BGH, Urteil vom 05.09.2019 - III ZR 73/18
Fundstelle
openJur 2019, 31380
  • Rkr:
Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 11. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 1. März 2018 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage im Hinblick auf den Vorwurf der nicht anlagegerechten Beratung abgewiesen worden ist.

In diesem Umfang wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an einen anderen Zivilsenat des Berufungsgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

Tatbestand

Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen fehlerhafter Anlageberatung auf Schadensersatz in Anspruch.

Die Klägerin beteiligte sich am 9. November 2009 mit einer Anlagesumme von 30.000 € zuzüglich Agio als mittelbare Kommanditistin an der S. GmbH & Co. KG (im Folgenden Solarfonds), die in Solarkraftwerke in Italien und Spanien investierte. Zusammen mit der Beitrittserklärung unterzeichnete sie eine Beratungsdokumentation, in der als Datum der Prospektübergabe und eines Beratungsgesprächs der 9. November 2009, mithin der Tag der Zeichnung, benannt wurde. Dort ist unter dem Punkt Anlageerfahrung das Feld "Ja. Zusätzlich erfolgte eine Aufklärung über Chancen und Risiken der konkreten Beteiligung anhand des Hauptprospekts" angekreuzt. Auf die Anlage war zuvor der Ehemann der Klägerin - Dr. B. - aufmerksam geworden, der sodann ein Beratungsgespräch mit dem damals für die Beklagte als selbständiger Handelsvertreter tätigen O. S. geführt hatte.

Die Anlage entwickelte sich nicht erwartungsgemäß. Die Klägerin verkaufte sie zum Preis von 5.155 € auf dem Zweitmarkt.

Die Klägerin hat - soweit für die Revision noch von Interesse - behauptet, die Beklagte habe über die allgemeinen und besonderen Risiken der Beteiligung, insbesondere das Risiko des Wiederauflebens der Kommanditistenhaftung, nicht aufgeklärt. Die Beklagte, die von dem inzwischen nicht mehr bei ihr beschäftigten Berater keine Antwort auf verschiedene an ihn gerichtete Anfragen erhalten hat, hat den Inhalt der zwischen Dr. B. und O. S. geführten Gespräche mit Nichtwissen bestritten. Die Klägerin sei vielmehr über sämtliche relevanten Risiken aufgeklärt worden.

Das Landgericht hat der unter anderem auf Zahlung von 22.295 € nebst Zinsen gerichteten Klage mit geringen Abschlägen bei den Nebenforderungen ohne Beweisaufnahme stattgegeben, weil die Beklagte die unterbliebene Aufklärung über das unverjährte Risiko des Wiederauflebens der Kommanditistenhaftung gemäß § 172 Abs. 4 HGB nur unzureichend bestritten habe. Eine solche Aufklärung sei auch bei einer - wie hier erfolgten - Beschränkung der Haftsumme auf 10 % der Einlage erforderlich.

Das Berufungsgericht hat das erstinstanzliche Urteil abgeändert und die Klage insgesamt - hinsichtlich des Vorwurfs der nicht anlagegerechten Beratung als unschlüssig - abgewiesen.

Mit ihrer vom Senat beschränkt auf diese behauptete Pflichtverletzung zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.

Gründe

Die Revision hat im Umfang ihrer Zulassung Erfolg. Sie führt insoweit zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

I.

Das Berufungsgericht hat, soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung, im Wesentlichen ausgeführt:

Der Vortrag zu der behaupteten Verletzung der Pflicht zur anlagegerechten Beratung sei im Ergebnis nicht schlüssig. Die Klägerin behaupte im vorliegenden Verfahren, über kein einziges der in dem Emissionsprospekt aufgeführten Risiken - beispielsweise das Risiko des Wiederauflebens der Kommanditistenhaftung gemäß § 172 Abs. 4 HGB - beraten worden zu sein. Dieses für sich betrachtet schlüssige Vorbringen stehe indes mit dem weiteren Akteninhalt - vor allem dem außergerichtlichen Schriftsatz ihrer damals bevollmächtigten Anwälte vom 25. Juni 2014 - in einem unauflösbaren Widerspruch. Danach habe eine Beratung "anhand des Prospekts" stattgefunden. Dies könne eigentlich nur bedeuten, dass über sämtliche aufklärungsbedürftigen Aspekte, die in dem Prospekt niedergelegt seien, aufgeklärt worden sei. Selbst wenn man davon ausginge, dass die in dem außergerichtlichen Schriftsatz gewählte Formulierung bedeuten würde, dass im Rahmen des Beratungsgesprächs lediglich einzelne der im Prospekt bezeichneten aufklärungsbedürftigen Aspekte genannt worden seien, habe die Klägerin nicht dargelegt, hinsichtlich welcher konkreten Gesichtspunkte eine Aufklärung nicht erfolgt sei. Eines diesbezüglichen Hinweises durch den Berufungssenat habe es nicht bedurft, weil dies im zweiten Rechtszug ein zentraler Streitpunkt gewesen sei. Ungeachtet dessen sei dieser Aspekt in der Berufungsverhandlung angesprochen worden. Die Klägerin habe dazu nicht persönlich angehört werden müssen.

II.

Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

1. Auf der Grundlage des derzeitigen Sach- und Streitstands lässt sich nicht ausschließen, dass die Klägerin Schadensersatzansprüche gemäß § 280 BGB hat. Mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung lässt sich die Klageabweisung nicht rechtfertigen. Das Oberlandesgericht hat sich in dem angefochtenen Urteil mit dem Sachvortrag der Klägerin nicht erschöpfend auseinandergesetzt und unter Verstoß gegen § 286 Abs. 1 ZPO erheblichen Zeugenbeweis zum Inhalt des Beratungsgesprächs nicht erhoben.

a) Zu der Frage, ob zwischen den Parteien ein Anlageberatungsvertrag in Form eines Vertretergeschäfts (§ 164 Abs. 2 BGB) zustande gekommen ist oder die Klägerin zumindest in den Schutzbereich eines zwischen ihrem Ehemann und der Beklagten geschlossenen Vertrages einbezogen worden ist, sie mithin aktivlegitimiert ist, hat das Berufungsgericht - von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig - bislang keine Feststellungen getroffen.

Für die Revisionsinstanz ist daher auf der Grundlage des Klägervortrags zu unterstellen, dass zwischen den Parteien beratungsvertragliche Beziehungen bestanden, auf deren Grundlage Schadensersatzansprüche der Klägerin in Betracht kommen.

b) Der Anlageberater schuldet eine anleger- und objektgerechte Beratung. Er hat den Kunden rechtzeitig, richtig und sorgfältig sowie verständlich und vollständig zu beraten. In Bezug auf das Anlageobjekt muss der Anlageberater den Interessenten insbesondere über die Eigenschaften und Risiken unterrichten, die für die Anlageentscheidung wesentliche Bedeutung haben oder haben können (st. Rspr., zB Senatsurteile vom 7. Februar 2019 - III ZR 498/16, WM 2019, 448 Rn. 9; vom 23. März 2017 - III ZR 93/16, WM 2017, 799 Rn. 11; vom 18. Februar 2016 - III ZR 14/15, WM 2016, 504 Rn. 15 und vom 21. März 2013 - III ZR 182/12, WM 2013, 836 Rn. 12; jeweils mwN). Der Umfang der Belehrungspflicht richtet sich nach den Umständen des konkreten Falls und hängt dabei vom Wissensstand und der Risikobereitschaft des Kunden sowie den allgemeinen und besonderen Risiken, die sich aus den Eigenheiten des Anlageobjekts ergeben, ab (vgl. zB Senatsurteile vom 7. Februar 2019 aaO Rn. 14 und vom 21. März 2013 aaO).

Insoweit ist grundsätzlich - auch beim Treugeber, der dem Rückgriff des Treuhandkommanditisten ausgesetzt ist - über das Risiko des Wiederauflebens der Kommanditistenhaftung nach § 172 Abs. 4 HGB aufzuklären, und zwar ungeachtet dessen, dass die Haftsumme - wie hier - nur 10 % der Einlage betrug (Senatsurteil vom 4. Dezember 2014 - III ZR 82/14, WM 2015, 68 Rn. 10).

Dem lässt sich - anders als die Beklagte meint - nicht entgegenhalten, nach der vorliegenden Konzeption der Beteiligung habe kein Risiko des Wiederauflebens der Kommanditistenhaftung bestanden. Auf Seite 76 des Emissionsprospekts heißt es dazu vielmehr:

"Gemäß Gesellschaftsvertrag beträgt die ins Handelsregister einzutragende Haftsumme 10 % der Zeichnungssumme. Gemäß Prognose lebt keine Kommanditistenhaftung durch Ausschüttungen auf."

Ob sich diese Prognose als zutreffend herausstellen würde, war ungewiss. Hiernach sollten die Ausschüttungen bis zu der geplanten Veräußerung der Solaranlage nach zehn Jahren bezogen auf das Kommanditkapital 80 % der Einlage betragen. Der zur Deckung der Haftsumme erforderliche Betrag der Einlage sollte unberührt bleiben. Erst bei Veräußerung der Anteile am Ende der geplanten Laufzeit sollte mit einer dann in Aussicht genommenen Gesamtausschüttung von 205 % ein die Haftsumme angreifender Verlust entstehen (vgl. Emissionsprospekt Seiten 12 und 76). Im Zeitpunkt der Zeichnung der Kapitalanlage ließ sich jedoch nicht sicher vorhersehen, ob sich dies bewahrheitet. Eine solche Entwicklung hing - worauf bereits das Landgericht zutreffend abgestellt hat - unter anderem davon ab, ob die in der Prognoserechnung vorausgesetzten Prämissen - entsprechend der geplanten Betriebsdauer und anschließenden Veräußerung der Solaranlage nach zehn Jahren - tatsächlich eintreten. Dies stand mit Blick auf die insoweit lediglich abgegebenen Absichtserklärungen des Betreibers und die dem Anleger erstmalig zum 31. Dezember 2034 zustehende Kündigungsmöglichkeit (vgl. Emissionsprospekt Seiten 11, 151) keineswegs fest. Ebenso wenig ließ sich ausschließen, dass die Gesellschafter höhere Ausschüttungen beschließen, bei einer Veräußerung der Anlage nach einer zehnjährigen Laufzeit Fremdverbindlichkeiten noch bestehen oder aus anderen Gründen nicht planmäßige Verluste entstehen. Der Kommanditist haftet auch nach seinem Ausscheiden oder nach Auflösung der Gesellschaft bis zur Höhe der Haftsumme für die bis dahin begründeten Gesellschaftsverbindlichkeiten (vgl. Strohn in Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl., § 172 Rn. 38). Es kann daher nicht angenommen werden, ein Wiederaufleben der Kommanditistenhaftung sei ausgeschlossen gewesen. Dementsprechend ist auf Seite 17 des Prospekts das Risiko der Kommanditisten- und Treugeberhaftung auch ausdrücklich erwähnt worden.

c) Eine ordnungsgemäße Aufklärung kann nicht nur mündlich, sondern auch durch Übergabe von Prospektmaterial erfolgen, sofern der Prospekt nach Form und Inhalt geeignet ist, die nötigen Informationen wahrheitsgemäß und verständlich zu vermitteln, und er dem Anlageinteressenten so rechtzeitig vor Vertragsschluss übergeben wird, dass sein Inhalt noch zur Kenntnis genommen werden kann (zB Senatsurteile vom 7. Februar 2019 aaO Rn. 12; vom 18. Februar 2016 aaO Rn. 16 und vom 24. April 2014 - III ZR 389/12, NJW-RR 2014, 1075 Rn. 9; jeweils mwN).

Eine solche Aufklärung der Klägerin hat indessen nicht stattgefunden. Zwar enthält der Emissionsprospekt des Solarfonds eine inhaltlich zutreffende Aufklärung unter anderem über das Risiko des Wiederauflebens der Kommanditistenhaftung (vgl. dort Seite 17). Er ist der Klägerin oder ihrem Ehemann jedoch schon nach den Angaben in dem persönlichen Beraterbogen zu spät, nämlich erst am Tag der Zeichnung, ausgehändigt worden. Auch in dem Beraterbogen fand sich kein gesonderter Hinweis auf dieses Risiko.

d) Entscheidend ist daher, ob die Klägerin beziehungsweise ihr für sie handelnder Ehemann von dem Berater anlässlich des vor der Zeichnung der Anlage geführten Gesprächs nicht über dieses Risiko aufgeklärt worden sind. Diesen von der Beklagten hinreichend bestrittenen Vortrag (vgl. zu den Anforderungen an das wirksame Bestreiten bei verschiedenen Fallgestaltungen Senatsurteile vom 19. Oktober 2017 - III ZR 565/16, BGHZ 216, 245 Rn. 21 ff und vom 15. August 2019 - III ZR 205/17, Umdruck Seite 12 unten ff - zur Veröffentlichung vorgesehen) hat die Klägerin unter Beweis durch das Zeugnis ihres Ehemanns und des Beraters S. gestellt. Diesen erheblichen Beweisantritt hat das Berufungsgericht zu Unrecht als unbeachtlich angesehen, weil es den zugrunde liegenden - für sich betrachtet auch nach seiner Auffassung den Substantiierungsanforderungen genügenden - prozessualen Sachvortrag der Klägerin rechtsfehlerhaft wegen Widersprüchlichkeit zu ihrer außergerichtlichen Einlassung für unschlüssig gehalten hat.

Das Berufungsurteil beruht auf diesem von der Revision zutreffend gerügten Verfahrensfehler.

(1) Bereits die Auslegung des Schreibens der von der Klägerin mit ihrer außergerichtlichen Vertretung beauftragten Rechtsanwälte vom 25. Juni 2014 durch das Berufungsgericht, darin sei zum Ausdruck gebracht worden, die Klägerin oder ihr Ehemann hätten anhand des Prospekts eine umfassende Aufklärung über die Risiken der Kapitalanlage, so auch über das Risiko des Wiederauflebens der Kommanditistenhaftung, erfahren, ist rechtsfehlerhaft. Die Vorinstanz hat die von ihr für maßgeblich erachtete Passage

"Letztlich konnte eine ordnungsgemäße Aufklärung auch nicht durch Verwendung des Prospekts herbeigeführt werden. Der Prospekt wurde unserer Mandantschaft nicht übergeben. Sie wurde von Herrn S. zwar anhand des Prospekts beraten, dieser nahm den Prospekt aber nach der Beratung wieder mit sich und überließ unserer Mandantin kein Exemplar"

unter Verstoß gegen die allgemeinen Auslegungsregeln lediglich isoliert betrachtet und den Kontext ausgeblendet.

In dem vorgerichtlichen Schriftsatz heißt es nach einer einführenden Darstellung, die Beteiligung sei als sichere Kapitalanlage präsentiert worden, die nur Vorteile bringe, wie folgt:

"Über die tatsächlichen Risiken und Nachteile, die die Beteiligung an einem geschlossenen Solarfonds mit sich bringt, wurde unsere Mandantschaft nicht aufgeklärt. Insbesondere wurde sie nicht darauf hingewiesen, dass die ausbezahlten Ausschüttungen unter Umständen teilweise wieder zurückverlangt werden können (...)."

Auf Seite 4 des Schreibens ist weiter ausgeführt:

"Im vorliegenden Fall wurde unsere Mandantschaft von dem Berater, Herrn S. , nicht bzw. nicht ausreichend über die Risiken der vermittelten Kapitalanlage beraten.

Sie wurde nur unvollständig und irreführend, teilweise gar nicht und damit nicht in der Weise beraten, wie sie es redlicherweise erwarten konnte und wie ein Berater verpflichtet gewesen wäre. Zum Teil wurde sie sogar bewusst über die für die Investitionsentscheidung wesentlichen Umstände getäuscht. Damit liegt ein Verstoß gegen die Grundsätze der anlegergerechten Beratung vor.

Da auch nicht über die der Kapitalanlage immanenten Risiken hingewiesen wurde und das Produkt nicht auf seine Plausibilität hin geprüft wurde, liegt auch keine anlagegerechte Beratung vor."

Hiernach ist die mangelnde Risikoaufklärung - insbesondere auch in Bezug auf das Risiko des Wiederauflebens der Kommanditistenhaftung - bereits damals ausdrücklich beanstandet worden. Der vom Oberlandesgericht hervorgehobene Hinweis relativiert diesen Vorwurf allenfalls unwesentlich.

Zwar ist jenem Textteil zufolge der Emissionsprospekt bei dem Beratungsgespräch verwendet worden, wie auf dem Beraterbogen angegeben und anders als die Klägerin im vorliegenden Prozess hat vortragen lassen. Deshalb mag es zwar, wie die Vorinstanz meint, noch möglich sein, dem Wortlaut den Sinn beizulegen, dass sämtliche im Prospekt enthaltenen Risikohinweise Gegenstand des Beratungsgesprächs waren. Jedenfalls aufgrund des Zusammenhangs mit den vorstehenden Textstellen wird indessen deutlich, dass die Klägerin eine nur unzureichende Verwendung des Prospekts hat zum Ausdruck bringen wollen und damit vorgebracht hat, über wesentliche Risiken - insbesondere über das Risiko des Wiederauflebens der Kommanditistenhaftung - nicht informiert worden zu sein.

Zudem beruht die Würdigung des Berufungsgerichts, die vorgerichtliche Sachverhaltsschilderung und das Prozessvorbringen der Klägerin stünden in einem "eklatanten" Widerspruch zueinander, auf einer unvollständigen Beurteilung des im Rechtsstreit eingereichten Schriftsatzes vom 10. Oktober 2016. Auf dessen Seite 3 hat die Klägerin vortragen lassen, eine rechtzeitige Übergabe des Emissionsprospekts sei nicht erfolgt. Dieser habe allenfalls im Rahmen des Gesprächs der Zeugen (Dr. B. und S. ) vorgelegen. Die Beratung habe anhand von Kurzflyern stattgefunden. Der Berater habe nach Vorstellung des Zeugen Dr. B. alle wesentlichen Punkte mündlich erläutert.

Auch nach dieser Darstellung hielt es die Klägerin zumindest für möglich, dass der Prospekt bei dem Beratungsgespräch vorgelegen hatte. Eine Divergenz zu ihrer vorgerichtlichen Schilderung besteht dementsprechend nur insofern, als sie zunächst behaupten ließ, Beratungsgrundlage sei der (vom Berater wieder mitgenommene) Emissionsprospekt gewesen, und im späteren Rechtsstreit vorgetragen hat, die Beratung sei anhand von Kurzflyern erfolgt. Da im allgemeinen Sprachgebrauch der Werbung dienende "Flyer" vielfach auch als Prospekte bezeichnet werden, handelt es sich bei den unterschiedlichen Darstellungen zur Beratungsgrundlage vor und im Rechtsstreit nur um eine Unstimmigkeit im Detail, der insbesondere vorgerichtlich ein Missverständnis zugrunde gelegen haben konnte, das im Prozess durch eine Präzisierung ausgeräumt wurde. Dies verbat es, ohne vorherige Befragung der Klägerin (siehe überdies sogar die Berufungsbegründung der Beklagten Seite 10 unten) von einem - zumal eklatanten - Widerspruch zwischen beiden Sachverhaltsschilderungen auszugehen.

(2) Die vorstehenden Erwägungen, die gegebenenfalls eine neue tatrichterliche Würdigung erforderlich gemacht hätten, können jedoch letztlich auf sich beruhen. Selbst wenn das Berufungsgericht nach rechtsfehlerfreier Beurteilung den Vortrag der Klägerin für widersprüchlich gehalten hätte, hätte es die Klage nicht als unschlüssig abweisen dürfen. Vielmehr hätte es gegebenenfalls die Klägerin zur Aufklärung der (möglichen) Widersprüche gemäß § 141 Abs. 1 Satz 1 ZPO persönlich anhören und die von ihr zum Verlauf des Beratungsgesprächs angebotenen Beweise erheben müssen.

Die Schlüssigkeit einer Klage beurteilt sich nach dem Vorbringen des Klägers im Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung (BGH, Urteil vom 5. Juli 1995 - KZR 15/94, NJW 1995, 1340, 1341). Eine Partei ist nicht gehindert, ihr Vorbringen im Laufe des Rechtsstreits zu ändern, insbesondere zu präzisieren, zu ergänzen oder zu berichtigen, wobei etwa die Prozessentwicklung Anlass geben kann, bisher nur beiläufig Vorgetragenes zu präzisieren (BGH, Urteile vom 6. Juli 2017 - IX ZR 271/16, NJOZ 2017, 1146, Rn. 18 und vom 5. November 2015 - I ZR 50/14, GRUR 2016, 705 Rn. 41 sowie vom 5. Juli 1995 aaO). Deswegen darf bei der Beurteilung der Schlüssigkeit eines Vorbringens Tatsachenvortrag nicht allein deswegen unberücksichtigt gelassen werden, weil er sich zu früherem Vorbringen in Widerspruch setzt (zB BGH, Urteil vom 6. Juli 2017 aaO). Dies gilt erst recht für einen Unterschied zwischen vorgerichtlichen Erklärungen und späterem Prozessvortrag. Vorgerichtliche Äußerungen einer Partei sind dementsprechend generell nicht geeignet, ihrem Prozessvortrag die Beachtlichkeit zu nehmen (BGH, Beschluss vom 11. April 2013 - IX ZB 170/11, WM 2013, 1030 Rn. 12). Etwaige Widersprüche können zwar im Rahmen der Beweiswürdigung Bedeutung erlangen (zB BGH, Urteile vom 6. Juli 2017 Rn. 19; vom 5. November 2015 und Beschluss vom 11. April 2013 jew. aaO). Eine entsprechende Würdigung kann jedoch regelmäßig nicht in die Schlüssigkeitsprüfung vorverlegt werden (vgl. BGH, Urteil vom 5. Juli 1995 aaO).

Ohnehin dürfen zu strenge Anforderungen an die Widerspruchsfreiheit des Vortrags nicht gestellt werden (vgl. BGH, Beschluss vom 21. Oktober 2014 - VIII ZR 34/14, NJW-RR 2015, 910 Rn. 14). Bei Konsistenz des Kernvortrags der Partei rechtfertigen Widersprüchlichkeiten in Einzelheiten es nicht, einen angebotenen Beweis nicht zu erheben. Wird in diesem Fall ein erhebliches Beweisangebot wegen (möglicher) Widersprüche im Vortrag der beweisbelasteten Partei nicht erhoben, läuft dies im Ergebnis auf eine vorweggenommene Beweiswürdigung hinaus, die im Prozessrecht keine Stütze findet (vgl. BGH aaO Rn. 18).

Im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung verbliebene Widersprüche bei Konsistenz des Kernvorbringens sind vielmehr ebenfalls in der gebotenen Beweisaufnahme zu klären und im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen (vgl. BGH, Urteile vom 6. Juli 2017 aaO und vom 5. November 2015 aaO).

Es kann dahinstehen, ob es besondere Fallgestaltungen geben kann, in denen der prozessuale Sachvortrag einer Partei wegen seiner Widersprüchlichkeit zu vorgerichtlichen Erklärungen von vornherein als unschlüssig zu bewerten ist. Jedenfalls in der vorliegenden Konstellation durfte die Klage nicht ohne Beweisaufnahme abgewiesen werden. Die von der Revisionserwiderung in Bezug genommenen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs betreffen anders gelagerte Sachverhalte, in denen es insbesondere nicht um etwaige Widersprüche zwischen außergerichtlichem und gerichtlichem Vorbringen ging (vgl. BGH, Urteile vom 19. Dezember 1984 - I ZR 181/82, NJW 1985, 3018, 3020 und - im Ergebnis aber gerade anders - vom 15. Juni 1977 - VIII ZR 20/76, juris Rn. 19 ff, insoweit nicht abgedruckt etwa in NJW 1977, 1687).

(3) Die im gerichtlichen Verfahren in das Wissen der Zeugen Dr. B. und S. gestellte Behauptung der Klägerin war, wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, in sich auch nicht widersprüchlich, weswegen es entgegen der Auffassung der Beklagten (unter Hinweis auf BGH, Urteile vom 14. Juni 2016 - VI ZR 334/15, BeckRS 2016, 12896 Rn. 13 und vom 14. Juli 1987 - VI ZR 199/86, NJW-RR 1987, 1469) nicht an einem ordnungsgemäßen und hinreichend bestimmten Beweisantritt fehlte.

III.

Das Berufungsurteil ist daher im Umfang der Revisionszulassung gemäß § 562 Abs. 1 ZPO aufzuheben und die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO), wobei der Senat ausnahmsweise Anlass gesehen hat, von § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO Gebrauch zu machen. Eine eigene Sachentscheidung des Senats nach § 563 Abs. 3 ZPO kommt nicht in Betracht, denn es sind weitere Feststellungen zu dem maßgeblichen Klägervortrag zu treffen.

Herrmann Reiter Arend Böttcher Kessen Vorinstanzen:

LG Hannover, Entscheidung vom 08.06.2017 - 3 O 146/16 -

OLG Celle, Entscheidung vom 01.03.2018 - 11 U 108/17 -