OLG Hamm, Beschluss vom 30.07.2019 - 4 Ws 133/19
Fundstelle
openJur 2019, 33568
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 10 KLs 13/17

Das Absehen von der Erstattung notwendiger Auslagen im Falle des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO setzt keine Schuldspruchreife voraus. Die tatbestandlichen Voraussetzungen sind schon dann erfüllt, wenn im Zeitpunkt des Eintritts des Verfahrenshindernisses ein zumindest hinreichender Tatverdacht fortbesteht und keine Umstände erkennbar sind, die bei Durchführung der Hauptverhandlung die Konkretisierung des hinreichenden Tatverdachts in Frage stellen.

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft wird die Kostenentscheidung in dem Beschluss des Landgerichts Münster vom 29.03.2019 insoweit aufgehoben, als die dem Angeklagten erwachsenen notwendigen Auslagen der Staatskasse auferlegt worden sind.

Die Sache wird zur erneuten Behandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens - an die Jugendkammer des Landgerichts Münster bei dem Amtsgericht Bocholt zurückverwiesen.

Gründe

I.

Mit Anklageschrift vom 06.11.2017 hat die Staatsanwaltschaft Dortmund - Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen - gegen den Angeklagten u.a. Anklage wegen Beihilfe zum Mord in mehreren hundert Fällen vor der Jugendkammer des Landgerichts Münster bei dem Amtsgericht Bocholt erhoben. Die Jugendkammer hat mit Beschluss vom 12.09.2018 die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren gegen den Angeklagten eröffnet. Hauptverhandlungstermine haben am 06.11., 08.11., 13.11., 15.11., 20.11., 22.11., 27.11. und 13.12.2018 stattgefunden. Die Hauptverhandlungstermine wurden auf Empfehlung eines im Zwischenverfahren eingeholten medizinischen Sachverständigengutachtens zur Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten auf eine Dauer von maximal zwei Stunden je Verhandlungstag begrenzt. Im Termin am 13.12.2018 ist die Hauptverhandlung wegen der Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten bereits nach einer Stunde unterbrochen und sodann ausgesetzt worden. Mit Beschluss der Jugendkammer vom 29.03.2019 ist das Verfahren aufgrund der dauerhaften Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten gemäß § 206a StPO eingestellt worden; die Kosten des Verfahrens einschließlich der notwendigen Auslagen sind der Staatskasse auferlegt worden. Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, sie könne einen fortdauernden erheblichen Tatverdacht nicht feststellen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe nur sicher festgestanden, dass der Angeklagte als Wachmann im Konzentrationslager U eingesetzt gewesen sei. Allein dieser Umstand rechtfertige jedoch die Annahme eines erheblichen Tatverdachts hinsichtlich der angeklagten Beihilfe zum Mord nicht. Welche konkreten Tätigkeiten der Angeklagte im Rahmen dieses Einsatzes habe ausüben müssen, von welchen Umständen er Kenntnis gehabt habe oder aber auf welchem Posten er konkret eingesetzt worden sei, stehe zum Zeitpunkt des Verfahrenshindernisses nicht fest. Bei Hinwegdenken des vorliegenden Verfahrenshindernisses wäre demzufolge eine Verurteilung nach dem gegenwärtigen Stand der Beweisaufnahme mit Sicherheit nicht zu erwarten gewesen.

Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Münster.

Die Generalstaatsanwaltschaft ist dieser sofortigen Beschwerde beigetreten und beantragt, die angefochtene Kostenentscheidung dahingehend abzuändern, dass davon abgesehen wird, die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen.

Der Verurteilte hat mit Schriftsätzen seiner Verteidiger vom 19. und 28.06.2019 Stellung genommen.

II.

Die gegen die Auslagenentscheidung gerichtete sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

1.

Bereits die mit der angefochtenen Entscheidung getroffenen Feststellungen der Kammer, an die der Senat nach § 464 Abs. 3 Satz 2 StPO gebunden ist, sind unzureichend und ermöglichen daher keine Prüfung, ob das Landgericht rechtsfehlerfrei davon abgesehen hat, den Angeklagten nach § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO mit seinen notwendigen Auslagen zu belasten.

a.

Nach § 464 Abs. 3 Satz 2 StPO ist das Beschwerdegericht an die tatsächlichen Feststellungen, auf denen die angefochtene Entscheidung beruht, gebunden. Die Grundsätze der Verfahrensbeschleunigung und der Prozessökonomie verlangen, dass die Feststellungen nicht allein wegen der Beschwerde gegen die Kosten- und Auslagenentscheidung in Frage gestellt werden. Dies gilt auch für diejenigen Feststellungen, die nur für die Kosten- und Auslagenentscheidung erheblich sind (zu vgl. BGHSt 36, 29). Aus diesen Gründen ist eine umfassende Bindung auch bei isolierten Kostenbeschlüssen und sonstigen Kosten- und Auslagenentscheidungen anzunehmen. Denn auch hier spricht das Interesse an der Verfahrensbeschleunigung gegen eine erneute Überprüfung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen. Hinzu kommt, dass gerade in den Fällen, in denen eine Hauptverhandlung durch das Tatgericht zumindest teilweise stattgefunden hat, das Tatgericht aufgrund der größeren Sachnähe und der hier vertypt unterschiedlichen Qualität der verfügbaren Ermittlungs- und Beurteilungsmöglichkeiten, insbesondere der strengbeweislichen Erhebungen über einen zuverlässigeren Eindruck von dem relevanten Geschehen verfügt als das Beschwerdegericht, das sich nur auf den Akteninhalt stützen kann (KG, Beschluss vom 02.12.2011, 1 Ws 82/11, juris). Die strukturelle Überlegenheit der tatrichterlichen Erkenntnismöglichkeiten bezieht sich dabei nicht nur auf den unmittelbaren Eindruck, den das erkennende Gericht von dem Angeklagten gewinnt, sondern auch auf Beweismittel, insbesondere Zeugen und Sachverständige, deren Bekundungen vor dem Landgericht nicht protokolliert werden und damit der Kenntnis und Beurteilung durch das Beschwerdegericht entzogen sein können (KG, a.a.O.).

b.

Da es dem Beschwerdegericht in Kostensachen grundsätzlich verwehrt ist, seine eigenen tatsächlichen Feststellungen an die Stelle derjenigen der angefochtenen Entscheidung zu setzen, führt das Fehlen der für die Kosten- und Auslagenentscheidung maßgeblichen Sachverhaltsfeststellungen regelmäßig zur Aufhebung und zur Zurückverweisung an die Vorinstanz (zu vgl. BGH, Beschluss vom 04.12.1974, 3 StR 298/74, juris). Die angefochtene Entscheidung enthält in Bezug auf die Voraussetzungen des § 467 Abs. 3 Satz 2 StPO, insbesondere die Stärke des gegen den Angeklagten fortbestehenden Tatverdachts keine ausreichenden tatsächlichen Feststellungen. Aus Sicht der Jugendkammer soll zum Zeitpunkt des Eintritts des Verfahrenshindernisses lediglich festgestanden haben, dass der Angeklagte als Wachmann in dem Konzentrationslager U eingesetzt war. Weitere tatsächliche Feststellungen lassen sich dem Beschluss der Kammer nicht entnehmen. Angesichts dessen, dass ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls der Sachverständige Dr. I im Hauptverhandlungstermin am 22.11.2018 sein Gutachten erstattet hat, erscheinen die Sachverhaltsfeststellungen der Kammer in dem Auslagenbeschluss zumindest lückenhaft.

2.

Aus Sicht des Senats ist es nicht gerechtfertigt, für die gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Ziff. 2 StPO zu treffende Prognoseentscheidung ausschließlich auf den "gegenwärtigen" Stand der Beweisaufnahme abzustellen.

a.

Gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO kann ausnahmsweise davon abgesehen werden, die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse aufzuerlegen, wenn dieser wegen einer strafbaren Handlung nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Im Gegensatz zu § 467 Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 und Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 knüpft die Vorschrift des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO nicht an ein vorwerfbares Verhalten des Angeklagten an, sondern an die Prognose, dass der Angeklagte wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Vorschrift sind bereits erfüllt, wenn bei dem bei Feststellung des Verfahrenshindernisses gegebenen Verfahrensstand ein zumindest hinreichender (oder erheblicher) Tatverdacht besteht (BGH, Beschluss vom 05.11.1999, 3. Strafsenat, StB 1/99, juris; OLG Hamm, 2 Ws 60/10, juris). Es dürfen im Übrigen keine Umstände vorliegen, die bei weiterer Hauptverhandlung eine Konkretisierung des Tatverdachts bis zur Feststellung der Schuld in Frage stellen (BGH, Beschluss vom 24.05.2018, 4 StR 51/17; OLG Celle, Beschluss vom 06.08.2013, 2 Ws 144/13, juris; OLG Rostock, Beschluss vom 15.01.2013, 1 Ws 342/12, juris). Diese Voraussetzungen können grundsätzlich bereits durch das in der Anklageerhebung mündende Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen erfüllt sein (KG Berlin, Beschluss vom 02.12.2011, 1 Ws 82/11, burhoffonline), wenn der hierdurch begründete Tatverdacht erheblich ist und tatsächlich oder rechtlich entlastende Umstände nicht ersichtlich sind.

b.

Der Gegenmeinung, wonach eine Versagung der Auslagenerstattung nur dann in Betracht kommt, wenn bei Hinwegdenken des Verfahrenshindernisses mit Sicherheit eine Verurteilung erfolgt wäre (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 05.02.1997, 2 Ws 25/97, juris; OLG München, Beschluss vom 01.08.1988, 2 Ws 237/88 K, juris), folgt der Senat nicht. Eine solche Auslegung würde den Anwendungsbereich der Vorschrift wegen der mit Blick auf die Unschuldsvermutung erforderlichen Spruchreife auf Fälle beschränken, in denen ein Verfahrenshindernis erst in der Hauptverhandlung nach dem letzten Wort des Angeklagten zu Tage tritt (BGH, Beschluss vom 5.11.1999, 3 StE 7/94, HRRS-Datenbank; OLG Köln, Beschluss vom 5.8.2010, 2 Ws 471/10, juris; OLG Hamm, 2 Ws 60/10, burhoffonline). Bei Einstellung vor Durchführung der Hauptverhandlung wäre demnach ein Absehen von der Überbürdung der notwendigen Auslagen auf die Staatskasse von vornherein ausgeschlossen, da eine Beweisaufnahme allein zur Klärung der für die Kosten- und Auslagenentscheidung maßgeblichen Fragen unzulässig ist (BVerfG, Beschluss vom 23.06.1990, 2 BvR 674/88, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 26.10.2000, 5 Ws 216/00, juris). Für die praktische Anwendung der Norm bliebe, ohne dass dies dem Wortlaut zu entnehmen wäre, nur ein äußerst begrenzter Raum (OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2003, 286, 287).

Für eine Anknüpfung an die bei Feststellung des Verfahrenshindernisses gegebene Verdachtslage spricht ferner der Umstand, dass auch im Rahmen der bei Ermessensentscheidungen nach § 467 Abs. 4 StPO zu treffenden Auslagenentscheidung maßgeblich auf die Stärke des Tatverdachts abgestellt wird (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 467, Rn. 19). Zudem spricht für diese Auslegung die Regelung des § 467a Abs. 1 Satz 2 StPO, die ohne Differenzierung zwischen den verschiedenen Verfahrensabschnitten auf § 467 Abs. 2 bis 5 StPO und damit auch auf die hier in Rede stehende Vorschrift für den Fall verweist, dass die Staatsanwaltschaft die Klage zurücknimmt und das Verfahren einstellt. Damit eröffnet der Gesetzgeber sogar in diesen Fällen die Möglichkeit der Versagung der Kostenüberbürdung auf die Staatskasse, obwohl noch nicht einmal ein Eröffnungsbeschluss vorliegt, also noch kein Spruchkörper den von der Staatsanwaltschaft mit der Anklage angenommenen hinreichenden Tatverdacht bejaht hat (OLG Rostock, Beschluss vom 15.01.2013, 1 Ws 342/12, juris).

c.

Die Unschuldsvermutung schließt nicht aus, in einer das Strafverfahren beendenden Entscheidung einen verbleibenden Tatverdacht festzustellen und zu bewerten und dies bei der Entscheidung über die kostenrechtlichen Folgen zu berücksichtigen (OLG Köln, a.a.O.). Rechtsfolgen, die keinen Strafcharakter haben, können darum auch in einer das Verfahren abschließenden Entscheidung an einen verbleibenden Tatverdacht geknüpft werden. Allerdings muss dabei aus der Begründung deutlich hervorgehen, dass es sich nicht um eine gerichtliche Schuldfeststellung oder -zuweisung handelt, sondern nur um eine Bewertung der Verdachtslage (BVerfG, Beschluss vom 29.10.2015, 2 BvR 388/13, juris.de).

d.

Soweit die Kammer - allein auf den "gegenwärtigen" Stand der Beweisaufnahme abstellend - daraus folgt, dass dieser Umstand einen erheblichen Tatverdacht des Angeklagten hinsichtlich des Vorwurfs der Beihilfe zum Mord nicht rechtfertige und daher eine Verurteilung mit Sicherheit nicht zu erwarten gewesen wäre, verengt sie den Anwendungsbereich des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nummer 2 StPO, ohne dass dies durch die Unschuldsvermutung oder den Wortlaut der Vorschrift veranlasst wäre. Auch die Deutung nach Sinn und Zweck der Norm erfordert diese restriktive Auslegung nicht.

Die Kammer hätte vielmehr prüfen müssen, ob unter Berücksichtigung des bisherigen Ergebnisses der Beweisaufnahme Umstände gegeben sind, die bei weiterer Hauptverhandlung eine Konkretisierung des - bereits mit Eröffnung der Hauptverhandlung durch die Jugendkammer bejahten - hinreichenden Tatverdachts in Frage stellen. Diesbezüglich sind dem Beschluss der Jugendkammer aber keine Ausführungen zu entnehmen.

3.

Sofern die Kammer aufgrund umfassender Würdigung zu dem Ergebnis eines fortdauernden hinreichenden Tatverdacht gelangen sollte, wird die danach erforderliche Entscheidung alle notwendigen Ermessenserwägungen erkennen lassen müssen.

Dabei wird dem Ausnahmecharakter von § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO grundsätzlich Rechnung zu tragen sein (BVerfG, Beschluss vom 26.05.2017, 2 BvR 1821/16, NJW 2017, 2459). Es werden alle Aspekte in die Ermessensentscheidung einzubeziehen sein, die ein Absehen von der regelmäßig zu erfolgenden Überbürdung der Kosten auf die Staatskasse angezeigt erscheinen lassen (OLG Rostock, a.a.O). Hierbei müssten auch der Zeitpunkt des Eintritts des Verfahrenshindernisses und eine eventuelle Vorhersehbarkeit des Hindernisses zu berücksichtigen sein (OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 04.08.2015, 2 Ws 46/15, openjur).