OLG Hamm, Beschluss vom 01.08.2019 - 2 Ws 96/19
Fundstelle
openJur 2019, 30085
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 9 KLs 3/15

Aus den §§ 131 Abs. 1, 457 Abs. 3 StPO ergibt sich eine inländische gerichtliche Befugnis und Zuständigkeit für die unter Berücksichtigung des Urteils des EuGH vom 27.05.2019 Az.: C-505/18 und C-82/19) zu treffende gerichtliche Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls.

Tenor

1. Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

2. Gegen den Verurteilten wird der in der Anlage befindliche Europäische Haftbefehl ausgestellt.

3. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden dem Verurteilten auferlegt.

Gründe

I.

Der Verurteilte ist durch Urteil der 9. großen Strafkammer des Landgerichts Bochum vom 22.04.2016 wegen schweren Bandendiebstahls in 13 Fällen und anderer Delikte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Jahren 6 Monaten verurteilt worden. Das Urteil ist rechtskräftig seit dem 28.04.2017.

Da der Verurteilte flüchtig ist und sich vermutlich im Ausland aufhält, hat die Staatsanwaltschaft Bochum am 21.06.2017 gegen ihn einen innerstaatlichen Vollstreckungshaftbefehl nach § 457 Abs. 2 S. 1 StPO und am 27.06.2017 einen Europäischen Haftbefehl erlassen.

Im Hinblick auf die Entscheidung des EuGH vom 27.05.2019 in den verbundenen Rechtssachen C-505/18 und C-82/19 PPU hat die Staatsanwaltschaft Bochum bei dem Landgericht Bochum "die richterliche Ausfertigung des Europäischen Haftbefehls gem. § 154457 Abs. 3 S. 3 StPO" beantragt.

Die 9. große Strafkammer des Landgerichts Bochum hat mit angefochtenem Beschluss diesen Antrag abgelehnt. Zur Begründung hat die Strafkammer im Wesentlichen ausgeführt, sie sei für die Ausfertigung eines Europäischen Haftbefehls nicht zuständig. Es fehle an einer gesetzlichen Zuständigkeitszuweisung. Dabei hat die Strafkammer folgende Erwägungen angestellt:

Die Zuständigkeit der Kammer ergebe sich nicht aus § 457 Abs. 3 S. 3 StPO. Nach Absatz 2 jener Vorschrift sei die Zuständigkeit für den Erlass von Haftbefehlen nach § 457 Abs. 2 S. 2 StPO der Vollstreckungsbehörde, also der Staatsanwaltschaft, zugewiesen. Die Systematik des § 457 StPO zeige, dass in Absatz 3 weitere Befugnisse der Vollstreckungsbehörde geregelt seien, die nicht von Absatz 2 erfasst seien. Daraus folge, dass eine gerichtliche Entscheidung gem. § 457 Abs. 3 S. 3 StPO nur bei den von § 457 Abs. 3 S. 1 und 2 StPO erfassten Maßnahmen veranlasst sei, die einer richterlichen Anordnung bedürften. Der Erlass eines Haftbefehls im Vollstreckungsverfahren falle nach der gesetzlichen Wertung der StPO gerade nicht hierunter. Aus diesen Gründen sei die Norm des § 457 nicht auslegungsfähig. Wolle man unter die Norm des § 457 Abs. 3 S.3 StPO auch die gerichtliche Ausfertigung von Europäischen Haftbefehlen fassen, wäre dies eine Auslegung contra legem.

Die Zuständigkeit der Kammer ergebe sich auch nicht aus § 74 Abs. 2 IRG i.V.m. der Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und den Landesregierungen über die Zuständigkeit im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten vom 28.04.2004 i.V.m. dem gemeinsamen Runderlass des Justizministeriums, des Ministeriums für Inneres und Kommunales und des Finanzministeriums über die Ausübung der Befugnisse im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten, Berichtspflichten und die Zusammenarbeit im Europäischen Justiziellen Netz sowie mit transnationalen Verbindungsstellen vom 16.12.2016. Erkennende Gerichte seien in jenem Runderlass nicht genannt.

Etwas anderes folge auch nicht aus dem Anwendungserlass des Ministeriums der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen vom 29.05.2019, dessen Adressaten allein Staatsanwaltschaften, nicht aber Gerichte seien.

Die Staatsanwaltschaft Bochum hat gegen diesen Beschluss mit Verfügung vom 19.06.2019 Beschwerde eingelegt.

Mit Beschluss vom 24.06.2019 hat die 9. große Strafkammer des Landgerichts Bochum der Beschwerde nicht abgeholfen und diese dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.

Die Generalstaatsanwaltschaft Hamm ist der Beschwerde beigetreten und hat mit Zuschrift vom 17.07.2019 beantragt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und einen Europäischen Haftbefehl gegen den Verurteilten auf der Grundlage des Vollstreckungshaftbefehls der Staatsanwaltschaft vom 21.06.2017 auszustellen.

II.

Die gemäß § 304 Abs. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Bochum ist begründet. Die Zuständigkeit des 9. großen Strafkammer des Landgerichts Bochum als Gericht des ersten Rechtszugs für die Ausstellung des beantragten Europäischen Haftbefehls ergibt sich aus §§ 131 Abs. 1, 457 Abs. 3 S. 3 StPO i.V. m. §§ 78 Abs. 1, 77 Abs. 1 IRG.

1.

Die gerichtliche Zuständigkeit der Strafkammer für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls zum Zweck der Strafvollstreckung durch Unterzeichnung des entsprechend Art. 8 des Rahmenbeschlusses über den Europäischen Haftbefehl nebst Anhang ausgefüllten Formblattes ergibt sich nach innerstaatlichem Recht allerdings nicht unmittelbar aus dem IRG.

a.

Europarechtliche Grundlage für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls ist der Rahmenbeschluss des Rates vom 13.06.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedsstaaten (2002/584/JI - im Folgenden: RbEUHb). Hinsichtlich der Zuständigkeit für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls, bei dem es sich gemäß Artikel 1 Abs. 1 RbEUHb um eine "justizielle Entscheidung" handelt, die die Festnahme und Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedsstaat zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung bezweckt, gibt der RbEUHb keine konkreten Vorgaben, sondern legt in seinem Art. 6 Abs. 1 fest, dass der Europäische Haftbefehl von der "Justizbehörde" auszustellen ist, die nach dem Recht des Ausstellungsmitgliedsstaates für die Ausstellung zuständig ist.

b.

In Deutschland hat der Gesetzgeber eine unmittelbare Umsetzung von Art. 6 Abs. 1 RbEUHb in das IRG nicht aufgenommen und die Frage der Zuständigkeit für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls auch nicht in anderen Rechtsvorschriften ausdrücklich geregelt. Selbst in den Vorschriften des 8. Teils des IRG (§ 78 - § 83i IRG), in dem der Auslieferungs- und Durchlieferungsverkehr mit Mitgliedsstaaten der Europäischen Union geregelt ist, findet sich keine Bestimmung über die Zuständigkeit für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls. Vielmehr gilt auch für den Auslieferungsverkehr innerhalb der Europäischen Union aufgrund der Verweisung in § 78 Abs. 1 IRG die allgemeine Zuständigkeitsvorschrift des § 74 IRG, wonach über ausländische Rechtshilfeersuchen und über die Stellung von Rechtshilfeersuchen an ausländische Staaten das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz im Einvernehmen mit dem Auswärtigen Amt und mit anderen Bundesministerien, deren Geschäftsbereich von der Rechtshilfe betroffen wird, entscheidet.

c.

Die Bundesregierung hat von der ihr gemäß § 74 Abs. 2 S. 1 IRG eingeräumten Möglichkeit, die Ausübung der Befugnis, über ausländische Rechtshilfeersuchen zu entscheiden und Rechtshilfeersuchen an ausländische Staaten zu stellen, im Wege einer Vereinbarung auf die Landesregierungen zu übertragen, Gebrauch gemacht und in der am 28.04.2004 geschlossenen Vereinbarung mit den Regierungen aller Bundesländer über die Zuständigkeit im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten (BAnz. Nr. 100 v. 29.05.2005, S. 11494 - im Folgenden: Bund-Länder-Vereinbarung) den Landesregierungen die Ausübung ihrer Befugnisse zur Entscheidung über eingehende und ausgehende Ersuchen in allen Angelegenheiten des IRG mit einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union übertragen. Dementsprechend hat Deutschland zu Art. 6 Abs. 3 RbEuHb folgende Erklärung abgegeben (Ratsdok. 12509/06 v. 7.9.2006 CO-PEN 94, zitiert bei Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., unter III.A.1., Rb-EuHb Rn. 12): "Zuständige Justizbehörden nach Artikel 6 sind die Justizministerien des Bundes und der Länder. Diese haben die Ausübung ihrer aus dem Rahmenbeschluss folgenden Befugnisse zur Stellung ausländischer Ersuchen (Art. 6 Abs. 1) in der Regel auf die Staatsanwaltschaften der Länder und die Landgerichte übertragen".

d.

Das Bundesland Nordrhein-Westfalen hat seinerseits von der in § 74 Abs. 2 S. 2 IRG normierten Befugnis der Bundesländer zur weiteren Übertragung der Befugnisse Gebrauch gemacht und in Ziffer 1.2.1.7 des "Gemeinsamen Runderlasses des Justizministeriums (9350 - III. 19), des Ministeriums für Inneres und Kommunales (424-57.01.48) und des Finanzministeriums (S 1320 - 5 - V B 5/ S 770 - 4 - V A 1) über die Ausübung der Befugnisse im Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland in strafrechtlichen Angelegenheiten, Berichtspflichten und die Zusammenarbeit im Europäischen Justiziellen Netz sowie mit transnationalen Verbindungsstellen vom 16.12.2016 (JMBl. NRW S. 16, GRdE-RHSt - im Folgenden: Runderlass NW)" die Prüfung und Bewilligung von Ersuchen an ausländische Behörden für (unter anderem) Auslieferungsersuchen an einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union an die Leitende Oberstaatsanwältin oder den Leitenden Oberstaatsanwalt delegiert.

e.

Im Ergebnis sind daher in Nordrhein-Westfalen gemäß § 74 IRG in Verbindung mit der Bund-Länder-Vereinbarung, dem Runderlass NW sowie § 144 GVG die Staatsanwaltschaften für die Prüfung und Bewilligung von Auslieferungsersuchen an Behörden der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zuständig. Unbeschadet der Frage, worauf sich diese Zuständigkeit überhaupt bezieht (siehe dazu unten), lässt sich hieraus eine gerichtliche Zuständigkeit, worauf das Landgericht in der angefochtenen Entscheidung insoweit zutreffend hingewiesen hat, von vornherein nicht herleiten.

f.

Gleiches gilt für den Anwendungserlass des Ministeriums der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen vom 29.05.2019 (Az.: 9362 - III. 16 - im Folgenden: Anwendungserlass NW), durch den die Leitenden Oberstaatsanwältinnen und Leitenden Oberstaatsanwälte angewiesen werden, bei dem zuständigen Gericht die Ausstellung des Europäischen Haftbefehls nach dem RbEUHb zu beantragen, wenn sie bzw. er als zuständige Bewilligungsbehörde ein an einen Mitgliedsstaat zu richtendes Überstellungsersuchen zur Strafverfolgung oder zur Strafvollstreckung befürwortet. Eine gerichtliche Zuständigkeit für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls wird hierdurch ebenfalls nicht begründet.

g.

Diese aufgezeigte Zuweisung der Zuständigkeit an die Staatsanwaltschaften nach § 74 IRG u.a. für die Stellung von Rechtshilfeersuchen an ausländische Staaten betrifft allerdings nur die rechtshilferechtliche Befugnis im Sinne des Geschäftsweges, also die Befugnis zur Durchführung des Auslieferungsverkehrs mit dem Ausland als Unterfall der Pflege der Beziehungen zu auswärtigen Staaten i.S.d. Art. 32 GG. Von dieser gemäß § 74 IRG auf die Staatsanwaltschaften übertragenen rechtshilferechtlichen Befugnis zu trennen ist die Frage, unter welchen innerstaatlichen prozessualen Voraussetzungen Ersuchen um Rechtshilfe an ausländische Staaten gerichtet werden können. Dies betrifft den Fragenkreis, unter welchen prozessualen Voraussetzungen gegen einen bestimmten Beschuldigten im konkreten Fall bestimmte grenzüberschreitende Maßnahmen wie Durchsuchungen, Beschlagnahmen, Vernehmungen o.a. zu ergreifen sind bzw. ergriffen werden dürfen. Dies ist keine Frage der internationalen Rechtshilfe und damit nicht eine Frage der aus § 74 IRG abgeleiteten Zuständigkeit. Vielmehr ist dies nach den Regeln des allgemeinen inländischen Verfahrensrechts zu beurteilen (Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O, vor § 68 Rn. 1 ff.).

Diese innerstaatliche Befugnis zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls im Sinne einer Anordnung der europaweiten Ausschreibung zur Festnahme zwecks Übergabe als Maßnahme der internationalen Fahndung gegen einen bestimmten Beschuldigten bzw. Verurteilten im konkreten Einzelfall folgt für die Staatsanwaltschaft und für die Gerichte, soweit es die Strafverfolgung betrifft, aus § 131 Abs. 1 StPO, und für den Bereich der Strafvollstreckung aus § 457 Abs. 3 i.V.m. § 131 StPO.

aa.

Da der Europäische Haftbefehl nach Art. 1 Abs. 1 RbEUHb sowohl Festnahme- als auch Übergabeersuchen ist, ist er jedenfalls auch eine Ausschreibung zur Festnahme im Sinne des § 131 Abs. 1 StPO. Der Umstand, dass es sich bei dem Europäischen Haftbefehl nicht lediglich um eine innerstaatliche Ausschreibung zur Festnahme, sondern um eine grenzüberschreitende Maßnahme mit internationalem Bezug (Ersuchen um Festnahme und Übergabe) handelt, ändert nichts daran, dass sich die innerstaatliche Befugnis hierzu aus § 131 Abs. 1 StPO ergibt. Die Vorschrift des § 131 Abs. 1 StPO erlaubt nämlich auch die internationale Fahndung (OLG Celle, Beschluss vom 16.04.2009, NStZ 2010, 534; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 11.07.2019 - 1 Ws 203/19; Münchner Kommentar zur StPO, 2014, § 131 Rn. 1 m.w.N.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 131 Rn. 1; Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl., Vor § 68 Rn. 25b). Eine Beschränkung auf nationale Fahndungsmaßnahmen lässt sich weder aus der Vorschrift des § 131 StPO selbst noch aus dem IRG herleiten (OLG Celle, a.a.O.; OLG Zweibrücken, a.a.O). Vielmehr handelt es sich bei der Vorschrift des § 131 StPO um die innerstaatliche Rechtsgrundlage (auch) jeglicher internationaler Ausschreibung zur Festnahme wie Interpol-Fahndung oder Europäischer Haftbefehl (vgl. Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, a.a.O.).

Dem entsprechend enthalten die Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (RiStBV) in den Nr. 39 ff. zahlreiche Regelungen für die internationale Fahndung nach § 131 StPO. Dabei wird in Nr. 43 der RiStBV ausdrücklich darauf hingewiesen, dass unter anderem im räumlichen Bereich der Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Fahndung durch Ausschreibung im Schengener Informationssystem (SIS) zu erfolgen hat (vgl. zur Zulässigkeit der SIS-Ausschreibung gem. § 131 StPO Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 131 Rn. 1; Schultheis in KK-StPO, 8. Aufl., § 131 Rn. 5; Ahlbrecht in Gercke/Julius/Temming/Zöller, StPO, 6. Aufl., § 131 Rn. 2; Meyer/Hüttemann, ZStW 2016, 394, 401; OLG Zweibrücken, Beschluss vom 11.07.2019 - 1 Ws 203/19). Da die SIS-Ausschreibung sowohl nach Art. 9 Abs. 3 S. 2 RbEUHb als auch nach der innerstaatlichen Vorschrift des § 83a Abs. 2 IRG dem Europäischen Haftbefehl gleichgestellt ist, folgt schon aus der sich aus § 131 Abs. 1 StPO ergebenden Zulässigkeit der SIS-Ausschreibung, dass § 131 Abs. 1 StPO auch Rechtsgrundlage für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls im Sinne einer Anordnung der EU-weiten (internationalen) Ausschreibung zur Festnahme zwecks Übergabe ist (so auch OLG Zweibrücken, Beschluss vom 11.07.2019, 1 Ws 203/19).

bb.

Soll ein Festnahme- und Übergabeersuchen in Gestalt eines Europäischen Haftbefehls als Maßnahme der internationalen Fahndung zum Zwecke der Strafvollstreckung gestellt werden, ergibt sich die innerstaatliche Ermächtigung zu der entsprechenden Anordnung zur EU-weiten Fahndung und damit zur Ausstellung eines entsprechenden Europäischen Haftbefehls aus § 457 Abs. 3 StPO in Verbindung mit § 131 StPO.

Stellt sich der Verurteilte der Ladung zum Strafantritt nicht oder ist er - wie hier - flüchtig, so hat die Strafvollstreckungsbehörde, also gemäß § 451 Abs. 1 die Staatsanwaltschaft, gemäß § 457 Abs. 3 S. 1 StPO die gleichen Befugnisse wie die Strafverfolgungsbehörde, soweit die Maßnahmen bestimmt und geeignet sind, den Verurteilten festzunehmen. Zulässig ist damit auch insoweit die nationale und internationale Ausschreibung zur Festnahme nach § 131 StPO (statt aller: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 457 Rn. 12; Appl in KK-StPO, 8. Aufl., § 457 Rn. 12).

Entgegen der Auffassung der Strafkammer in dem angefochtenen Beschluss steht der Umstand, dass die Staatsanwaltschaft nach § 457 Abs. 2 StPO befugt ist, einen innerstaatlichen Vorführungs- oder Vollstreckungshaftbefehl zu erlassen, der Befugnis zur internationalen Ausschreibung zur Festnahme zum Zwecke der Strafvollstreckung auf der Grundlage der Vorschrift des § 457 Abs. 3 StPO nicht entgegen. Der innerstaatliche Vollstreckungshaftbefehl und der Europäische Haftbefehl als ein über die innerstaatlichen Grenzen hinausreichendes Fahndungs- und Übergabeersuchen sind sowohl von ihrer Rechtsnatur als auch von ihrem Wirkungskreis grundverschiedene, voneinander unabhängige und streng zu trennende Maßnahmen zur Festnahme des Verurteilten. Eine Gleichstellung des Europäischen Haftbefehls mit einem innerstaatlichen Vollstreckungshaftbefehl nach § 457 Abs. 2 StPO wäre daher schon im Ansatz verfehlt. Der Europäische Haftbefehl ist deshalb keine Maßnahme (Vorführungs- oder Haftbefehl) nach § 457 Abs. 2 StPO, sondern fällt unter die "übrigen" Maßnahmen des § 457 Abs. 3 StPO.

2.

Im Ergebnis liegt damit nicht nur die aus § 74 IRG abgeleitete rechtshilferechtliche Befugnis in der Hand der Staatsanwaltschaft, sondern auch die aus den §§ 131 Abs. 1, § 457 Abs. 3 StPO folgende innerstaatliche Befugnis, grenzüberschreitende Fahndungsmaßnahmen gegen einen Beschuldigten bzw. Verurteilten im konkreten Einzelfall anzuordnen.

Die bisherige Praxis, wonach - gestützt auf diese Rechtsgrundlagen - bei Festnahme- und Übergabeersuchen nach dem RbEUHb der Europäische Haftbefehl ohne diesbezügliche gerichtliche Entscheidung unmittelbar von der Staatsanwaltschaft ausgestellt, d.h. auch als "ausstellende Justizbehörde" unterzeichnet wurde, lässt sich allerdings nicht länger aufrechterhalten, nachdem der EUGH mit Urteil vom 27.05.2019 in den verbundenen Rechtssachen C-505/18 und C-82/19 PPU entschieden hat, dass die Staatsanwaltschaften eines Mitgliedsstaats, die der Gefahr ausgesetzt sind, im Rahmen der Entscheidung über die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls unmittelbar oder mittelbar Anordnungen oder Einzelweisungen seitens der Exekutive, etwa des Justizministeriums, unterworfen zu werden, nicht unter den Begriff "ausstellende Justizbehörde" im Sinne des Art. 6 Abs. 1 RbEUHb fallen. Die nach §§ 146, 147 GVG weisungsabhängigen Staatsanwaltschaften in Deutschland waren und sind danach zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls nicht befugt. Vielmehr sind Europäische Haftbefehle in Deutschland unter Berücksichtigung der Entscheidung des EuGH von - unabhängigen - Gerichten auszustellen (OLG München, Beschluss vom 13.06.2019 - 2 Ws 587/19, juris Rn.18; ebenso OLG Zweibrücken, Beschluss vom 11.07.2019, 1 Ws 203/19).

a.

Die aus § 74 IRG abgeleitete rechtshilferechtliche Befugnis der Staatsanwaltschaft bleibt davon allerdings unberührt. Aus der Rechtsprechung des EuGH folgt allein, dass die Staatsanwaltschaft in Deutschland nicht (mehr) als ausstellende Justizbehörde im Sinne des Art. 6 Abs. 1 RbEUHb, die zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls berechtigt ist, angesehen werden kann. Die von dem EuGH vorgenommene Einschränkung gilt allein für die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls und nicht für übrigen Maßnahmen als Justizbehörde nach dem RbEUHb, die sich beispielweise aus Art. 10 RbEUHb ergeben. Damit bleibt die aus § 74 IRG abgeleitete Stellung der Staatsanwaltschaft als sowohl innerstaatlich wie auch international zuständige Behörde für die geschäftsmäßige Durchführung des grenzüberschreitenden Rechtsverkehr nach dem RbEUHb, insbesondere für die Übermittlung des Europäischen Haftbefehls an andere EU-Staaten bzw. die Beantragung der Aufnahme der Daten der zur Festnahme ausgeschriebenen Person in das Schengener Informationssystem (SIS) als Fahndungsregister, weiterhin unverändert im bisherigen Umfang bestehen (so auch OLG Zweibrücken, a.a.O.).

b.

Durch die zitierte Entscheidung des EuGH geht zwar die sich aus §§ 131 Abs. 1, 457 Abs. 3 StPO ergebende innerstaatliche Befugnis der Staatsanwaltschaft zur Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls als Maßnahme der internationalen Fahndung bzw. Ausschreibung zur Festnahme europarechtlich ins Leere. Die innerstaatliche Zuständigkeit zur Anordnung einer entsprechenden Maßnahme nach den genannten Vorschriften liegt jedoch nicht nur bei der Staatsanwaltschaft. Vielmehr können nationale und internationale Ausschreibungen zur Festnahme aufgrund eines (innerstaatlichen) Haftbefehls gemäß § 131 Abs. 1 StPO im Bereich der Strafverfolgung auch durch den nach § 162 StPO sachlich zuständigen Richter angeordnet werden. Im Bereich der Strafvollstreckung ist das Gericht des ersten Rechtszugs zuständig für die insoweit notwendig werdenden gerichtlichen Entscheidungen (§ 457 Abs. 3 S. 3 StPO). Die Beachtung des bereits mehrfach erwähnten Urteils des EuGH vom 27.05.2019 bedingt eine einschränkende, rahmenbeschlusskonforme Auslegung der für Fragen der internationalen Fahndung einschlägigen strafprozessualen Vorschriften der §§ 131 Abs. 1, 457 Abs. 3 StPO dahingehend, dass für die Anordnung der EU-weiten Ausschreibung zur Festnahme zwecks Übergabe und damit für die Entscheidung zur Ausstellung eines entsprechenden Europäischen Haftbefehls nicht mehr (auch) die Staatsanwaltschaft, sondern nur noch die Gerichte, nämlich der nach §§ 131, 162 StPO zuständige Richter im Bereich der Strafverfolgung und das Gericht des ersten Rechtszuges im Bereich der Strafvollstreckung (§§ 131, 457 Abs. 3 StPO), zuständig sind.

Befürwortet die Staatsanwaltschaft die Ausstellung eines Europäischen Haftbefehls, hat sie demnach die hierfür nunmehr im Hinblick aus das Urteil des EuGH vom 27.05.2019 notwendig gewordene gerichtliche Entscheidung bei dem nach §§ 131 Abs. 1, 162 StPO bzw. §§ 131 Abs. 1, 457 Abs. 3 StPO zuständigen Gericht herbeizuführen, das - nach entsprechender Prüfung - bei Vorliegen der sachlichen Voraussetzungen den Europäischen Haftbefehl "auszustellen", d.h. zweckmäßigerweise auf dem dafür vorgesehenen und ausgefüllten Formblatt den Europäischen Haftbefehl als "ausstellende Justizbehörde" zu unterzeichnen und auszufertigen hat.

4.

Die sachlichen Voraussetzungen für eine EU-weite Ausschreibung des Verurteilten zur Festnahme zwecks Übergabe nach dem RbEuHb liegen vor.

Bei den durch das Landgericht Bochum abgeurteilten Taten handelt es sich um auslieferungsfähige Straftaten nach Art. 2 RbEuHb, die Höhe der nach Anrechnung des Untersuchungshaftzeitraums verbleibenden und noch zu vollstreckenden Restfreiheitsstrafe von 2261 Tagen übersteigt das in der vorstehend genannten Regelung vorgeschriebene Mindestmaß von vier Monaten. Die EU-weite Fahndung nach dem Verurteilten erscheint geeignet und erforderlich, da dieser flüchtig und unbekannten Aufenthalts ist und sich vermutlich im Ausland aufhält. Angesichts der Schwere und Vielzahl der Taten und der Höhe der noch zu vollstreckenden Restfreiheitsstrafe ist das Ersuchen um Festnahme und Übergabe auf der Grundlage eines Europäischen Haftbefehls auch offenkundig verhältnismäßig.

Der angefochtene Beschluss war nach alledem aufzuheben und der anliegende Europäische Haftbefehl entsprechend dem Antrag der Staatsanwaltschaft Bochum durch den Senat zu erlassen.