Hessisches LSG, vom 11.08.2016 - L 8 P 4/15
Fundstelle
openJur 2019, 32888
  • Rkr:
Tenor

I.

Der am 12. Februar 2015 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Antrag der Klägerin wird als unzulässig verworfen.

II.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

III.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Herabsetzung der Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe III auf die der Pflegestufe II streitig.

Die Klägerin, geboren 1996, ist bei der Beklagten pflegeversichert. Die Beklagte gewährte ihr (Bescheid vom 27.07.1998) ab dem 01.06.1998 Pflegegeld nach der Pflegestufe III aufgrund einer schwersten globalen Entwicklungsstörung nach Frühgeburt (F 84).

Nachuntersuchungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen in Hessen (MDK) in den Jahren 2002 (Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege in Höhe von 370 Minuten täglich im Wochendurchschnitt) und 2007 (Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege in Höhe von 280 Minuten täglich im Wochendurchschnitt) ergaben trotz Verringerung des Hilfebedarfs das weitere Vorliegen der Voraussetzungen der Pflegestufe III (Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege in Höhe von mindestens 240 Minuten täglich im Wochendurchschnitt).

Im Auftrag der Beklagten führte der MDK am 20.12.2011 erneut eine Begutachtung der Klägerin im häuslichen Umfeld durch. In dem daraufhin erstellten Gutachten vom 22.12.2011 stellte der MDK einen Hilfebedarf der Klägerin im Bereich der Grundpflege in Höhe von 206 Minuten täglich im Wochendurchschnitt fest.

Die Beklagte kündigte an, sie beabsichtigte die Herabsetzung der Pflegestufe auf die Pflegestufe II und mit Bescheid vom 14.03.2012 hob die Beklagte den Bescheid vom 27.07.1998 auf und bewilligte der Klägerin ab 01.04.2012 Pflegegeld nach der Pflegestufe II.

Die Mutter der Klägerin erhob für diese dagegen Widerspruch. Zu Fragen der Mutter der Klägerin zur Feststellung des verminderten Hilfebedarfs führte der MDK ergänzend aus, im Gutachten von 11/2007 sei noch angegeben, es seien noch regelmäßig Toilettengänge durchzuführen. Nachts werde eine Windel getragen, da die Klägerin nicht äußere, wenn sie zur Toilette müsse. In 12/2012 werde vorgetragen, dass keine Windel mehr getragen werde und nur noch Hilfen bei den Toilettengängen genötigt werden. Dies verringere den Zeitwert und führe zu einer Reduzierung von 29 Minuten gegenüber dem Vorgutachten. Auch werde keine Schwimmtherapie mehr durchgeführt. Dies reduziere den Zeitwert um weitere 27 Minuten gegenüber dem Vorgutachten aus 11/2007.

Die Beklagte beauftrage den MDK mit einer erneuten Begutachtung der Klägerin im häuslichen Bereich. Dies fand nicht statt, da der Vater der Klägerin den Termin telefonisch absagte.

Die Beklagte wies daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 16.01.2013 den Widerspruch der Klägerin zurück. In den tatsächlichen Verhältnissen im Vergleich zum Bewilligungszeitpunkt sei eine wesentliche Änderung eingetreten. Der Hilfebedarf bei der Grundpflege erfülle nicht mehr die Voraussetzungen der Pflegestufe Ill, da der Hilfebedarf der Klägerin sich in allen Bereichen der Grundpflege verringert habe. Grund dafür sei eine weitere Gesundheitsstabilisierung. So benötige die Klägerin beispielsweise gegenwärtig lediglich Hilfe bei Toilettengängen. Zum Zeitpunkt der Begutachtung am 27.07.1998 sei sie noch auf ein regelmäßiges Toilettentraining und auf das nächtliche Tragen von Windeln angewiesen gewesen. Auch habe sich der Hilfebedarf für das Verlassen/Wiederaufsuchen der Wohnung aktuell reduziert.

Dagegen haben die Eltern der Klägerin am 21.02.2013 für sie Klage vor dem Sozialgericht Gießen erhoben mit dem Ziel der Weitergewährung der Leistungen nach der Pflegestufe III mit der Begründung, aufgrund der Einnahme des Medikaments Topamax zur Anfallsprophylaxe sei die Klägerin psychomotorisch verlangsamt. Der Hilfebedarf habe sich in allen Bereichen der Grundpflege erhöht.

Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Beiziehung von Arztbriefen des Sozialpädiatrischen Zentrum der Städtischen Kliniken Frankfurt a.M.-Höchst aus den Jahren 2008 bis 2012 und Einholung von Befundberichten von Dr. med. D. vom 03.08.2013 nebst Krankenunterlagen sowie von Dr. med. E. vom 03.09.2013 und Einholung eines sozialmedizinischen Gutachtens von Med. Oberrätin F. vom 14.02.2014. Diese kommt in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis, bei der Klägerin bestehe eine bilaterale spastische Cerebralparese mit Hüft- und Beugespastik, beidseitiger Spitzfußstellung und Fehlstellung der Füße, eine geistige Behinderung, ein Hirnanfallsleiden und Blindheit. Pflegebegründend seien die bilaterale spastische Cerebralparese mit geistiger Behinderung und die Blindheit. Vom geistigen Leistungsniveau wirke die Klägerin wie ein etwa 6jähriges Kind. Im Bereich der Grundpflege bestehe ein Hilfebedarf der Klägerin von insgesamt 194 Minuten täglich im Wochendurchschnitt und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung 70 Minuten täglich im Wochendurchschnitt. Dieser Pflegebedarf bestehe seit ca. 2 Jahren. Der Pflegebedarf der Klägerin habe sich verringert, da ihre Entwicklung vorangeschritten sei, es liege ein geringeres abwehrendes Verhalten der Klägerin vor, ihr Gesundheitszustand habe sich stabilisiert und eine Adaption an die Funktionsdefizite habe stattgefunden.

Das Sozialgericht hat den Vater der Klägerin im Rahmen des Erörterungstermins am 25.06.2014 angehört, in dem dieser die Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG bei Dr. med. D. beantragt hat bzw. die Vernehmung der Mutter der Klägerin als Zeugin. Da kein Kostenvorschusses eingezahlt wurde hat das Sozialgericht das beantragte Gutachten nicht eingeholt.

Nach Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht mit Gerichtsbescheid vom 12. Dezember 2014 die Klage abgewiesen. Der Klägerin stehe nur Leistungen nach der Pflegestufe II zu. Gem. § 48 Abs. 1 SGB X sei, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass des Verwaltungsaktes vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten sei, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Bescheid der Beklagten vom 27.07.1998 sei ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung. Gegenüber diesem bestandskräftigen Bescheid sei eine wesentliche Änderung eingetreten. Der Hilfebedarf der Klägerin habe sich im Bereich der Grundpflege wesentlich verringert. Dies ergebe sich aus dem Gutachten von Frau F. vom 14.02.2014 sowie aus dem Gutachten des MDK vom 22.12.2011. Aufgrund der von Frau F. festgestellten Leiden (bilaterale spastische Cerebralparese mit Hüft- und Beugespastik, beidseitige Spitzfußstellung und Fehlstellung der Füße, geistige Behinderung, Hirnanfallsleiden und Blindheit) benötige die Klägerin volle Hilfe bei der Ganzkörperwäsche morgens sowie beim abendlichen Baden. Außerdem benötige sie Vollhilfe beim dreimal täglichen Zähneputzen. Die Klägerin könne die Zähne mit der angereichten Zahnbürste selber putzen, eine Nachreinigung sei jedoch notwendig. Außerdem bestehe eine Vollhilfe beim zweimal täglichen Kämmen und beim zweimal täglichen Stuhlgang. Auch beim viermal täglichen Wasserlassen werde Hilfe benötigt sowie bei der Verrichtung und beim anschließenden Richten der Bekleidung. Im Bereich der Körperpflege habe Frau F. einen Hilfebedarf von 100 Minuten täglich ermittelt und dabei für die Ganzkörperwäsche morgens 20 Minuten, für das Baden abends 20 Minuten, 15 Minuten für die tägliche Zahnpflege, 4 Minuten für zweimal tägliches Kämmen, für die Darmentleerung zweimal täglich je 8 Minuten, für das Wasserlassen viermal täglich je 3 Minuten, für das Richten der Bekleidung sechsmal je 2 Minuten pro Tag sowie 1 Minute pro Tag für die Menstruationshygiene berücksichtigt. Bei der Hilfe beim Stuhlgang sei Frau F. von einem höheren Zeitaufwand wegen des häufiger vorkommenden Stuhlschmierens ausgegangen. Im Bereich der Ernährung benötige die Klägerin volle Hilfe bei der mundgerechten Nahrungszubereitung. Die Klägerin jedoch sei in der Lage, belegte Brotstücke, Gurke oder Paprika sich selbst in den Mund zu stecken, ggf. sei Anleitung, Unterstützung oder Beaufsichtigung erforderlich. Die Klägerin benötige Hilfe beim Anreichen der Nahrung, insbesondere bei den Hauptmahlzeiten mit Suppen oder anderen dünnflüssigen Speisen. Bei breiiger oder fester Kost müsse der Löffel von der Pflegeperson befüllt werden, den die Klägerin dann selbst zum Mund führen könne. Beim Trinken sei keine Hilfe erforderlich. Die Klägerin könne einen Becher mit zwei Händen halten und selbständig an den Mund führen. Im Bereich der Ernährung bestehe daher ein Hilfebedarf von 39 Minuten täglich. Berücksichtigt seien dabei 9 Minuten für die mundgerechte Nahrungszubereitung und 30 Minuten für die Nahrungsaufnahme. Im Bereich der Mobilität benötige die Klägerin Hilfe beim Treppensteigen und Gehen (insbesondere nachts). Das Aufstehen und Zu Bett Gehen gelinge selbständig. Beim Entkleiden sei die Klägerin zwar bei einigen Verrichtungen selbständig, wie z. B. beim Ausziehen der Strümpfe und sie versuche auch beim Ausziehen des Pullis mitzuhelfen. Für das Ankleiden benötige die Klägerin vollständige Hilfe. Ein Hilfebedarf im Bereich der Mobilität von 55 Minuten pro Tag sei anzunehmen und berücksichtige dabei zweimal tägliche Vollhilfe beim Ankleiden mit 20 Minuten, zweimal tägliche Vollhilfe beim Entkleiden mit insgesamt 10 Minuten, zweimal Transfer 2 Minuten, Beaufsichtigung nachts beim Gehen 5 Minuten und Beaufsichtigung viermal täglich je 2 Minuten beim Treppensteigen, insgesamt 8 Minuten. Außerdem sei noch ein Hilfebedarf beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung zu Arztterminen und Krankengymnastik von 10 Minuten pro Tag zu berücksichtigen. Der Hilfebedarf der Klägerin habe sich folglich insgesamt verringert, da die Entwicklung der Klägerin vorangeschritten sei, ihr Gesundheitszustand stabilisiert und eine Adaption an die Funktionsdefizite stattgefunden habe. Der Hilfebedarf der Klägerin habe sich wesentlich verringert. Gegenüber den Vorgutachten sei die Klägerin im Bereich der Nahrungsaufnahme wesentlich selbständiger geworden. Die Klägerin könne kleingeschnittene Brotstücke selbst essen und auch mit Löffel selber essen, wenn ihr die feste Nahrung auf den Löffel gelegt werde. Außerdem bestehe kein Hilfebedarf mehr bei der Aufnahme von Getränken. Auch der Zeitbedarf für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung habe sich verringert. Krankengymnastik werde nur einmal pro Woche durchgeführt. Aufgrund dieser Feststellungen lägen nur noch die Voraussetzungen für die Pflegestufe II vor. Der Grundpflegebedarf betrage noch 194 Minuten und der Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung 70 Minuten. Für die Pflegestufe Ill müsse der Hilfebedarf 5 Stunden pro Tag betragen, wobei auf die Grundpflege mindestens 4 Stunden entfallen müsse (§ 15 Abs. 3 Satz 1 SGB XI).

Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde der Gerichtsbescheid am 10.01.2015 dem Vater der Klägerin an der Zustellungsanschrift der Klägerin ausgehändigt.

Am 11.01.2015 ging beim Sozialgericht ein Schreiben vom 02.01.2015 ein, in dem an das im vergangenen Jahr gestellte Akteneinsichtsgesuch erinnert wurde. Zugleich wurde um Sachstandsmitteilung gebeten und unter Hinweis auf § 191a GVG daran erinnert, dass die Klägerin sämtliche Dokumente des Verfahrens in barrierefreier Form benötige vorzugsweise als elektronisches (digital) Dokument.

Am 11.02.2015 ging ein Schreiben vom 08.02.2015 beim Sozialgericht ein, in dem unter Bezug auf § 105 Abs. 2 SGG die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt und ausgeführt wurde: "Ein Gerichtsbescheid ist mir in der Sache bisher überhaupt, noch gem. §191a GVG in barrierefreier Form." Das Sozialgericht wurde ersucht, alle Dokumente barrierefrei - vorzugsweise elektronisch (digital) zugänglich zu machen.

Am 12.02.2015 ist beim Hessischen Landessozialgericht der Antrag der Klägerin eingegangen,

1.

gemäß § 105 Abs. 2 SGG durch das Sozialgericht Gießen eine mündliche Verhandlung anzuberaumen,

2.

und ihr einen barrierefreien Zugang, insbesondere Akteneinsicht gem. § 191a GVG zu gewähren.

Dazu wird ausgeführt, die Klägerin müsse davon ausgehen, dass in dem besagten Verfahren ein Gerichtsbescheid ergangen sei. Dieser sei ihr bisher weder überhaupt, noch in einer gemäß § 191a GVG barrierefreien Form zugegangen. Zudem habe die Klägerin in diesem Verfahren in keiner Form, insbesondere nicht gemäß § 191a GVG Akteneinsicht erhalten. Ein entsprechendes Ersuchen sei z.B. in der mündlichen Verhandlung am 25.06.2014 und zuletzt mit Telefaxschreiben vom 02.01.2015 gestellt worden.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat eine Auskunft des Amtsgerichts Friedberg vom 09.04.2015 eingeholt. Danach wurden die Eltern der Klägerin mit Beschluss des Amtsgerichts Friedberg vom 08.07.2014 zu ihren Betreuern u.a. für Rechts/Antrags- und Behördenangelegenheiten bestellt. Des Weiteren hat der Senat die Betreuer der Klägerin gebeten mitzuteilen, ob sie die Berufungseinlegung der Klägerin nachträglich genehmigen.

Der Senat hat mit Beschluss vom 12.01.2016 den Rechtsstreit nach § 153 Abs. 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auf die Berichterstatterin übertragen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten ergänzend Bezug genommen, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Gründe

Der Senat konnte vorliegend im Verfahren der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen vom 12.12.2014 auf der Grundlage des Beschlusses vom 12.01.2016 gemäß § 153 Abs. 5 SGG abweichend von § 33 Satz 1 SGG auf die mündliche Verhandlung vom 11.08.2016 in der Besetzung der Berichterstatterin als Vorsitzende und zwei ehrenamtlichen Richter entscheiden.

Der Senat war an einer Entscheidung trotz des Ausbleibens der Betreuer der Klägerin nicht gehindert. Diese wurden in der Terminsbenachrichtigung vom 08.06.2016 gemäß § 110 Abs. 1 Satz 2 SGG darüber informiert, dass der Senat auch im Falle ihres Ausbleibens eine Entscheidung treffen kann.

Der am 11.02.2015 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Antrag der Klägerin war zu verwerfen. Dieser Antrag ist unzulässig.

Gem. § 105 Abs. 2 Satz 1 SGG können die Beteiligten innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheides das Rechtsmittel einlegen, das zulässig wäre, wenn das Gericht durch Urteil entschieden hätte. Ist die Berufung nicht gegeben, kann gem. § 105 Abs. 2 Satz 2 SGG mündliche Verhandlung beantragt werden.

Der Senat ist zur Entscheidung über den Antrag der Klägerin auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Gießen nach Ergehen des Gerichtsbescheides vom 12.12.2014 nicht zuständig.

Gem. § 105 Abs. 2 Satz 2 SGG kann gegen einen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt werden, wenn gegen den Gerichtsbescheid keine Berufung gegeben ist. Der am 11.02.2015 beim Hessischen Landessozialgericht eingegangene Antrag der Klägerin ist wörtlich deutlich als Antrag auf mündliche Verhandlung vor dem Sozialgericht gem. § 105 Abs. 2 SGG gerichtet. Über einen Antrag auf Anberaumung einer mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht kann allein das Sozialgericht entscheiden. Bei diesem Antrag handelt es sich um einen Rechtsbehelf und nicht um ein Rechtsmittel wie Berufung oder Beschwerde.

Der am 11.02.2015 beim Landessozialgericht eingegangene Antrag kann nicht in eine Berufung umgedeutet werden. Es handelt sich bei dem Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung um einen Rechtsbehelf und führt dazu, dass das Gericht, das bereits den Gerichtsbescheid erlassen hat, nochmals mit der Sache befasst wird, wohingegen die Berufung als Rechtsmittel dazu führt, dass ein anderes Gericht - das Rechtsmittelgericht - über die Richtigkeit des Gerichtsbescheides zu befinden hat. Die unterschiedliche Zielrichtung von Rechtsmittel und Rechtsbehelf und die verschiedene Zuständigkeit, über den Rechtsbehelf/das Rechtsmittel zu entscheiden, verbietet eine Umdeutung (Peters Sautter/Wolff, § 105 SGG Rdnr. 75 m.w.N.). Eine Umdeutung scheitert aber auch dann, wenn der Einzelfall zu prüfen ist (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer § 151 SGG, 11. Aufl., Rdnr. 11a m.w.N.). Die Klägerin hat ausdrücklich einen Antrag auf Durchführung der mündlichen Verhandlung beim SG gestellt, obwohl in der Rechtsmittelbelehrung des Sozialgerichts dazu nichts steht. Stattdessen wird die Klägerin dort ausdrücklich auf die Möglichkeit der Berufung zum Hessischen Landessozialgericht hingewiesen. Dies schließt eine Umdeutung aus (so auch Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 28. August 2014, Az. L 13 AS 3162/14, Rdnr. 18, zitt. nach ).

Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass zudem die Berufung nicht zulässig wäre, da dieses Rechtsmittel nicht fristgerecht eingegangen ist. Gem. § 143 SGG findet gegen die Urteile der Sozialgerichte die Berufung an das Landessozialgericht statt, soweit sich aus den weiteren Vorschriften nichts anderes ergibt. Dies gilt gem. § 105 Abs. 1 Satz 3 SGG auch für Gerichtsbescheide. Gem. § 151 Abs. 1 in Verbindung mit § 105 Abs. 1 Satz 3 SGG ist die Berufung bei dem Landessozialgericht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Gerichtsbescheids schriftlich oder zur Niederschrift der Geschäftsstelle einzulegen. Diese Frist ist gem. § 151 Abs. 2 Satz 1 SGG auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist beim Sozialgericht eingeht. Diese Frist begann vorliegend am 10.01.2015 durch die formgemäße Zustellung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts an den Vater der Klägerin. Gem. § 63 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und 2 SGG sind Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird den Beteiligten von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) zuzustellen. Die Zustellung des Gerichtsbescheides des Sozialgerichts mittels Postzustellungsurkunde durch Übergabe an der Wohnanschrift an den Vater der Klägerin entspricht den gesetzlichen Vorgaben. Wird eine Person, der zugestellt werden soll, in ihrer Wohnung, in der sie wohnt, nicht angetroffen, kann gem. § 178 Abs. 1 Nr. 1 ZPO das Schriftstück in der Wohnung einem erwachsenen Familienangehörigen zugestellt werden. Aus der Postzustellungsurkunde wurde der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Herrn C. A., dem Vater der Klägerin, am 10.01.2015 unter ihrer Wohnanschrift übergeben, weil die Klägerin dort nicht erreicht worden war. Da der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Gießen am 10.01.2015 durch Postzustellungsurkunde zugestellte wurde, wäre die Berufung nur fristgerecht gewesen, wenn diese noch am 10.02.2015 beim Hessischen Landessozialgericht oder beim Sozialgericht eingegangen wäre. Die Berufung der Klägerin ist jedoch erst am 11.02.2015 und damit verfristet beim Hessischen Landessozialgericht eingegangen.

Der Senat konnte trotz des Antrages der Klägerin gem. § 191a GVG barrierefreien Zugang, insbesondere Akteneinsicht gem. § 191a GVG zu gewähren, entscheiden. Gem. § 191a Abs. 1 Satz 2 und 3 GVG in der ab 01.07.2014 geltenden Fassung in Verbindung mit § 4 Abs. 1 der Verordnung zur barrierefreien Zugänglichmachung von Dokumenten für blinde und sehbehinderte Personen im gerichtlichen Verfahren (ZMV) kann eine blinde oder sehbehinderte Person verlangen, dass ihr Schriftsätze und andere Dokumente eines gerichtlichen Verfahrens barrierefrei zugänglich gemacht werden, bzw. ihr Akteneinsicht zu gewähren. Die Klägerin konnte vorliegend jedoch auf die Wahrnehmung ihrer Rechte durch ihre zu Betreuern bestellten Eltern verwiesen werden. Dies verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts erschöpft sich das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG nicht in der Anordnung, Menschen mit und ohne Behinderung rechtlich gleich zu behandeln. Eine Benachteiligung kann auch vorliegen, wenn die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung im Vergleich zu derjenigen nicht behinderter Menschen durch gesetzliche Regelungen verschlechtert wird, die ihnen Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten vorenthalten, welche anderen offenstehen (vgl. BVerfGE 96, 288, 302 f. [BVerfG 08.10.1997 - 1 BvR 9/97]; 99, 341, 357; 128, 138, 156). Gesetzgeber und Rechtsprechung sind daher gefordert, bei Gestaltung und Auslegung der Verfahrensordnungen der spezifischen Situation einer Partei mit Behinderung so Rechnung zu tragen, dass ihre Teilhabemöglichkeit der einer nichtbehinderten Partei gleichberechtigt ist. Entsprechende Vorgaben enthält auch Art. 13 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention (United Nations Treaty Series, vol. 2515, p. 3), die in Deutschland Gesetzeskraft hat (Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008, BGBl II S. 1419) und als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann (vgl. BVerfGE 111, 307, 317 f. [BVerfG 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04]; 128, 282, 306).

Es ist jedoch mit Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG vereinbar, die blinde Klägerin, für die eine Betreuung für die Bereiche "Sorge für die Gesundheit einschließlich der Zustimmung zur ärztliche Heilbehandlung, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten, Geltendmachung von Ansprüchen auf Hilfe zum Lebensunterhalt, Organisation ambulanter Hilfen, Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post, Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten, Vertretung gegenüber Heim /Klinikleitung, Behörden, Versicherungen" bestellt wurde und bei der nach dem gerichtlichen Gutachten vom 14.02.2014 neben einer Blindheit u.a. eine bilaterale spastische Cerebralparese mit geistiger Behinderung vorliegt auf eine Zugänglichmachung durch die zu Betreuern bestellten Eltern zu verweisen.

Die Entscheidung, ob von einer unmittelbaren Zugänglichmachung der Prozessunterlagen abgesehen werden kann, obliegt grundsätzlich den Fachgerichten (BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 10. Oktober 2014, Az. 1 BvR 856/13, Rdnr. 12, zitt. nach ). Aufgrund ihres Krankheitsbildes ist die Klägerin auf eine Vertretung durch ihre Eltern angewiesen. In dem Gutachten vom 14.02.2014 besitzt die damals 17jährige Klägerin das geistige Leistungsniveau eines 6jährigen Kindes. Es ist somit dem Senat nicht nachvollziehbar, wie die Klägerin durch das Zugänglichmachen der im Rechtsstreit vorhandenen Dokumente bzw. durch Akteneinsicht in die Lage versetzt werden könnte, dass ihre Teilhabemöglichkeit der einer nichtbehinderten Partei gleichberechtigt sein könnte. Dafür ist vielmehr ihre Vertretung durch ihre als Betreuer bestellten Eltern erforderlich. Diese haben sich jedoch weder auf das Anschreiben des Gerichts vom 19.02.2015 gemeldet noch haben sie auf die ihnen mit Postzustellungsurkunde zugestellte Mitteilung des Termins zur mündlichen Verhandlung vom 11.08.2016 an diesem Termin teilgenommen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegen.

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