OLG Celle, Beschluss vom 10.12.2001 - 32 HEs 18/01
Fundstelle
openJur 2012, 37541
  • Rkr:

1. Das Beschleunigungsgebot verpflichtet in Haftsachen nicht nur die mit solchen Verfahren unmittelbar befassten Spruchkörper der Gerichte. Es verlangt auch rechtzeitige Maßnahmen auf gerichtsorganisatorischem Gebiet.

2. Dabei ist unter Umständen auch auf Richter aus Spruchkörpern außerhalb der Strafgerichtsbarkeit zurückzugreifen.

Tenor

Der Haftbefehl des Amtsgerichts ... vom 3. Juni 2001 (7 Gs 6/01) wird aufgehoben.

Gründe

I.

Die Angeschuldigten wurden am 2. Juni 2001 vorläufig festgenommen und befinden sich seit dem 3. Juni 2001 aufgrund des Haftbefehles des Amtsgerichts ... vom selben Tage (7 Gs 6/01) in Untersuchungshaft.

Mit dem Haftbefehl wird den Angeschuldigten vorgeworfen und zwar, den Angeschuldigten ... und ... durch zwei Straftaten sowie dem Angeschuldigten ... durch eine Straftat, mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge ohne Erlaubnis Handel getrieben zu haben. Die Angeschuldigten ...i und ... organisierten danach im Zusammenwirken mit dem Angeschuldigten ... eine Lieferung von Ecstasy-Tabletten aus den ..., wobei die daraufhin am 2. Juni 2001 von dem Kurier ... überbrachten ca. 5 kg Ecstasy-Tabletten in Deutschland gewinnbringend abgesetzt werden sollten. Zum gewinnbringenden Weiterverkauf hatten die Angeschuldigten ... und ... auch laut Haftbefehl ca. 1 kg Kokain und 500 g Milchzucker als Streckmittel bestimmt, das sie bei einer Nachbarin zwischengelagert vorhielten.

II.

Die Haftprüfung nach den §§ 121, 122 StPO führt zu dem Ergebnis, dass der Haftbefehl aufzuheben ist.

1. Die allgemeinen Voraussetzungen der Untersuchungshaft gemäß § 112 StPO liegen zwar vor. Der dringende Tatverdacht gegen die Angeschuldigten ergibt sich aus dem in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft ... vom 20. August 2001 zutreffend wiedergegebenen Ermittlungsergebnis. Es bestehen die Haftgründe des § 112 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 StPO. Der Zweck der Untersuchungshaft kann mit weniger einschneidenden Mitteln (§ 116 StPO) nicht erreicht werden. Auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wäre nicht berührt.

2. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft nach § 121 Abs. 1 StPO über sechs Monate hinaus sind indessen nicht gegeben. Denn wichtige Gründe, die ein Urteil noch nicht zugelassen hätten, liegen nicht vor. Das Verfahren weist vermeidbare Verzögerungen auf, die die weitere Untersuchungshaft nicht zulassen.

Zunächst ist das Ermittlungsverfahren von Seiten der Staatsanwaltschaft und Polizei mit der gebotenen und notwendigen Beschleunigung betrieben worden. Es sind mehrere Zeugen vernommen und erforderliche Gutachten eingeholt worden. Die Staatsanwaltschaft hat am 20. August 2001 die Ermittlungen abgeschlossen und unter diesem Datum Anklage erhoben, die sich - ebenso wie der Haftbefehl vom 3. Juni 2001 - auch gegen den Kurier ... gerichtet hat. Gleichzeitig hat die Staatsanwaltschaft die Erweiterung des Haftbefehls nach Maßgabe der Anklageschrift beantragt.

Nach Eingang der Anklage beim Landgericht ... am 24. August 2001 ist die Zustellung der Anklage am 27. August 2001 mit einer Erklärungsfrist von zwei Wochen verfügt worden. Am 5. September 2001 hat die zuständige 1. große Strafkammer die Anklage - soweit sie den Kurier ... betraf - zugelassen und das Hauptverfahren insoweit vor dem Amtsgericht - Schöffengericht - ... eröffnet.

Seitdem ist das Verfahren vom Landgericht nicht weiter gefördert worden. Das Hauptverfahren wurde noch nicht eröffnet. Die von der Staatsanwaltschaft beantragte Anpassung des Haftbefehls soll nach einem Beschluss der 1. großen Strafkammer in der Hauptverhandlung erfolgen.

Nach einem Vermerk des Vorsitzenden vom 14. September 2001 war die 1. große Strafkammer wegen anderer umfangreicher Verfahren, unter denen sich ausweislich eines weiteren Vermerks vom 16. Oktober 2001 mehrere ältere Haftsachen befanden, bis Ende November "austerminiert". Mit Verfügung zur Vorlage der Akten an das Oberlandesgericht nach § 122 Abs. 1 StPO vom 5. November 2001 und dienstlicher Äußerung des Vorsitzenden der 1. großen Strafkammer vom 7. Dezember 2001 ist mitgeteilt worden, dass die Belastungslage der Strafkammer sich nach Abschluss von mehreren umfangreichen Verfahren im Frühsommer 2001 zunächst entspannt hatte. Eine Änderung trat nach den Angaben des Vorsitzenden dann im August 2001 ein, nachdem ab diesem Zeitpunkt bei der Strafkammer 21 neue Verfahren - unter ihnen 12 Haftsachen - neu eingegangen waren. Detailliert hat der Vorsitzende ausgeführt, dass eine Terminierung wegen vorrangiger anderer Verfahren nun nicht vor Februar 2002 erfolgen kann. Dem Präsidium des Landgerichts ... ist die Belastungssituation der 1. großen Strafkammer im Oktober 2001 dargelegt worden. Die Bildung einer Hilfsstrafkammer hat das Präsidium daraufhin mit der Begründung abgelehnt, dass dafür keine personellen Kapazitäten bei dem Landgericht frei seien.

Die Verteidiger Rechtsanwalt ... und Rechtsanwalt ... haben vorgetragen, ihnen sei von der Strafkammer ein voraussichtlicher Verhandlungsbeginn ab 7. oder 9. März 2002 mit 10 Hauptverhandlungstagen, endend am 28. März 2002, mitgeteilt worden.

Dieser Ablauf des Verfahrens vor dem Landgericht ist mit dem in Haftsachen nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG zu beachtenden Beschleunigungsgrundsatz (BVerfGE 20, 45, 50) unvereinbar und musste zur Aufhebung des Haftbefehls führen.  

Im Hinblick auf Umfang und Schwierigkeit des Verfahrens hätte das Hauptverfahren zwischenzeitlich eröffnet werden und auch ein Urteil innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 121 Abs. 1 StPO ergehen können.

Bei der als Grund für die Verfahrensverzögerung mitgeteilten Überlastung der Strafkammer handelt es sich nicht um eine bloß kurzfristige Überlastung dieses Spruchkörpers; sie kann daher nicht als anderer wichtiger Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO gewertet werden, der zur Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft berechtigt (vgl. BVerfGE 36, 264, 273, 274). Insoweit verpflichtet das Beschleunigungsgebot in Haftsachen nicht nur die mit solchen Verfahren unmittelbar befassten Spruchkörper der Gerichte. Es verlangt auch rechtzeitige Maßnahmen auf  gerichtsorganisatorischem Gebiet (vgl. BGHSt 38, 43, 46 m. w. N.), wobei unter Umständen auch auf Richter aus Spruchkörpern außerhalb der Strafgerichtsbarkeit zurückzugreifen ist (vgl. BVerfGE 36, 264, 273).

Die vorgenannten Grundsätze gelten aber selbst dann, wenn die Überlastung auf einem Geschäftsanfall beruht, der sich trotz Ausschöpfung aller gerichtsorganisatorischen Mittel und Möglichkeiten - was dem entsprechenden Präsidiumsbeschluss des Landgerichts ... zu entnehmen sein könnte - nicht mehr innerhalb angemessener Frist bewältigen lässt. Der Staat kann sich dem Untersuchungsgefangenen gegenüber nicht darauf berufen, dass er seine Gerichte nicht so ausstattet, wie es erforderlich ist, um die anstehenden Verfahren ohne vermeidbare Verzögerung abzuschließen (vgl. BVerfGE 36, 264, 273 bis 275).

Dass inzwischen auch der Verteidiger des Angeschuldigten ... erst im Februar 2002 zur Verfügung steht, steht dem nicht entgegen.