabenwarter, EMRK, 3. Aufl. 2008, § 15, Rdnr. 4). So gibt es in der Rechtsprechung des EGMR für die Zuerkennung von Summen für den Ersatz von immateriellem Schaden keine festen Kriterien. Die Höhe liegt vielmehr im Ermessen des Gerichtshofes, der auf den Einzelfall bezogene Kriterien anwendet, die kaum verallgemeinerungsfähig sind (vgl. Grabenwarter, EMRK, 3. Aufl. 2008, § 15, Rdnr. 4 m. w. N.; Paeffgen, in: Wolter (Hrsg.), Systematischer Kommentar zur StPO, Band X, 4. Aufl. 2012, Art. 5 EMRK, Rdnr. 71a). Überdies begründet der EGMR seine Entscheidungen nach Art. 41 EMRK meist gar nicht oder vergleichsweise pauschal (vgl. Dörr, in: ders./Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG: Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz, 2. Aufl. 2013, Kap. 33, Rdnr. 26; als Beispiel s. etwa EGMR, Urteil vom 13.01.2011 - Beschwerde-Nr. 27360/04, 42225/07, juris, Rdnr. 92).

Die Kammer verkennt nicht, dass sich andere Instanzgerichte in vergleichbaren Fällen an der Bemessungspraxis des EGMR zu Art. 41 EMRK orientiert haben (vgl. etwa OLG Karlsruhe, Urteil vom 29.11.2012 - 12 U 60/12, juris) und der Bundesgerichtshof dies nicht beanstandet hat (vgl. BGH, Urteil vom 19.09.2013 - III ZR 405/12, NJW 2014, 67, 68, Rdnr. 26 ff.). Aus den oben genannten Gründen erachtet die Kammer jedoch eine Orientierung an den Wertungen des StrEG als den vorzugswürdigen Weg. Zudem bietet eine solche Orientierung an gesetzlich festgelegten Tagessätzen den Vorteil einer einheitlichen, rechtssicheren und zugleich praktikablen Behandlung vergleichbarer Fälle (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 28.11.2012 - I-11 W 75/12, juris).

Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch die Bundesregierung vor dem EGMR in dem der Leitentscheidung vom 17. Dezember 2009 zugrundeliegenden Verfahren auf die Entschädigungssätze nach § 7 Abs. 3 StrEG verwiesen hat (vgl. EGMR, Urteil vom 17.12.2009 - Beschwerde-Nr. 19359/04, juris, Rdnr. 140).

Da nach § 7 Abs. 3 StrEG in der Fassung vom 1. Februar 2002 bis zum 4. August 2009 der Gesetzgeber wertentscheidend eine Entschädigung in Höhe von € 11,00 für jeden angefangenen Tag der Freiheitsentziehung und nach § 7 Abs. 3 StrEG in der Fassung vom 5. Februar 2009 einen Betrag von € 25,00 für angemessen erachtet hat, ergab sich unter Zugrundelegung der vorliegenden Zeiträume von 41 Tagen (25. Juni 2009 bis einschließlich 4. August 2009) und 856 Tagen (5. August 2009 bis einschließlich 8. Dezember 2011) ein Betrag in Höhe von insgesamt € 21.851,00, auf den das beklagte Land bereits € 15.000,00 gezahlt hat. Der Betrag in Höhe von insgesamt € 21.851,00 liegt deshalb um € 36,00 oberhalb des von dem Kläger angesetzten Mindestbetrages, da der Kläger sich bei der Berechnung der Anzahl der Hafttage jeweils um einen Tag zu seinen Ungunsten verrechnet hat. Insoweit liegt kein Verstoß gegen § 308 Abs. 1 ZPO vor, weil der Kammer bei der Festsetzung des für angemessen gehaltenen immateriellen Schadensersatzes durch die Angabe eines Mindestbetrages nach oben keine Grenzen gezogen werden (vgl. etwa BGH, Urteil vom 30.04.1996 - VI ZR 55/95, NJW 1996, 2425, 2427).

Der diesbezügliche Zinsanspruch des Klägers ist aus dem im Tenor ersichtlichen Umfange begründet. Unbegründet ist er allein insoweit, als der Kläger auch für den Zeitraum ab dem 14. Februar 2014 Zinsen aus einem Betrag in Höhe von € 21.815,00 geltend gemacht hat, was die zwischenzeitliche Zahlung von € 15.000,00 auf die Hauptforderung unberücksichtigt lässt. Insoweit war die Klage daher abzuweisen.

Ersatz für die vorgerichtlichen Anwaltskosten schuldet das beklagte Land unter dem Gesichtspunkt der Naturalrestitution (§ 249 Abs. 1 BGB), da sich die Ersatzpflicht auch auf die das Geltendmachen des Schadensersatzes verursachten Kosten erstreckt. Dass die vorgerichtliche Inanspruchnahme eines Rechtsanwalts hier erforderlich und zweckmäßig war, unterliegt angesichts der rechtlichen Komplexität der Angelegenheit keinem Zweifel.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 91a ZPO.

Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 709 Sätze 1 und 2 ZPO.