VG Düsseldorf, Beschluss vom 24.09.2019 - 7 K 15133/17
Fundstelle
openJur 2019, 31503
  • Rkr:
Tenor

Das Verfahren wird ausgesetzt.

Es wird gemäß Art. 267 AEUV eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu folgenden Fragen eingeholt:

1.Verliert ein Familienangehöriger eines türkischen Arbeitnehmers, der von diesem Rechte nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 ableiten kann, diese Rechte, wenn er die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaates unter Verlust der bisherigen Staatsangehörigkeit annimmt?

2.Falls Frage 1 zu bejahen ist: Kann der Familienangehörige des türkischen Arbeitnehmers in der beschriebenen Situation sich dann weiter auf die Rechts aus Art. 7 ARB 1/80 berufen, wenn er die Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaates wieder verloren hat, weil er die vorherige Staatsangehörigkeit wieder angenommen hat?

Gründe

I.

Die am 00.00.1954 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie reiste am 25. Juli 1970 zu ihrem als türkischen Arbeitnehmer bei der C. B. O. in der Bundesrepublik Deutschland tätigen Ehemann ein und lebte mit diesem in familiärer Lebensgemeinschaft bis er am 00.00.1998 verstarb. Nach dem März 1990 wechselte der Ehemann in eine selbständige Erwerbstätigkeit.

Die ihr zum Zwecke der Familienzusammenführung erstmals am 28. Januar 1971 erteilte befristete Aufenthaltserlaubnis wurde jeweils verlängert und unter dem 15. Oktober 1996 als unbefristete Aufenthaltserlaubnis erteilt.

Die Klägerin wurde am 2. Februar 2001 als Deutsche eingebürgert und legte am 15. Februar 2001 die Entlassungsurkunde aus der türkischen Staatsangehörigkeit vor. Mit Wirkung vom 20. Juli 2001 hat sie die türkische Staatsangehörigkeit freiwillig wieder angenommen und damit von Gesetzes wegen die deutsche Staatsangehörigkeit verloren.Der Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit blieb jahrelang unerkannt und wurde mit bestandskräftigem Bescheid vom 8. November 2010 durch die Beklagte festgestellt.

Auf Antrag erteilte die Beklagte der Klägerin am 22. Februar 2011 eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 38 AufenthG (für ehemalige Deutsche) befristet bis zum 21. Februar 2013, die jeweils verlängert wurde.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 3. Februar 2017 beantragte die Klägerin die Ausstellung einer Daueraufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG, hilfsweise befristet auf fünf Jahre. Zur Begründung wurde ausgeführt, sie habe durch das Zusammenleben mit ihrem Ehemann die Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 erster Spiegelstrich erworben. Diese seien auch nicht durch die Einbürgerung am 2. Februar 2001 untergegangen. Insoweit verweise sie auf die Begründungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs im Beschluss vom 28. Juli 2014 - 19 C 13.2517 -. Das Assoziationsrecht kenne zu Art. 7 ARB 1/80 nur zwei Verlustgründe, dass dauerhafte Verlassen des Hoheitsgebiets des Mitgliedstaates und das Erlöschen durch Ausweisung. Beides liege nicht vor.

Mit Schreiben vom 27. März 2017 führte die Beklagte aus, dass Rechte aufgrund des Assoziationsabkommens EWG/Türkei bei erfolgter Einbürgerung in den deutschen Staatsverband nicht erhalten blieben und verwies zur Begründung auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Freiburg vom 19. Januar 2010 - 3 K 2399/08 -. Ungeachtet dessen werde aber die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis gemäß § 9 AufenthG geprüft.

Unter dem 3. April 2017 machte die Klägerin geltend, dass nach ihrer Ansicht die Entscheidung des VG Freiburg durch die von ihr zitierte Rechtsprechung überholt sei und bat um rechtsmittelfähige Entscheidung. Mit weiterem Schriftsatz vom 13. April nahm sie den Antrag auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis zurück.

Nach Anhörung lehnte die Beklagte mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 29. August 2017 die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG für die Klägerin ab. Es könne offenbleiben, ob ihr aus der langjährigen familiären Lebensgemeinschaft mit dem 1998 verstorbenen Ehemann als Familienangehörige eines türkischen Arbeitnehmers Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 entstanden seien. Durch die Annahme der deutschen Staatsangehörigkeit zum 2. Februar 2001 könne diese Vorschrift auf sie keine Anwendung mehr finden. Es sei auf den Zweck der Vorschrift abzustellen, die der Integration der Familienangehörigen türkischer Arbeitnehmer im Mitgliedstaat diene. Dieser Zweck sei durch die Einbürgerung jedoch im höchsten Maße erreicht.Erst ab dem 20. Juli 2001 sei sie durch die Annahme der türkischen Staatsangehörigkeit wiederrum Normadressatin des ARB 1/80. Ab diesem Zeitpunkt seien jedoch keinerlei Ansprüche nach dieser Norm mehr entstanden.

Die Klägerin hat am 4. November 2017 Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt. Zur Begründung der Klage wird auf das Vorbringen im Verwaltungsverfahren Bezug genommen.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung der Ordnungsverfügung vom 29. August 2017 zu verpflichten, ihr eine Daueraufenthaltserlaubnis gemäß § 4 Abs. 5 AufenthG zu erteilen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen

und bezieht sich zur Begründung auf die Gründe der angefochtenen Ordnungsverfügung. Sie gehe mit der herrschenden Rechtsprechung davon aus, dass mit dem Wiedererwerb der türkischen Staatsangehörigkeit Ansprüche aus Art. 7 ARB 1/80 nicht wieder auflebten.

II.

Der Rechtsstreit ist auszusetzen. Gemäß Art. 267 AEUV ist eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (Gerichtshof) zu den im Beschlusstenor formulierten Fragen einzuholen. Diese Fragen betreffen die Auslegung des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation. Da es um die Auslegung von Unionsrecht geht, ist der Gerichtshof zuständig.

1. Die rechtliche Beurteilung des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs, die Beklagte unter Aufhebung ihrer ablehnenden Entscheidung vom 29. August 2017 zu verpflichten, ihr eine Aufenthaltserlaubnis nach § 4 Abs. 5 AufenthG zu erteilen, richtet sich nach der aktuellen Rechtslage.

Den hiernach maßgeblichen rechtlichen Rahmen des Rechtsstreits bilden die folgenden Vorschriften des nationalen Rechts:

§ 4 AufenthG

(...)(5) Ein Ausländer, dem nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei ein Aufenthaltsrecht zusteht, ist verpflichtet, das Bestehen des Aufenthaltsrechts durch den Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nachzuweisen, sofern er weder eine Niederlassungserlaubnis noch eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EU besitzt. Die Aufenthaltserlaubnis wird auf Antrag gestellt.

§ 43 VwVfG NRW

(...)

(2) Ein Verwaltungsakt bleibt wirksam, solange und soweit er nicht zurückgenommen, widerrufen, anderweitig aufgehoben oder durch Zeitablauf oder auf andere Weise erledigt ist.

2. Die Vorlagefragen sind entscheidungserheblich und bedürfen der Klärung durch den Gerichtshof der Europäischen Union.

a) Für die rechtliche Beurteilung des von der Klägerin geltend gemachten Anspruchs ist es von entscheidender Bedeutung, wie sich die Einbürgerung der Klägerin am 2. Februar 2001 als Deutsche auf ihre bis dahin erworbenen Aufenthaltsrechte auswirkt. Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung steht fest, dass die Klägerin zu diesem Zeitpunkt Beschäftigungs- und Bleiberechte nach Art. 7 Abs. 1, 2. Spiegelstrich ARB 1/80 erworben hatte. Im Übrigen war sie im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis.aa) Nationalrechtlich hat die Einbürgerung in Deutschland zur Folge, dass die ihr durch behördliche Entscheidung (Verwaltungsakt) erteilten Aufenthaltserlaubnisse unwirksam wurden. Diese Wirkung wird nach einheitlicher Rechtsprechung

OVG NRW, Beschluss vom 31. Januar 2008, - 18 A 4547/06 -, juris Rn. 24, 28; BVerwG, Urteil vom 19. April 2011, - 1 C 2.10 -, juris Rn. 13 ff.

mit § 43 Abs. 2 letzte Alt. VwVfG NRW (bzw. dessen Entsprechung im Landesrecht anderer Bundesländer und im Bundesrecht) begründet. Durch eine Einbürgerung verlöre der Aufenthaltstitel seine regelnde Wirkung und erlösche, damit erledige sich der Verwaltungsakt "auf andere Weise". Das Regelungsobjekt in ausländerrechtlicher Hinsicht entfalle durch die Einbürgerung, weil der Betroffene kein Ausländer mehr sei und daher keinen Aufenthaltstitel benötige. Ein auf diese Weise obsolet gewordener Aufenthaltstitel könne auch nicht wieder aufleben.

bb) Die erste Vorlagefrage zielt darauf ab, ob eine ähnliche Wirkung der Einbürgerung

sei es Erlöschen, Erledigung oder Unwirksamkeit,

auch für von Gesetzes wegen erworbenen Aufenthaltsrechte nach Art. 7 Abs. 1 ARB 1/80 eintreten kann.Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist der Bestand der Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 vom Fortbestehen der Voraussetzungen für den Zugang zu diesen Rechten unabhängig.

Urteile vom 16. März 2000, - C-329/97 -, Ergat Rn. 42/44; 7. Juli 2005, - C-373/03 -, Aydinli Rn. 25.

Ferner können Familienangehörige diese Rechte nur noch unter zwei Voraussetzungen wieder verlieren:

entweder sie verlassen den Aufnahmemitgliedstaat ohne berechtigte Gründe für einen nicht unerheblichen Zeitraum oder sie stellen wegen ihres persönlichen Verhaltens eine tatsächliche, schwerwiegende und gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit, Ordnung oder Gesundheit gemäß Art. 14 ARB 1/80 dar.

EuGH, Urteile vom 22. Dezember 2010, - C-303/08 -, Bozkurt Rn. 42; 16. Februar 2006, - C-502/04 -, Torun Rn. 25; 11. November 2004, - C-467/02 -, Cetinkaya, Rn. 36; 7. Juli 2005, - C-373/03 -, Aydinli, Rn. 27.

Die beiden genannten Verlustgründe sind auch abschließend.

EuGH, Urteile vom 22. Dezember 2010, - C-303/08 -, Bozkurt, Rn. 43 und 18. Dezember 2008, - C-337/07 -, Altun Rn. 63.

Diese Voraussetzungen liegen bei der Klägerin unstreitig nicht vor.

Darüber hinaus hat der Gerichtshof auch entschieden, dass der begünstigte Familienangehörige des türkischen Arbeitnehmers kein türkischer Staatsangehöriger sein muss,

EuGH, Urteil vom 19. Juli 2012, - C-451/11 -, juris, Ls Nr. 3

und sich dessen Rechtstellung auch nicht ändert, wenn der Stammberechtigte neben der türkischen Staatsangehörigkeit auch die des Aufnahmemitgliedstaats erwirbt.

EuGH, Urteil vom 29. März 2012, - C-7/10 und C-9/10 -, juris Rn. 41 (Kahveci und Inan)

In der nationalen Rechtsprechung ist die Frage, die vorgelegt wird, umstritten:

Das Verwaltungsgericht Freiburg hat mit Urteil vom 19. Januar 2010 - 3 K 2399/08 -, juris, entschieden, dass Rechte aus Art. 7 ARB 1/80 durch die Einbürgerung erlöschen. Hierfür sei maßgebend, dass sowohl das Entstehen als auch der Fortbestand dieser Rechte nur unter der Voraussetzung denkbar sei, dass der Betreffende Ausländer sei. Mit der Einbürgerung bedürfe der Begünstigte weder ein assoziationsrechtliches Beschäftigungs- noch ein Bleiberecht. Der Zweck der Assoziationsrechte, zum einen die Verbesserung der beschäftigungsrechtlichen Situation türkischer Arbeitnehmer und zum anderen die Integration ihrer Familienangehöriger im Mitgliedstaat, sei mit der Einbürgerung erreicht.

Dem gegenüber hat der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 28. Juli 2014 - 19 C 13.2517 -, juris Rz. 5, die Auffassung vertreten, dass viel dafür spreche, dass die Assoziationsberechtigung eines türkischen Staatsangehörigen auch dann noch bestehe, wenn er vorübergehend deutscher Staatsangehöriger gewesen sei. Denn der Gerichtshof habe in seiner Entscheidung vom 29. März 2012 (s.o.) darauf hingewiesen, dass auch Art. 7 ARB 1/80 Teil des Systems zur schrittweisen Integration türkischer Staatsangehöriger im Aufnahmemitgliedstaat sei und die Einbürgerung im Aufnahmemitgliedstaat einen wesentlichen Integrationsschritt darstelle, weswegen sie das Assoziationsrecht nicht beeinträchtigen könne. Diese Argumentation treffe auch hier zu. Es sei daher zweifelhaft, ob ein Aufnahmestaat, der für die Einbürgerung die Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit (auf deren Grundlage das Assoziationsrecht entstanden sei) fordere, nach einem erneuten Wechsel der Staatsangehörigkeit die Assoziationsberechtigung weiter als weggefallen ansehen dürfe, wenn sogar ein Aufnahmestaat, der die Aufgabe der türkischen Staatsangehörigkeit nicht fordere und dadurch die Einbürgerung erleichtere, die Assoziationsberechtigung nicht als weggefallen ansehen darf.

Die vorlegende Kammer neigt dazu, wegen der Unterschiede der nationalrechtlichen und europarechtlichen Integrationsmodelle vom Weiterbestehen eines einmal erworbenen Rechts aus Art. 7 ARB 1/80 auch nach Einbürgerung in den Aufnahmemitgliedstaat auszugehen.

b) Die zweite Vorlagefrage zielt darauf ab, dass die erste Frage dahingehend beantwortet würde, dass das Fehlen der Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaates für den Bestand der Rechts aus Art. 7 ARB 1/80 conditio sine qua non wäre. Dann könnte der Verlust der angenommenen Staatsangehörigkeit des Aufnahmemitgliedstaates die Wirkung haben, dass das Assoziationsrecht wieder auflebt.

Zitiert0
Referenzen0
Schlagworte