LG Marburg, Beschluss vom 23.11.2015 - 3 Qs 17/15
Fundstelle
openJur 2019, 36834
  • Rkr:

Ist nur Arrest zu erwarten, darf die Untersuchungshaft gegen einen Jugendlichen in der Regel vier Wochen nicht überschreiten

Tenor

Die Haftbefehle werden aufgehoben.

Die notwendigen Auslagen der Beschwerdeführer werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe

Der angefochtene Haftbefehl des Amtsgerichts Marburg vom 23.09.2015 legt den Beschwerdeführern - A.S. als Heranwachsender - zur Last, am 21.09.2015 sich gemeinschaftlich an Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen wurde, als Täter oder Teilnehmer beteiligt zu haben, oder auf die Menschenmenge eingewirkt zu haben, um die Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern, wobei die Täter eine Waffe oder ein anderes gefährliches Werkzeug bei sich führten, sowie tateinheitlich hierzu gemeinschaftlich handelnd andere Personen körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt zu haben, wobei die Körperverletzungen mittels gefährlicher Werkzeuge und mit anderen Beteiligten gemeinschaftlich begangen worden sind.

Die Beschwerdeführer seien Asylsuchende, die derzeit die Asylbewerberunterkunft in NN. bewohnen. Im Laufe der vorangegangenen Wochen sei es zwischen dem Beschwerdeführer A.S. und anderen Asylbewerbern albanischer Nationalität, welche sich ebenfalls in der genannten Asylbewerberunterkunft aufhielten, zu diversen verbalen und in einem Fall wohl auch zu einer körperlichen Auseinandersetzung [gekommen]. Hintergrund dieser Konflikte sei offensichtlich gewesen, dass sich verschiedene albanischstämmige Mädchen von dem A.S. belästigt gefühlt hätten und A.S. daraufhin von Asylbewerbern albanischer Nationalität zur Rede gestellt und möglicherweise auch geschlagen worden sei. Infolge dieser Vorgeschichte habe A.S. am 21.09.2015 beschlossen, sich an "den Albanern" zu rächen. Er habe die Beschwerdeführer A.H., H.A. und mindestens 30 weitere arabisch-stämmige Asylsuchende, deren Identität zum jetzigen Zeitpunkt nur teilweise ermittelt habe ermittelt werden können, überredet, gegen die Gruppe der albanischstämmigen Asylbewerber vorzugehen. In den Abendstunden hätten sich die drei Beschwerdeführer und mindestens 30 weitere arabisch-stämmige Asylbewerber zu dem auf dem Gelände der Flüchtlingsunterkunft befindlichen Gebäude Nr. 7 begeben. Aus der Gesamtgruppe der Angreifer heraus sei sodann das Wohngebäude der albanischstämmigen Asylbewerber mit Steinen beworfen worden. Sodann hätten sich die Beschwerdeführer in das Gebäudeinnere begeben und dort in den 2. Stock, wobei sie die Sätze: "Fuck you Albaner!" und "Wir werden Euch alle umbringen!" ausgerufen hätten. Die drei Beschwerdeführer und weitere arabisch-stämmige Personen hätten gemeinschaftlich auf den Geschädigten Fa. F. eingeschlagen. Der Geschädigte F. habe hierdurch Prellungen im Bereich der Schulter links und des Handgelenks links erlitten. Die Ehefrau des Fa. F., die Geschädigte E. FD., sei von dem Beschwerdeführer A.H mit einem Stein beworfen worden. Sie habe eine Prellung und Schmerzen erlitten. Eine weitere weibliche albanische Person mit dem Vornamen Ag., deren genaue Personalien derzeit noch nicht feststünden, sei gleichfalls durch einen aus der Gruppe der "arabisch-stämmigen" Angreifer herausgeworfenen Stein getroffen und verletzt worden.

Diese Handlungen seien mit Strafe bedroht als Vergehen gemäß §§ 125, 125 a Nr. 2 und 4, 223, 224 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Abs. 1 Nr. 4, 25 Abs. 2, 52 StGB. Der dringende Tatverdacht ergebe sich aus den Angaben der Zeugen G. Al M., Fa. F., E-F., De., D. und YD.

Es bestehe hinsichtlich aller Beschwerdeführer der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Ziff. 2 StPO. Die Beschwerdeführer hielten sich als Asylsuchende in einer Sammelunterkunft für Asylbewerber in Neustadt auf. Ihr ausländerrechtlicher Status sei noch nicht geklärt. Verfestigte soziale Bindungen in die Bundesrepublik Deutschland bestünden nicht. Aufgrund der im Verurteilungsfall zu erwartenden Freiheitsstrafe sei zu erwarten, dass die Beschwerdeführer sich dem Strafverfahren entzögen, indem sie sich in ein anderes Land der Europäischen Union begäben und dort neuerlich um Asyl nachsuchen würden oder aber innerhalb des Bundesgebietes untertauchten. Bezüglich des A.S. bestehe darüber hinaus der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 3 b) StPO. Ausweislich der Zeugenvernehmung des G Al M. habe A.S. gegenüber diesem Zeugen geäußert, er würde später seine Rechnung bekommen und er würde ihn schlagen, sollte G. Al M. bei der Polizei aussagen.

Die am 22.09.2015 festgenommen Beschwerdeführer befinden sich seit diesem Tag in Haft. Sie legten gegen den Haftbefehl Beschwerde ein, über die von der Kammer nicht entschieden werden konnte, weil die Staatsanwaltschaft am Tage des Ablaufes der Frist zur Stellungnahme der Verteidiger, dem 09.11.2015, Anklage vor dem Jugendschöffengericht erhob und die Haftbeschwerde deshalb als Haftprüfungsantrag umzudeuten war. Das Schöffengericht führte am 17.11.2015 die mündliche Haftprüfung durch, an dem der Angeschuldigte H.A nebst Verteidiger sowie der Verteidiger des Angeschuldigten A.H teilnahmen. Die Haftbefehle gegen alle Angeschuldigten wurden mit gleichlautenden Beschlüssen, die keine weitergehende Begründung enthalten, vom selben Tag aufrechterhalten (Bl. 720 ff.). Dagegen richten sich die vorliegenden Beschwerden der Angeschuldigten, in denen sie auf ihre bisherige Einlassungen und Vortrag der Verteidigung Bezug nehmen.

Der Beschuldigte A.S. trägt in seiner ersten, in Bezug genommenen Beschwerde im Wesentlichen vor, er sei am Tag vor dem Vorfall von einem Albaner mit "Fuck you!" beschimpft worden. Am Tag des Vorfalls sei das erneut geschehen und er sei anschließend von mehreren Albanern geschlagen worden; diese hätten auch Steine auf das Haus Nr. 8, in dem Araber wohnten, geworfen. Bei dem Vorfall habe er sich nur gewehrt. Er habe weder eine Eisenstange eingesetzt noch Steine geworfen noch ein Messer dabei gehabt. Für alles berief er sich auf den H. als Zeugen.

In seiner das jetzigen Verfahren betreffenden Beschwerde trägt der Beschwerdeführer vor, falls ihm überhaupt eine Tatbeteiligung nachgewiesen würde, erwartete ihn höchstens eine Bewährungsstrafe, so dass die (weitere) Untersuchungshaft unverhältnismäßig sei.

Der Beschuldigte H.A trägt in seiner ersten, nunmehr erneut vorgetragenen Beschwerde (Bd. III Bl. 727 ff.) im Wesentlichen vor, ein dringender Tatverdacht liege nicht vor, denn er sei lediglich von einem Zeugen (Fa. F.) als Täter benannt worden, jedoch sei dies aufgrund einer nicht brauchbaren Lichtbildvorlage erfolgt. Zudem hätten andere - albanische - Zeugen zwar den Angriff auf F. bekundet, den Beschwerdeführer H.A aber gerade nicht als Täter identifiziert. Außerdem liege eine Fluchtgefahr nicht vor, was die Beschwerde im Einzelnen ausführt. Jedenfalls sei der Haftbefehl aus Verhältnismäßigkeitsgründen außer Vollzug zu setzen.

Der Beschuldigte A.H hat sich weder bei der Polizei noch im Rahmen der Beschwerden geäußert; im Haftprüfungstermin wies der Verteidiger darauf hin, dass der Beschwerdeführer nicht vorbestraft sei und nur eine sehr geringe Fluchtgefahr bestehe, weil er nirgendwo hin könne; eine Meldeauflage genüge.

II.

1. Soweit die Haftbefehle auf dem Verdacht einer gefährlichen, nämlich gemeinschaftlich und mittels eines gefährlichen Werkzeugs begangenen Körperverletzung beruhen, sind sie aufzuheben, weil lediglich ein hinreichender, aber nicht der erforderlich dringende Tatverdacht vorliegt.

Der Nachweis der Täterschaft beruht auf der Wiedererkennung der Beschwerdeführer aufgrund von Lichtbildvorlagen. Dieses Beweismittel ist vorliegend Angriffen ausgesetzt, was Art und Umfang der Tatbeteiligung anlangt (dass die Beschwerdeführer am Tatort im weiteren Sinne anwesend waren, haben sie eingeräumt):

a) Der Bundesgerichtshof hat in mehreren Entscheidungen auf die Problematik einer wiederholten Lichtbildvorlage hingewiesen; eine solche erfordert vom Tatrichter - und zunächst von der Staatsanwaltschaft - eine besonders gründliche Untersuchung der Umstände. Im vorliegenden Fall erfolgte die erste - und möglicherweise bei den Zeugen einen "Anker" setzende - Lichtbildvorlage durch den Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes FE. (Vermerk Bd. I Bl. 9); es ist nicht ausreichend ermittelt, wie diese Vorlage durchgeführt wurde, denn die Vermerke Bd. I Bl. 185 und Bd. II sowie die Angaben des Zeugen FE. lassen eine Reihe von Fragen offen, z.B., welche Qualität die von ihm "aus dem System" ausgedruckten Fotos hatte, wie er die Auswahl der acht vorgelegten Bilder getroffen hat und wie sich das Ehepaar verhalten hat, das die Bilder gemeinsam (!) angeschaut hat. Ferner enthalten die Vernehmungen der Geschädigten mehrfach Hinweise darauf, dass die Geschädigten von den Vernehmenden auf "die drei Beschwerdeführer" angesprochen wurden, ohne dass ersichtlich wird, wer damit gemeint ist, insbesondere bevor die polizeiliche Lichtbildvorlage erfolgte. Sodann wurden "Vorgespräche" mit den Geschädigten geführt; auch hier ist nicht erkennbar, was Gegenstand derselben war. Des Weiteren handelt es sich bei den in der ersten polizeilichen Lichtbildvorlage gezeigten Bildern um sehr kleine schwarzweiß-Fotos in Passbildgröße; das mindert die Möglichkeiten einer Wiedererkennung. Soweit eine zweite polizeiliche Lichtbildvorlage erfolgte (welche also die dritte Vorlage insgesamt war und schon deshalb besonderen Anforderungen genügen muss), fällt auf, dass die in Bd. II Bl. 406 ff. abgehefteten Fotos Personen von z.T. äußerst großer Unterschiedlichkeit abbildet; dies mindert den Wert der Identifizierung zusätzlich. Es fällt dabei weiter auf, dass nur der Beschuldigte A.S. rote, richtiger: etwas rötlich schimmernde Haare aufweist, aber keine der Vergleichspersonen; das "rote Haar" aber wurde von mehreren Zeugen als wesentliches Identifizierungsmerkmal des Täters benannt, der mit einer Stange oder Latte geschlagen habe. Wird aber nur ein Lichtbild mit dem wichtigsten Erkennungsmerkmal des Gesuchten vorgelegt, so hat die daraufhin erfolgte - dritte - Vorlage nahezu keinen Beweiswert.

b) Was die richterlichen Vernehmungen der Zeugen DD, FF., ADACI, BD und E.FD. (Bd. II Bl. 328 ff.) - denen wegen der anstehenden oder schon durchgeführten Abschiebung der albanischen Staatsbürger besondere Bedeutung zukommt - anlangt, erscheint das Protokoll darüber nicht ohne weiteres einer umfassenden Aufklärung dienlich, denn zum einen sind die Angaben der Zeugen z.T. sehr knapp und zudem widersprüchlich wiedergegeben und geben keine hinreichend genaue Auskunft über die Geschehensabläufe: [wird ausgeführt].

Der Zeuge konnte demnach einen nachvollziehbaren Ablauf des Geschehens nur unvollständig bekunden; es bleibt zu klären, wie der Beschwerdeführer A.S. - wenn er Täter gewesen war - gleichzeitig eine Eisenstange und ein Messer in Händen gehabt, mit der Stange geschlagen, mit dem Messer nichts gemacht und gleichzeitig (!) Steine geworfen hat. Es bleibt zu klären, was der Zeuge hat ausdrücken wollen, als er zunächst sagt, die fraglichen Personen hätten mit Steinen geworfen, dann aber bekundet, er könne nicht sagen, ob sie mit Steine geworfen haben. Für die weiteren Aussagen bleibt festzuhalten, dass es vor dem Gebäude so dunkel war, dass der Zeuge keine Person erkennen konnte. [folgt weitere Wiedergabe von Zeugenaussagen] Nach dieser Aussage spricht einiges dafür, dass der Angriff auf den Zeugen Fa. auf einem gesonderten Entschluss der daran Beteiligten erfolgt ist. Soweit zwei Täter eine Eisenstange geführt hätten, haben andere Zeugen bekundet, dass nur einer eine Eisenstange gehabt habe, nach den Angaben des folgenden Zeugen hatte einer ein Holzbrett.

c) Das richterliche Protokoll enthält ferner keine genaue Wiedergabe über die Art und Weise der dort - erneut - durchgeführten Lichtbildvorlage. Dies ergibt sich auch nicht zwingend aus den Akten. Vielmehr befanden sich der Folierung nach zum Zeitpunkt der richterlichen Zeugenvernehmungen am 09.10.2015 nur die kleinen schwarz-weiß-Bilder (Bd. I Bl. 62 ff.) in den Akten, während die großen Farbbilder der späteren polizeilichen Lichtbildvorlage vom 21.10.2015 (Bd. II Bl.421 ff.) dem Richter nicht vorgelegen haben dürften, zumal es sich dabei um die Vorlage von drei Serien zu je acht Bildern gehandelt hat. Es dürfte naheliegen, dass der Ermittlungsrichter insoweit als Zeuge in der Hauptverhandlung zu hören sein wird.

d) Für die rechtliche Bewertung des Geschehens bedarf es weiterer Ermittlungen. Dabei fällt auf, dass über die Anzahl der Personen, die in das Gebäude eingedrungen sein sollen, erheblich unterschiedliche Angaben der Zeugen vorliegen; so ist von drei, von vier, aber auch von über 20 Personen die Rede. Dies könnte Bedeutung für die Frage des (schweren) Landfriedensbruchs haben, falls sich herausstellt, dass der den Tatbestand des § 125a Nr. 2 StGB begründende Waffeneinsatz auf einem gesonderten Tatentschluss nur der Beschwerdeführer oder nur einem von ihnen beruht und gerade nicht mehr aus der Menschenmenge heraus erfolgt ist.

d) Des Weiteren ist es bisher offenbar noch nicht gelungen, weitere Zeugen - aus beiden "Lagern" - zu ermitteln, die zu dem Ablauf und der Beendigung Wahrnehmungen bekunden können, obwohl es doch auf beiden Seiten jeweils um die 30 Personen gewesen sein sollen. Nachdem das in den acht Wochen seit dem Vorfall nicht möglich war, spricht vieles dafür, dass es auch künftig nicht gelingen wird. Dadurch entstehende Erkenntnislücken wären nach dem Zweifelssatz zu schließen.

2. Der weitere Vollzug der Untersuchungshaft ist, die übrigen Voraussetzungen dieser Maßnahme unterstellt, jedenfalls nicht (mehr) verhältnismäßig, § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO. Die Rechtsprechung hat dies mehrfach in Fällen so gesehen, in denen der Inhaftierte nur mit einer Freiheitsstrafe bedroht war, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird (vgl. z.B. BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 29. Dezember 2005 - 2 BvR 2057/05 -, juris; BVerfG, Kammerbeschluss vom 29. Juni 1995 - 2 BvR 2537/94 -, juris; BVerfG, Beschluss vom 13. Oktober 1971 - 2 BvR 233/71 -, BVerfGE 32, 87-98, juris); dass es sich dabei teilweise um Aussetzungen von Reststrafen nach § 57 StGB handelte, ist unerheblich, es kommt vielmehr auf die "Nettostraferwartung" an (OLG Frankfurt, Beschluss vom 03. Januar 2014 - 1 Ws 206/13 -, juris); auch soweit es sich bei jenen Entscheidungen um solche im Zusammenhang mit einer Haft nach § 230 StPO handelt, hat dies für die Frage der Verhältnismäßigkeit einer Freiheitsentziehung keine Bedeutung.

Trotz des Hinweises der Kammer auf die genannten Entscheidungen haben sich weder der Ermittlungsrichter (außer einer Leerformel) noch die Staatsanwaltschaft zur Frage der Verhältnismäßigkeit, die auch von den Beschwerdeführern angeführt wurde, geäußert.

Der bisher ermittelte Sachverhalt rechtfertigt nicht die Vermutung, gegen die Beschwerdeführer werde im Falle ihrer Verurteilung eine Jugend- oder Freiheitsstrafe ohne Aussetzung zur Bewährung ausgesprochen.

Die den Beschwerdeführer zur Last gelegten Straftaten werden von § 125a und § 224 StGB mit Freiheitsstrafen von sechs Monaten bis zu zehn Jahren bedroht. Soweit Jugendrecht anzuwenden ist - die vorgelegte Personenstandsurkunde, der zufolge A.S. unter 18 Jahre alt ist, wird zu prüfen sein -, droht § 18 JGG eine Jugendstrafe, wenn deren Voraussetzungen nach § 17 Abs. 2 JGG überhaupt vorliegen, von sechs Monaten bis zu fünf Jahren an.

Die Bemessung der Freiheitsstrafe richtet sich nach § 46 StGB. Bei der Zumessung wägt das Gericht die Umstände, die für und gegen den Täter sprechen, gegeneinander ab. Dabei kommen namentlich in Betracht die Beweggründe und die Ziele des Täters, besonders auch rassistische, fremdenfeindliche oder sonstige menschenverachtende, die Gesinnung, die aus der Tat spricht, und der bei der Tat aufgewendete Wille, das Maß der Pflichtwidrigkeit, die Art der Ausführung und die verschuldeten Auswirkungen der Tat, das Vorleben des Täters, seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie sein Verhalten nach der Tat, besonders sein Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen, sowie das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen. Umstände, die schon Merkmale des gesetzlichen Tatbestandes sind, dürfen nicht berücksichtigt werden.

Was die Gesinnung der Beschwerdeführer anlangt - wenn denn ihre Täterschaft nachgewiesen würde -, kann nach den bisherigen Ermittlungen nicht davon ausgegangen werden, dass sie rassistischer oder fremdenfeindlicher Art war. Die Aufnahme dieser Beispiele in § 46 StGB als eine dem Täter nachteilig anzulastende Gesinnung hat ihren Grund zuvörderst darin, ein besonderes Augenmerk auf neo-nationalsozialistische Täter sowie solche, deren Handeln primär von weltanschaulichen Motiven getragen ist, wie etwa religiös-fanatisch auftretende Personen. Davon kann vorliegend nicht die Rede sein, sondern es handelte sich - den im Haftbefehl beschriebenen Tatverlauf als richtig unterstellt - um gewöhnliche Gruppenbildungen, wie sie auch in vielen anderen Bereichen des Lebens vorkommen; betrachtet man z.B. die Fan-Gruppierungen von Vereinen der Fußballbundesligen oder auch hiesige dörfliche "Feindschaften", so erscheint deren innerer Zusammenhalt gegen die Gruppierungen anderer Vereine bzw. Dörfer um ein Vielfaches enger und z.T. auch krimineller als der vorliegende Streit zwischen Syrern und Albanern, zumal zwischen diesen Völkern ersichtlich keine (heute noch relevanten) Völkerfeindschaften bestehen. Mehr als die Bildung einer spontanen Gruppenbildung innerhalb eines Flüchtlingslagers, die allem allgemeinen Wissen nach auf den Boden einer weitgehend verzweifelten allgemeinen Lage der Flüchtlinge entstanden ist und sich an einem noch gar nicht weiter aufgeklärten Vorfall zwischen einen (oder mehreren) 18jährigen und einem Mädchen entzündet hat, vermag die Kammer in dem Vorfall nicht zu sehen.

Der bei der Tat aufgewendete Wille der Beschwerdeführer erscheint aus einer sich steigernden, gruppendynamischen Entwicklung entstanden zu sein und ist in seinen Auswirkungen durchaus erheblich; es gibt aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass dahinter mehr als eine behaupteten - und von den Ermittlungen nicht widerlegte - Messerattacke samt Prügel wenige Stunden zuvor steht. Die im Haftbefehl aufgeführten Gewalttätigkeiten können nicht von nachdrücklichem Verletzungswillen getragen gewesen sein, denn sonst hätten der angenommene Schlag mit einer Eisenstange sowie der Wurf aus sehr naher Entfernung eines buchgroßen Steines auf den Körper der Geschädigten Verletzungen hervorrufen müssen, die nicht lediglich zu einem nur wenige Stunden dauernden Krankenhausaufenthalt geführt hätten. Die Steinwürfe im Übrigen haben nach den Lichtbildern in der Akte lediglich bei einem Fenster zu einer Beschädigung geführt, wodurch die Fensterscheibe aber nicht zersplittert ist.

Die unmittelbaren Auswirkungen der Tat sind verglichen mit dem, was bei zahllosen Kirmesschlägereien, die Alltag für die Gerichte sind, an oft schweren Verletzungen entsteht, doch eher sehr geringfügig; alle Verletzen wurden in derselben Nacht aus dem Krankenhaus entlassen.

Die bei den albanischen Flüchtlingen entstandene Furcht vor weiteren Übergriffen ist gewichtig. Soweit deshalb generalpräventive Umstände in Rede stehen könnten, kann aber nicht der Umstand außer Acht gelassen werden, dass sich alle im Lager verbliebenen Beteiligten nach einer ausführlichen Gefährderansprache und Belehrung über angemessenes Verhalten durch die Polizei ausdrücklich bereit erklärt haben, friedlich miteinander zu verkehren und Streitigkeiten ohne Gewalt beizulegen. Es erscheint keineswegs fernliegend, dass sich auch die Beschwerdeführer dem unterwerfen bzw. keine Anhänger für neuerliche Streithandlungen finden werden.

Über das Vorleben der Beschwerdeführer ist nichts bekannt; sie sind als unbescholten anzusehen.

Möglichkeiten zur Schadenswiedergutmachung gab es aufgrund der Verhaftung nicht; allerdings sollte auch hier berücksichtigt werden, was soeben zur Frage des künftigen Konfliktverhaltens der Menschen in der Einrichtung gesagt wurde.

Bei allem ist zu berücksichtigen, dass sich alle Beteiligten in einer lebensgeschichtlichen Ausnahmesituation befinden. Wie durch die Berichterstattung in den Medien allgemein bekannt, haben sie eine lange Flucht - syrische Personen aus einem entsetzlichen Bürgerkrieg - mit zahlreichen Entbehrungen und immer wiederkehrender Lebensgefahr hinter sich, deren Auswirkungen auf die Persönlichkeit hierzulande allenfalls intellektuell nachvollziehbar, aber nicht wirklich begreifbar sein dürften.

Mindestens für die - unterstellte - Strafzumessung dürfte neben den oben ausgeführten Umständen auch die Tatvorgeschichte Bedeutung erlangen. Nach den bisherigen Zeugenaussagen ist eine sexuelle Belästigung von albanischen Mädchen durch die Beschwerdeführer nicht einmal im Ansatz erkennbar. Vielmehr sollen die Beschwerdeführer den Mädchen "Luftküsse" zugeworfen haben; soweit sie auch Worte gerufen haben, hat sie niemand verstanden, weil sie in einer fremden Sprache gesprochen wurden (Angaben des Zeugen DE.). Unter diesen Umständen gewinnt die von dem Beschwerdeführer A.S. berichtete Messerattacke gegen ihn beim Mittagessen des Vorfalltags, bei der er einem Stich in den Bauch nur um Haaresbreite entkommen sein will, sowie die durch seine fotografierten Verletzungen glaubhaft gemachten Prügel kurz vor dem Vorfall möglicherweise eine andere Bedeutung im Blick auf die abendlichen Geschehnisse.

Nimmt man alle vorstehenden Umstände zusammen, so dürften - den Schuldnachweis entsprechend dem Haftbefehl unterstellt - im Blick auf den Beschwerdeführer A.S. die Voraussetzungen einer Jugendstrafe (Schwere der Schuld oder schädliche Neigungen) nicht vorliegen. Gegen die erwachsenen Beschwerdeführer dürften nur Bewährungsstrafen ausgesprochen werden können. Es dürfte sogar naheliegen, das Verfahren mit Strafbefehlen, auch nach § 59 StGB, oder mit Einstellungen nach § 153a StPO bzw. §§ 45 ff. JGG (z.B. gemeinnützige Arbeit) zu beenden, wie dies dem Vernehmen nach ursprünglich von der Staatsanwaltschaft in Betracht gezogen worden war. Der absehbar besonders große Aufwand, der mit einer rechtsstaatlich hinreichende Aufklärung in einer gedachten Hauptverhandlung zu leisten wäre, steht nach derzeitigen Erkenntnissen in keinem Verhältnis zu der Schwere der Taten und den zu erwartenden Sanktionen. Als Exempel für generalpräventiv ausgerichtete Erwägungen - die mit Blick auf das möglicherweise auf den Beschwerdeführer A.S. anzuwendende Jugendrecht ohnehin rechtswidrig wären - eignet sich das Geschehen offensichtlich in keiner Hinsicht.

Nimmt man das bemerkenswerte Agieren der Staatsanwaltschaft in den Blick, just zu dem Zeitpunkt, als ihr die Bedenken der Kammer gesprächsweise bekannt wurden, das (erste) Beschwerdeverfahren mithilfe der Anklageerhebung zu beenden, wo doch die erneute Beschwerde als sicher anzusehen war und wiederum zur Kammer gelangen würde, sowie den Umstand, dass sich weder die Staatsanwaltschaft noch das Jugendschöffengericht mit der Frage der Verhältnismäßigkeit näher befasst haben, so fällt es aufgrund der Gesamtheit der vorgenannten Umstände schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, als hätten dem Haftprüfungsverfahren fremde Überlegungen Bedeutung erlangt, etwa derart, man müsse gegen solche - scheinbaren - vandalistischen Völkerschlachten zwischen Gruppen von Asylsuchenden, von denen es ohnehin viel zu viele gebe, ein "starkes Zeichen" (für wen?) setzen. Andernorts selbstverständliche Grundsätze des Ermittlungsverfahrens können solcherart leicht zeitweise außer Blick geraten. Es ist zu rechtsstattlicher Gelassenheit zu raten.

3. Soweit die Staatsanwaltschaft - im ersten Beschwerdeverfahren - unter Hinweis auf eine weitere Beschwerde für den Fall der Aufhebung der Haftbefehle beantragt hatte, nach § 307 Abs. 2 StPO vor einer Freilassung die Rechtskraft der Entscheidung abzuwarten, steht dem § 120 Abs. 2 StPO entgegen, wonach durch die Einlegung eines Rechtsmittels die Freilassung des Beschwerdeführer nicht aufgehalten werden darf (Meyer-Goßner/Schmitt § 307 StPO Rdn. 2).

Die Entscheidung über die Auslagen folgt aus § 473 Abs. 1 StPO,

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