SG Darmstadt, Beschluss vom 15.05.2018 - S 17 SO 28/18 ER
Fundstelle
openJur 2019, 35780
  • Rkr:
Tenor

Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig bis zur endgültigen Entscheidung in der Hauptsache Eingliederungshilfe in Höhe von 359,70 € für die Beschaffung von Befestigungsgurten im PKW zur Verfügung zu stellen.

Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um Reparaturkosten für Sicherungsgurte als Leistung der Eingliederungshilfe.

Der 1999 geboren Antragsteller ist an Mukoviszidose erkrankt. Weiterhin leidet er an Epilepsie, hat einen shuntversorgten Hydrocepahlus, es bestehen ein Entwicklungsrückstand sowie Lähmungserscheinungen. Es sind ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G, B, aG und H festgestellt worden. Er ist auf einen Rollstuhl angewiesen, den er nicht eigenständig verlassen kann. Seine Eltern sind durch das Amtsgericht Offenbach am Main am 10. März 2017 zu seinen Betreuern bestellt worden mit den Aufgabenkreisen: Sorge für die Gesundheit des Betroffenen, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Geltendmachung von Ansprüchen auf soziale Sicherung, Organisation ambulanter Hilfen, Vertretung gegenüber Heim- bzw. Klinikleitung, Behörden, Versicherungen und sonstigen Institutionen, Entscheidung über die Entgegennahme und das Öffnen der Post des Betroffenen. Zum 1. Januar 2017 ist eine Überleitung in den Pflegegrad 5 erfolgt (Bescheid vom 26. November 2016). Der Antragsteller lebt, ebenso wie sein Zwillingsbruder sowie sein zwei Jahre jüngerer Bruder bei seinen Eltern. Die gesamte Familie bezieht Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II). Er ist Eigentümer eines VW Caddy, den er als Spende erhalten hat und für den er eine Steuererleichterung in Anspruch nimmt. Während der Fahrt sitzt der Antragsteller, der selber keinen Führerschein hat, in seinem Rollstuhl, der über eine Rampe in den Kofferraum gefahren wird und dort mit insgesamt vier Gurten gesichert wird. Ein Beckengurt zum Anschnallen des Antragstellers während der Fahrt ist bislang nicht vorhanden.

Bereits am 7. Juli 2016 beantragte der Antragsteller die Kostenübernahme für zwei Anschnallgurte im Auto unter Vorlage eines Kostenvoranschlags über 358,67 €. Mit Bescheid vom 8. Juli 2016 bewilligte die Antragsgegnerin dem Antragsteller daraufhin einmalige Leistungen der Eingliederungshilfe in Höhe von 358,67 € verbunden mit der Aufforderung, nach erfolgtem Austausch die Quittung vorzulegen.

Am 10. August 2017 beantragte der Antragsteller erneut den Austausch von zwei Gurten unter Vorlage eines Kostenvoranschlags in Höhe von 646,87 € der Firma E.

Daraufhin bat die Beklagte am 5. September 2017 um eine Bestätigung der Firma, dass ein kompletter Austausch notwendig sei, da bereits eine Beihilfe zur Reparatur von Gurten gewährt worden sei; auch werde eine Bestätigung benötigt, dass ein kompletter Tausch notwendig sei bzw. ob der Tausch einzelner Gurte möglich sei. Die Firma E. teilte per Mail am 14. September 2017 mit: Die Elektrogurte haken sporadisch und sind am Gurtband beschädigt; deshalb muss hier ein Austausch erfolgen. Die beiden hinteren Gurte sollten auf Kundenwunsch ebenfalls erneuert werden, da diese wohl ab und an nicht sauber funktionieren.

Zusammen mit weiteren Unterlagen legte der Antragsteller eine Rechnung vom 4. Februar 2016 über 148,44 € für zwei Spanngurte vor sowie einen Kostenvoranschlag der Firma E. vom 18. Oktober 2017 über 718,37 € vor. Dieser Kostenvoranschlag umfasste neben dem Austausch der vier Gurte auch einen Beckengurt.

Die Antragsgegnerin forderte den Antragsteller deshalb unter dem 19. September 2017 erneut auf, die Rechnung über 358,67 € vorzulegen. Unter Berücksichtigung der weiteren Auskunft der Firma Firma E. vom 14. September 2017 wies die Antragsgegnerin zudem darauf hin, dass eine Beihilfe nur für notwendige Maßnahmen (tatsächlich reparaturbedürftig) in Frage komme und forderte einen geänderten Kostenvoranschlag an.

Letztlich teilte die Mutter des Antragstellers telefonisch am 18. Januar 2018 mit, dass der Betrag von 358,67 € nicht für den Austausch von Gurten verwendet worden sei.

Mit Bescheid vom 18. Januar 2018 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Gewährung von laufenden Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch, Zwölftes Buch (SGB XII) in Form von Reparaturkosten für PKW-Gurte zur Sicherung des Rollstuhls ab. Zur Begründung führte sie aus, dass der Antragsteller im Besitz eines Schwerbehindertenausweises mit Merkzeichen G, aG, H und B sei. Hierdurch könne er den öffentlichen Nahverkehr mit Begleitperson unentgeltlich nutzen. Mit den Merkzeichen habe er Anspruch auf Erteilung eines Fahrscheinheftes durch die Antragsgegnerin. Der Fahrdienst für Menschen mit Behinderung könne in einem Umfang von jährlich 210 km in Anspruch genommen werden. Der Anspruch bestehe nur, wenn andere Fahrmöglichkeiten nicht oder nicht ausreichend zur Verfügung stünden bzw. wenn keine Kfz-Steuererleichterung gewährt werden könne. Zweck der Inanspruchnahme des Fahrdienstes sei es, die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen. Hierzu zählten bspw. Besuchsfahrten zu Freunden, Verwandten oder Fahrten zu Freizeitaktivitäten. Ausdrücklich ausgeschlossen seien Fahrten, für die andere Kostenträger zuständig seien. Dies seien z.B. Fahrten zu Ärzten, da diese nicht den Leistungen der Eingliederungshilfe entsprechen. Für notwendige Arzt- und Krankenfahrten sei die Krankenkasse anzusprechen. Durch den LWV bestehe die Möglichkeit einen Fahrdienst zu einer Tagesförderstätte und zurück zu nehmen. Die Beförderung mit einem privaten PKW werde daher nicht als erforderlich angesehen.

Mit seinem Widerspruch vom 16. Februar 2018 machte der Antragsteller geltend, dass es sich um einen unabweisbaren Bedarf handele, da er ohne funktionierende Sicherheitsgurte nicht im Wagen befördert werden könne. Zur Stütze seines Vortrags legte er ein Attest des Universitätsklinikums Frankfurt am Main vom 24. Januar 2018 vor. Danach sei es dem Antragsteller zum einen aus hygienischen Gründen nicht möglich öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, da große Menschenansammlungen für ihn eine erhebliche Infektionsgefahr darstellten, die Neigung zu schwerwiegenden pulmonalen Infektionen sei bei dem Antragsteller sehr groß. Das Risiko einer gastrointestinalen Infektion bei Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel steige. Bei einem shuntversorgten Hydrocephalus in Kombination mit Epilepsie könnten Flüssigkeits- und Elektrolytmangelzustände (wie sie im Rahmen von Infekten des Magen-Darmtraktes auftreten) schnell lebensbedrohlich sein. Zum anderen sei der Antragsteller aufgrund seiner geistigen Behinderung nicht in der Lage mental mit großen Menschenansammlungen zurechtzukommen.

Zur weiteren Sachverhaltsaufklärung forderte die Antragsgegnerin den Antragsteller unter dem 26. Februar 2018 auf, nähere Angaben dazu zu machen, wann, wie oft und wohin der PKW genutzt werde und ob Begleitpersonen anwesend seien.

Am 3. März 2018 hat der Antragsteller einstweiligen Rechtsschutz bei dem Sozialgericht Darmstadt beantragt. Zur Begründung trägt er zuletzt vor, öffentliche Verkehrsmittel aufgrund seiner Erkrankung nicht nutzen zu können. Des Weiteren legt er eine Aufstellung seiner Mutter vor, welche Fahrten regelmäßig mit dem PKW zusammen mit ihm durchgeführt werden. Die Familie versuche, soweit dies möglich sein, ein "normales" Familienleben zu führen. Dies werde, wie sich auch aus der Aufstellung ergebe, so gestaltet, dass auch viele Erledigungen gemeinsam durchgeführt werden. Darüber hinaus sei es seiner Mutter z.B. wichtig, dass er am religiösen Leben, auch in Form regelmäßiger Kirchgänge, teilnehme. Auch wenn dies eine öffentliche Veranstaltung sei mit einem entsprechend erhöhten Infektionsrisiko habe seine Mutter eine Abwägung dahingehend getroffen, dass insoweit der Religionsausübung ein größeres Gewicht zukomme.

Der Antragsteller beantragt,

die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihm vorläufig bis zur endgültigen Entscheidung in der Hauptsache Eingliederungshilfe in Höhe von 359,70 € für die Beschaffung von Befestigungsgurten im PKW zur Verfügung zu stellen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Zur Begründung verweist sie darauf, dass Voraussetzung für die Eingliederungshilfe sei, dass der Antragsteller nicht nur vorübergehend auf die Benutzung des PKW angewiesen sei und wegen seiner Behinderung die Wegstrecken nicht zumutbar zu Fuß oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder anderweitig erreichen könne. In der Regel sei eine regemäßige Beschäftigung außerhalb des häuslichen Bereiches nachzuweisen, die, ohne Erwerbstätigkeit zu sein, einen ähnlichen Stellenwert wie eine solche aufweise und regelmäßige Fahrten, d.h. nahezu tägliche Fahrten, erforderlich mache. Aufgrund der zentrumsnahen Wohnlage sei es durchaus möglich, vieles fußläufig, auch gemeinsam mit dem Antragsteller zu erledigen. Auch könnten Erledigungen bei schlechtem Wetter auch einmal durch einen Elternteil allein durchgeführt werden. Es sei nicht begründet worden, dass der Antragsteller auf die Benutzung eines PKW angewiesen sei, und dass dies unentbehrlich für das Erreichen des Eingliederungsziels Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft sei. Auch könnte der Fahrdienst für Menschen mit Behinderung in Anspruch genommen werden. Entsprechend der Eingliederungshilfeverordnung sei ein Darlehen möglich. Voraussetzung sei jedoch, dass der Bedarf entsprechend anerkannt werde. Es sei nicht festzustellen, dass ein Bedarf bestehe.

Im Rahmen des Erörterungstermins am 26. April 2018 hat das Gericht den PKW und die Gurte in Augenschein genommen. Insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen Verwaltungsakte der Antragsgegnerin Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag ist begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht, soweit kein Fall nach § 86b Abs. 1 SGG vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde (§ 86b Abs. 2 Satz 1 SGG). Nach Satz 2 dieser Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung dafür ist das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs (materielles Recht, für das einstweiliger Rechtsschutz begehrt wird) und eines Anordnungsgrundes (Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, wenn ein Abwarten auf eine Entscheidung in der Hauptsache nicht zuzumuten ist). Dabei stehen sich Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert einander gegenüber, vielmehr besteht zwischen ihnen eine funktionelle Wechselbeziehung dergestalt, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Eingriffs (Anordnungsgrund) zu verringern sind oder umgekehrt. Dabei dürfen keine zu hohen Anforderungen an die Glaubhaftmachung im Eilverfahren gestellt werden. Die Anforderungen haben sich vielmehr am Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Antragsteller mit seinem Begehren verfolgt (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschlüsse vom 29. Juli 2003, 2 BvR 311/03, juris und vom 19. März 2004, 1 BvR 131/04, juris). Ist dagegen dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand einer Folgenabwägung unter umfassender Berücksichtigung der grundrechtlichen Belange aller Beteiligter zu entscheiden (BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05, juris; Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl., § 86b Rdnr. 27 f. m.w.N.).

Ausgehend davon ist eine vorläufige Regelung zu Gunsten des Antragstellers zu treffen, da ein Anordnungsanspruch besteht und dem Antragsteller die weitere Nutzung des PKW ohne ausreichende Sicherung oder der vollständige Verzicht auf die Nutzung nicht weiter zumutbar sind (Anordnungsgrund).

Rechtsgrundlage des Anspruchs auf Erstattung der Kosten für Anschaffung und Einbau der Sicherungsgurte ist § 19 Abs. 3 Satz 1 SGB XII i.V.m. §§ 53, 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII und § 55 Abs. 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) (in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung) sowie § 10 Abs. 3 SGB XII.

Nach § 19 Abs. 3 SGB XII wird Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel des SGB XII geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern und, wenn sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern oder einem Elternteil die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels des SGB XII nicht zuzumuten ist.

Nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII erhalten Personen, die durch eine Behinderung im Sinne von § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX wesentlich in ihrer Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, eingeschränkt oder von einer solchen Behinderung bedroht sind, Leistungen zur Eingliederungshilfe, wenn und solange nach der Besonderheit des Einzelfalles, insbesondere nach Art oder Schwere der Behinderung, Aussicht besteht, dass die Aufgabe der Eingliederungshilfe erfüllt werden kann. Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es gemäß § 53 Abs. 3 Satz 1 SGB XII, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihnen die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen (Satz 2).

Die Leistungen der Eingliederungshilfe werden durch § 54 Abs. 1 SGB XII und die auf Grundlage der Ermächtigung des § 60 SGB XII erlassene Eingliederungshilfe-Verordnung (Eingliederungshilfe-VO) konkretisiert. Gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 in der Fassung vom 23. Dezember 2016, gültig seit dem 1. Januar 2018, sind Leistungen der Eingliederungshilfe neben den Leistungen nach § 140 und neben den Leistungen nach den §§ 26 und 55 SGB IX in der am 31. Dezember 2017 geltenden Fassung insbesondere die in Nr. 1 bis Nr. 5 aufgezählten Leistungen. Nach § 55 Abs.1 SGB IX (in der bis zum 31. Dezember 2017 geltenden Fassung) werden als Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft die Leistungen erbracht, die den behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft ermöglichen oder sichern oder sie so weit wie möglich unabhängig von Pflege machen und nach den Kapiteln 4 bis 6 nicht erbracht werden. Leistungen nach Absatz 1 sind gemäß § 55 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX insbesondere die Versorgung mit anderen als den in § 31 SGB IX genannten Hilfsmitteln oder den in § 33 SGB IX genannten Hilfen.

§ 9 Abs. 1 Eingliederungshilfe-VO konkretisiert den Begriff des "anderen Hilfsmittels" im Sinne des § 55 Abs. 2 Nr. 1 SGB IX. Andere Hilfsmittel sind danach nur solche Hilfsmittel, die dazu bestimmt sind, zum Ausgleich der durch die Behinderung bedingten Mängel beizutragen. Zu den anderen Hilfsmitteln im Sinne des Absatzes 1 gehören nach § 9 Abs. 2 Nr. 11 Eingliederungshilfe-VO auch besondere Bedienungseinrichtungen und Zusatzgeräte für Kraftfahrzeuge, wenn der behinderte Mensch wegen Art und Schwere seiner Behinderung auf ein Kraftfahrzeug angewiesen ist. Gemäß § 9 Abs. 3 Eingliederungshilfe-VO wird die Versorgung mit einem anderen Hilfsmittel im Sinne des § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. §§ 26, 33 und 55 SGB IX nur gewährt, wenn das Hilfsmittel im Einzelfall erforderlich und geeignet ist, zu dem in Absatz 1 genannten Ausgleich beizutragen, und wenn der behinderte Mensch das Hilfsmittel bedienen kann. Diese letzte Einschränkung bezieht sich nach der Regierungsbegründung nur auf solche Hilfsmittel, die eine Bedienung durch den behinderten Menschen auch tatsächlich erfordern; sie schließt nicht die Versorgung mit sonstigen anderen Hilfsmitteln aus, für die eine Bedienung durch den behinderten Menschen nicht in Betracht kommt (vgl. Schneider in: Schellhorn, Hohm, Schneider, SGB XII, 19. Aufl., § 9 EinglH-VO, Rdnr. 22). Dementsprechend ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass, soweit die Eingliederungshilfe ein Kfz betrifft, der behinderte Mensch das Hilfsmittel nicht selbst bedienen können muss (vgl. BSG, Urteil vom 2. Februar 2012, B 8 SO 9/10 R, juris, Rdnr. 25).

Ausgehend davon sind zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls die Voraussetzungen eines Anspruchs auf Zahlung von 359,70 € als Eingliederungshilfe erfüllt.

Der Antragsteller ist durch seine Behinderungen in seiner Teilhabefähigkeit in der Gesellschaft wesentlich im Sinn des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII eingeschränkt. Nach § 1 Nr. 1 Eingliederungshilfe-VO sind Personen durch körperliche Gebrechen wesentlich in ihrer Teilhabefähigkeit eingeschränkt, deren Bewegungsfähigkeit durch eine Beeinträchtigung des Stütz- oder Bewegungssystems in erheblichem Umfang eingeschränkt ist. Gemäß § 2 Eingliederungshilfe-VO sind geistig wesentlich behindert im Sinne des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII Personen, die infolge einer Schwäche ihrer geistigen Kräfte in erheblichem Umfange in ihrer Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft eingeschränkt sind. In diesem Sinne ist der Antragsteller - was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist - wesentlich in seiner Teilhabefähigkeit eingeschränkt.

Bei den Sicherungsgurten handelt es sich auch um ein Hilfsmittel im Sinne des § 9 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 11 Eingliederungshilfe-VO. Die besonderen Bedienungseinrichtungen und Zusatzgeräte für Kfz sind dann als Hilfsmittel im Sinne des § 9 Abs. 2 Nr. 11 Eingliederungshilfe-VO anzusehen, wenn der behinderte Mensch nur nach Einbau oder unter Benutzung dieser Geräte ein Kfz benutzen kann. Dies ist bei dem Antragsteller gegeben, da der PKW nur mit entsprechender Rollstuhlsicherung von ihm genutzt werden kann.

Dabei hat die Inaugenscheinnahme ergeben, dass die hinteren Gurte aufgrund der Auflösung am Rand, die für sich genommen nicht auf den ersten Blick erheblich erscheint, dazu führt, dass die automatische Öffnung der Gurte nicht mehr möglich ist. Dies hat zur Folge, dass der Gurte manuell gelöst werden müssen, wofür jemand in den PKW einsteigen muss und in dem Moment, in dem die Gurte gelöst sind, den Rollstuhl nicht mehr festhalten kann, um ihn am Herausrollen zu hindern. Von den beiden vorderen Gurten rastet einer nicht mehr ein, so dass die Sicherung über diesen Gurt nicht mehr besteht. Zusätzlich ist ein Beckengurt notwendig, da bislang lediglich der Rollstuhl gesichert wird, nicht hingegen der Antragsteller angeschnallt werden kann.

Es besteht Aussicht, bei dem Antragsteller die Folgen der Behinderung zu mindern und den Antragsteller in die Gesellschaft einzugliedern. Die Formulierung des § 53 Abs. 3 SGB XII, wonach behinderten Menschen die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht oder erleichtert werden soll, verdeutlicht, dass es insgesamt ausreicht, die Begegnung und den Umgang mit anderen Menschen im Sinne einer angemessenen Lebensführung zu fördern (vgl. BSG, Urteil vom 2. Februar 2012, B 8 SO 9/10 R, juris, Rdnr. 26). In welchem Maß und durch welche Aktivitäten ein behinderter Mensch am Leben in der Gesellschaft teilnimmt, ist abhängig von seinen individuellen Bedürfnissen unter Berücksichtigung seiner Wünsche (§ 9 Abs. 2 SGB XII) (vgl. BSG, Urteil vom 23. August 2013, B 8 SO 24/11 R, juris, Rdnr.16). Es gilt mithin ein individueller und personenzentrierter Maßstab, der regelmäßig einer pauschalierten Betrachtung des Hilfsmittels entgegensteht (vgl. BSG, Urteil vom 8. März 2017, B 8 SO 2/16 R, juris, Rdnr. 18; Urteil vom 23. August 2013, B 8 SO 24/11 R, juris, Rdnr. 16).

Das Leben in der Gemeinschaft umfasst neben dem Kontakt zu Familie und Freundeskreis auch die Teilnahme am öffentlichen und kulturellen Leben (vgl. Voelzke in: Hauck/Noftz, SGB, § 53 SGB XII, Rdnr. 45). Kontakt zur Familie bedeutet auch Teilnahme am familiären Leben. Wie das familiäre Leben gestaltet wird, obliegt dabei der Entscheidung der jeweiligen Familie. Besteht ein Teil des familiären Lebens darin, gemeinsam zum Einkaufen zu fahren, so ist es im Hinblick auf den individuellen Maßstab ohne Belang, ob Fahrten zum Einkaufen auch ohne den Antragsteller hätten durchgeführt werden können oder die Fahrten in ihrer Häufigkeit nicht denen mit nicht behinderten Menschen entsprechen (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013, B 8 SO 18/12 R, juris, Rdnr. 16). Insoweit ist auch zu berücksichtigen, welche Aktivitäten dem Antragsteller überhaupt möglich sind, um am Leben in der Gemeinschaft teilzunehmen. Da er aufgrund seiner Entwicklungsverzögerung noch in einer sehr engen Beziehung zu seinen Eltern und insbesondere zu seiner Mutter steht, stellt die Begleitung bei den Einkäufen eine Form der Teilnahme am familiären Leben dar. Dass die Einkäufe - da ein PKW vorhanden ist - mit diesem üblicherweise erledigt werden, liegt im Bereich der individuellen Entscheidung der Familie des Antragstellers.

Dabei wird nicht übersehen, dass die Familiengestaltung mit PKW-Fahrten nur möglich ist, weil ein PKW vorhanden ist, der aber auch nur zusammen mit dem Antragsteller genutzt werden kann (aufgrund der Inanspruchnahme der Steuererleichterung) und deshalb eine gewisse Wechselwirkung zwischen Familiengestaltung und Notwendigkeit für den Antragsteller, den PKW nutzen zu können, besteht. Letztlich ist dies aber, solange ein PKW vorhanden ist, unter Berücksichtigung des übergeordneten Ziels der Eingliederung nicht zu Ungunsten des Antragstellers zu werten.

Auch regelmäßige Verwandtenbesuche, Kirchgänge oder Ausflüge sind eine Form der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, wenn auf andere Art und Weise ein Erleben von üblichen gesellschaftlichen Kontakten mit Menschen außerhalb der Familie und das Erlernen von entsprechenden Umfangsformen und Verhaltensweisen nicht hinreichend möglich ist und die Fahrten gerade deshalb mit dem Antragsteller unternommen werden (vgl. BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013, B 8 SO 18/12 R, juris, Rdnr. 16). Es spielt keine Rolle, dass durch etwaige Eingliederungshilfeleistungen die Familiengestaltung mittelbar "gefördert" wird. In erster Linie soll der Umbau des Fahrzeugs die Mobilität des Antragstellers erhöhen oder herstellen und ihm Teilhabemöglichkeiten eröffnen (vgl. BSG, Urteil vom 23. August 2013, B 8 SO 24/11 R, juris, Rdnr.17). Ob die Teilhabemöglichkeit im Besuch von kirchlichen Veranstaltungen, Kinobesuchen, Ausflügen der Familie oder der Teilnahme an alltäglichen Familienbesorgungen besteht, obliegt der Entscheidung des Behinderten. Er bestimmt selbst, was er in seiner Freizeit tut und welche Möglichkeiten zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft er ergreift (vgl. BSG, Urteil vom 23. August 2013, B 8 SO 24/11 R, juris, Rdnr. 17). Dabei obliegt es auch ihm bzw. seinen Betreuern eine Risikoabwägung zu treffen zwischen dem Erfordernis der Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben und den damit ggf. einhergehenden gesundheitlichen Risiken.

Ob all die Fahrten, die der Antragsteller aufgeführt hat, auch ohne PKW erledigt werden könnten, bedarf für die Frage, ob ein Anspruch auf die Kosten für Sicherungsgurte besteht, keiner Entscheidung. Der Anspruch auf Hilfe für besondere Bedienungseinrichtungen und Zusatzgeräte für ein bereits vorhandenes Kfz ist allein nach § 9 Abs. 1 und 2 Nr. 11 Eingliederungshilfe-VO zu beurteilen. Die engeren Voraussetzungen des § 8 Eingliederungshilfe-VO für die Beschaffung eines Kfz gelten hier nicht, denn jede der Vorschriften der §§ 8, 9 und 10 Eingliederungshilfe-VO sind eigenständige Regelungen, betreffen eigenständige Bedarfslagen und setzten die Anspruchsvoraussetzungen eigenständig fest (vgl. so bereits BVerwG, Beschluss vom 20. Dezember 1990, 5 B 113/89, juris). Maßgeblich sind danach allein die Anspruchsvoraussetzungen nach § 9 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 11 Eingliederungshilfe-VO, wonach es nur darauf ankommt, ob der Antragsteller auf (die Benutzung eines) ein Kfz angewiesen ist.

Um an den Aktivitäten der Familie und den weiteren Veranstaltungen teilnehmen zu können, ist der Antragsteller auf die Benutzung des PKW angewiesen. Dass der Antragsteller öffentliche Verkehrsmittel aufgrund seiner Erkrankung nicht im erforderlichen Umfang regelmäßig nutzen kann, erschließt sich unmittelbar aus den Grunderkrankungen, insbesondere der Mukoviszidose, wie dies nachvollziehbar im ärztlichen Atteste des Universitätsklinikums Frankfurt am Main vom 24. Januar 2018 dargelegt wird. Auf die Nutzung des Behindertenfahrdienstes kann der Antragsteller ebenfalls nicht verwiesen werden. Nach den Ausführungen der Antragsgegnerin im Bescheid vom 18. Januar 2018 setzt die Nutzungsmöglichkeit des Behindertenfahrdienstes voraus, dass keine Kfz - Steuererleichterung gewährt werde. Dies ist bei dem Antragsteller aber gerade der Fall: Der PKW, der mit den hier streitigen Gurten ausgestattet werden soll, gehört dem Antragsteller und er nimmt dafür eine Steuererleichterung in Anspruch.

Die Einkommens- und Vermögensverhältnisse des Antragstellers (§ 19 Abs. 3 SGB XII i.V.m. §§ 82 ff SGB XII) stehen der Leistungsgewährung nicht entgegen. Soweit der Antragsteller bereits 358,67 € für den geltend gemachten Bedarf erhalten hat, hat er sich damit einverstanden erklärt, dass diese Zahlung auf die Kosten laut Kostenvoranschlag von 718,37 € angerechnet werden.

Besteht ein Anordnungsanspruch, so sind die Anforderungen an das Eilbedürfnis für eine vorläufige Regelung aufgrund der funktionellen Wechselwirkung zwischen Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund geringer. Nach der Inaugenscheinnahme ist es für das Gericht nachvollziehbar, dass keine ausreichende Sicherung des Rollstuhls und des Antragstellers im PKW bestehen. Auch wenn sich der Antragsteller darauf verweisen lassen muss, zumindest zeitweise auf die umfangreichere Eingliederung in das Leben in der Gemeinschaft zu verzichten, solange der PKW nicht sicher genutzt werden kann, ist es ihm aber im Hinblick auf das Bestehen eines Anordnungsanspruchs nun nicht weiter zuzumuten, eine endgültige Entscheidung der Antragsgegnerin in der Hauptsache abzuwarten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG).

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