BGH, Beschluss vom 07.11.1985 - GSSt 1/85
Fundstelle
openJur 2011, 118007
  • Rkr:
Strafrecht
§ 137 GVG

Wie sich aus dem Zusammenhang der Vorschriften der GVG §§ 136, 137, 138 ergibt, darf der vorlegende Senat mit seiner beabsichtigten Entscheidung weder in der Vorlegungsfrage noch in einer vorgreiflichen Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Zivilsenats oder Strafsenats abweichen. Denn für diesen Fall schreibt GVG § 136 ein besonderes Vorlageverfahren vor. Die Vorlage nach GVG § 137 kann eine gebotene Vorlage nach GVG § 136 nicht ersetzen.

Gründe

I.

Dem Angeklagten wird vorgeworfen, er habe in der Zeit von Januar bis zum 6. März 1981 durch Mitwirkung beim Kauf von 3,452 kg Herein in der T sowie bei der Einfuhr des Rauschgiftes in die B unerlaubt mit Betäubungsmitteln Handel getrieben.

Das Landgericht Frankfurt am Main hatte gegen ihn wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (nach den Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes 1972) eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren verhängt. Unter Einbeziehung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten hatte es ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat durch Urteil vom 23. September 1983 - 2 StR 370/83 - (NStZ 1984, 78 = StV 1984, 4 = bei Holtz in MDR 1984, 91/92) jenes Urteil auf die Revision des Angeklagten in vollem Umfang und auf die Revision der Staatsanwaltschaft im Ausspruch über die Gesamtstrafe aufgehoben. Er hat den Rechtsfehler, der zum Schuldspruch führte, darin erblickt, daß das Landgericht bei der Beurteilung des zweiten Tatteils dem "ganz erheblichen Tatbeitrag" einer Vertrauensperson der Polizei lediglich "ganz erhebliche mildernde Bedeutung" beigemessen, jedoch keinen Anlaß gesehen hatte, auf die vom 2. Strafsenat damals (auch in NJW 1981, 1626; NStZ 1982, 126; 1982, 156 und 1984, 519) vertretene Rechtsansicht einzugehen, daß eine Überschreitung der Grenzen zulässigen polizeilichen Lockspitzeleinsatzes zur Verwirkung des staatlichen Strafanspruchs führe und ein Verfahrenshindernis begründe.

Die neu erkennende Strafkammer hat wiederum eine täterschaftliche Mitwirkung des Angeklagten beim Einkauf und bei der Einfuhr des Heroins angenommen. Sie hat jedoch seine Einlassung als unwiderlegbar angesehen, die gesamte Tat nur begangen zu haben, weil er in einer durch wirtschaftliche Schwierigkeiten, Angst vor Gläubigern in der T und Charakterschwächen gekennzeichneten Lage von dem diese Situation ausnutzenden Gewährsmann der Polizei heftig gedrängt worden sei. Die Strafkammer hat bei Abwägung der Tatbeiträge den des V-?Mannes als unvertretbar übergewichtig erachtet, das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses bejaht und das Verfahren gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt.

Gegen dieses Urteil des Landgerichts hat die Staatsanwaltschaft Revision eingelegt, mit der sie das Verfahren beanstandet und Verletzung sachlichen Rechts rügt.

Der 2. Strafsenat hält die Verfahrensrügen für teilweise unzulässig, im übrigen für offensichtlich unbegründet. Er hat sachlichrechtliche Fehler, auf denen das Urteil beruhen könnte, nicht gefunden. "Die Feststellungen tragen auch die Annahme des Landgerichts, der Tatbeitrag des V-?Mannes sei, verglichen mit dem des Angeklagten, 'unvertretbar übergewichtig'. Es entsprach der vom erkennenden Senat im Urteil vom 23. September 1983 zum Ausdruck gebrachten Rechtsansicht, wenn sich der zweite Tatrichter auf der Grundlage des festgestellten Sachverhalts an dem Erlaß eines Sachurteils gehindert gesehen und deshalb das Verfahren gemäß § 260 Abs. 3 StPO eingestellt hat".

Der 2. Strafsenat will jedoch in der Frage, wie sich die unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht mehr hinnehmbare Einwirkung eines agent provocateur auf die Strafverfolgung des Angestifteten auswirkt, seine bisherige Rechtsansicht aufgeben und sich der Auffassung des 1. Strafsenats im Urteil vom 23. Mai 1984 - 1 StR 148/84 - (BGHSt 32, 345) anschließen, nach der auch eine solche Einwirkung kein Verfahrenshindernis begründet, sondern im Rahmen der Strafzumessung zu beachten ist und sachgerecht berücksichtigt werden kann.

Die Entscheidung über die Revision der Staatsanwaltschaft hängt nach Ansicht des 2. Strafsenats von der Antwort auf die genannte Frage ab: Begründet die unzulässige Einwirkung eines polizeilichen agent provocateur ein Verfahrenshindernis, so hält das angefochtene Urteil rechtlicher Prüfung stand. Darf die Einwirkung dagegen nur bei der Strafzumessung berücksichtigt werden, so ist das Urteil aufzuheben, weil auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen eine Verurteilung in Betracht kommt.

Der 2. Senat sieht sich nicht gehindert, von einer früheren Rechtsauffassung abzugehen. Er ist der Ansicht, daß das Revisionsgericht auch in ein und demselben Verfahren nicht an eine zunächst vertretene, im Fortgang des Verfahrens aber als unzutreffend erkannte Rechtsauffassung gebunden ist, sondern daß es sie - mit Bindungswirkung für den neuen Tatrichter (§ 358 Abs. 1 StPO) - berichtigen muß. Dazu beruft er sich u.a. auf die vom Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes im Beschluß vom 6. Februar 1973 (BGHZ 60, 392) entwickelten Grundsätze.

Der 2. Strafsenat hat dem Großen Senat für Strafsachen zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt (§ 137 GVG):

1. Ergibt sich aus der Einflußnahme eines verdeckt eingesetzten Polizeibeamten oder eines V-?Mannes - unabhängig von einer schuldmindernden Wirkung - ein selbständiger Strafmilderungsgrund zugunsten des Angestifteten?

2. Kann eine derartige Einflußnahme, wenn sie die Grenzen des rechtsstaatlich Zulässigen überschreitet, auch zur Annahme eines Verfahrenshindernisses führen?

Der Generalbundesanwalt hat beantragt zu beschließen:

1. Aus der Einflußnahme eines verdeckt eingesetzten Polizeibeamten oder eines V-?Mannes ergibt sich - über eine schuldmindernde Wirkung hinaus - kein selbständiger Strafmilderungsgrund zugunsten des Angestifteten.

2. Eine derartige Einflußnahme kann, wenn sie die Grenzen des rechtsstaatlich Zulässigen überschreitet, nicht zur Annahme eines Verfahrenshindernisses führen.

II.

Die Vorlagevoraussetzungen sind nicht erfüllt.

1. Nach § 137 GVG kann der erkennende Senat in einer Frage von grundsätzlicher Bedeutung die Entscheidung des Großen Senats herbeiführen, wenn nach seiner Auffassung die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung es erfordert. Der Große Senat entscheidet nach § 138 Abs. 1 GVG nur über die Rechtsfrage; seine Entscheidung ist für den in der Sache erkennenden Senat nach § 138 Abs. 3 GVG bindend.

Es muß sich um eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung handeln, und der vorlegende Senat muß die Entscheidung des Großen Senats aus den genannten Gründen für erforderlich halten. Zudem muß die Rechtsfrage für die Entscheidung des vorliegenden Falles erheblich sein. Das ist seit RGSt 72, 91, 94 einhellige Meinung (vgl. Schäfer bei Löwe/Rosenberg StPO 23. Aufl. § 137 GVG Rn. 8; Eb. Schmidt, Lehrkommentar zu § 137 GVG Rn. 4; KMR Müller 7. Aufl. § 137 GVG Rn. 2; Kissel, Gerichtsverfassungsgesetz § 137 Rn. 8; KK-?Salger § 137 GVG Rn. 3; Kleinknecht/Meyer StPO 37. Aufl. § 137 GVG Rn. 1).

Wie sich aus dem Zusammenhang der Vorschriften der §§ 136 bis 138 GVG ergibt, darf der vorlegende Senat mit seiner beabsichtigten Entscheidung weder in der Vorlegungsfrage noch in einer vorgreiflichen Rechtsfrage von der Entscheidung eines anderen Zivil- oder Strafsenats abweichen. Denn für diesen Fall schreibt § 136 GVG ein besonderes Vorlageverfahren vor. Die Vorlage nach § 137 GVG kann eine gebotene Vorlage nach § 136 GVG nicht ersetzen, weil

a) der Große Senat bei einer Vorlage nach § 136 GVG anders besetzt sein kann und in der Regel auch anders besetzt ist als bei einer Vorlage nach § 137 GVG (nämlich mit elf oder mehr Richtern statt mit höchstens zehn, § 132 Abs. 5 Satz 2 GVG),

b) der Große Senat nur zur Entscheidung über die Vorlegungsfrage berufen ist (§ 138 Abs. 1 GVG), also über andere mit ihr nicht in untrennbarem Zusammenhang stehende Fragen (vgl. BGHSt 32, 115, 119, 127), die ihr vorausgehen, nicht entscheiden darf, und

c) die bindende Wirkung, welche die Entscheidung des Großen Senats für den in der Sache erkennenden Senat hat (§ 138 Abs. 3 GVG), mit der sich aus § 136 GVG ergebenden Bindung des erkennenden Senats (in einer vorgreiflichen Rechtsfrage) kollidieren würde.

2. Der 2. Strafsenat kann die von ihm beabsichtige Entscheidung nur treffen, wenn er an die dem ersten Revisionsurteil zugrunde liegende Aufhebungsansicht nicht gebunden ist.

Der Bundesgerichtshof hat bisher im Anschluß an die ständige Rechtsprechung des Reichsgerichts (RGSt 6, 357; 22, 156; 59, 31, 34; RGRechtspr. 4, 300, 302 und 506, 509; RG JW 1935, 2380 Nr. 40; RG GA Bd. 69, 223) und des Obersten Gerichtshofes für die Britische Zone (OGHSt 1, 35, 36) die Auffassung vertreten, das wiederum mit der Sache befaßte Revisionsgericht sei, auch wenn es ein höheres als das erste Revisionsgericht ist, an die der Aufhebung zugrunde liegende rechtliche Beurteilung des ersten Revisionsrichters gebunden:

Urteil vom 27. September 1951 - 3 StR 148/51 - LM Nr. 2 zu § 358 StPO = NJW 1951, 970 (LS), Urteil vom 25. Oktober 1951 - 3 StR 549/51 -, insoweit in NJW 1952, 34 f. nicht abgedruckt, Urteil vom 17. September 1953 - 3 StR 295/53 - NJW 1953, 1880 f., Urteil vom 22. Juni 1954 - 5 StR 228/54 -, Urteil von 5. April 1955 - 5 StR 79/55 -, Beschluß vom 18. Juni 1954 - 1 StR 620/53 - (für die Rechtsbeschwerde in einer Bußgeldsache).

3. Die genannten Entscheidungen der Strafsenate zur sog. Selbstbindung des Revisionsgerichts sind durch den Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 6. Februar 1973 - GmS-?OGB 1/72 - (BGHZ 60, 392) nicht überholt:

Im Ausgangsfall ging es darum, daß ein Senat des Bundesfinanzhofs seine dem ersten Revisionsurteil zugrunde liegende Auffassung vor der neuen Entscheidung aufgegeben hatte und an seiner neuen (in einer anderen Sache gefundenen) Rechtsansicht auch in der früheren Sache, nachdem er erneut mit ihr befaßt war, festhalten wollte. Er hatte daher dem Großen Senat des Bundesfinanzhofs die Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt, ob er im zweiten Rechtsgang das Urteil eines Finanzgerichts aufheben darf, wenn und soweit dieses an die der Zurückverweisung zugrunde liegende Rechtsauffassung gebunden war und diese Bindung auch beachtet hat. Der Große Senat des Bundesfinanzhofs beabsichtigte, die vorgelegte Rechtsfrage zu verneinen, sah sich aber durch Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Bundessozialgerichts daran gehindert. Er hatte deshalb den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes angerufen und ihm die Frage vorgelegt, ob ein oberster Gerichtshof des Bundes, wenn er seine Rechtsauffassung geändert hat, im zweiten Rechtsgang das Urteil der Vorinstanz aus Gründen aufheben darf, die der rechtlichen Beurteilung widersprechen, welche er im ersten Rechtsgang der Aufhebung und Zurückverweisung zugrunde gelegt hatte.

Der Gemeinsame Senat hat die ihm vorgelegte Rechtsfrage bejaht. Er hat die Selbstbindung des Revisionsgerichts nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern nur eingeschränkt. Er ist der Auffassung, daß ein oberster Gerichtshof des Bundes, wenn er seine der Zurückverweisung zugrunde liegende Rechtsauffassung inzwischen geändert hat und erneut mit derselben Sache befaßt wird, nicht an seine alte Rechtsauffassung gebunden sei (aaO S. 395).

Der Gemeinsame Senat hat die Frage nicht entschieden, ob das Revisionsgericht von einer dem früheren Urteil zugrunde liegenden Aufhebungsansicht auch dann abweichen darf, wenn es - wie hier der 2. Strafsenat - seine Rechtsauffassung erst anläßlich der neuen Entscheidung in der vorliegenden Sache ändern will (aaO S. 399). Für solche Fälle haben das Bundesverwaltungsgericht und der Bundesfinanzhof in Entscheidungen, die nach dem Beschluß des Gemeinsamen Senats ergangen sind, die Bindung des Revisionsgerichts an das frühere Urteil bejaht (BVerwG Urteile vom 22. Februar 1973 - III C 31.72 - MDR 1973, 1044 = ZLA 1973, 180 und vom 22. Juni 1977 - VIII C 49.76 - BVerwGE 54, 116 und BFH Urteil vom 12. Dezember 1979 - II R 127/74 - BStBl II 1980, 218).

Der Gemeinsame Senat hat ferner ausdrücklich offen gelassen, ob für das Strafverfahren besondere Grundsätze gelten (aaO S. 399). Die von ihm beschriebene Ausnahme von der Selbstbindung des Revisionsgerichts läßt sich daher nicht ohne weiteres auf das Strafverfahren übertragen.

4. Der erkennende Senat muß deshalb bei der Entscheidung in der vorliegenden Strafsache die bisherige Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs zur Selbstbindung des Revisionsgerichts beachten.

Die Urteile des früheren 3. Strafsenats nötigen allerdings nicht zu einer Vorlegung nach § 136 GVG, weil dieser Senat nicht mehr besteht (BGHSt 18, 200, 204; 20, 77, 79). Dagegen darf der erkennende Senat von den genannten Entscheidungen des 1. und des 5. Strafsenats nicht abweichen, ohne zuvor den Großen Senat nach § 136 GVG angerufen zu haben.

Der Große Senat für Strafsachen lehnt deshalb die Entscheidung der vorgelegten Rechtsfragen wegen Fehlens der Vorlagevoraussetzungen ab (§ 9 Abs. 6 Satz 2 der Geschäftsordnung).

5. Es sei jedoch bemerkt, daß in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Auffassung derzeit nicht mehr vertreten wird, die unzulässige Einflußnahme eines verdeckt eingesetzten Polizeibeamten oder eines V-?Mannes könne ein Verfahrenshindernis begründen, nachdem der 2. Strafsenat sie im Vorlagebeschluß abgelehnt hat (vgl. dazu ferner BGH, Urteil vom 23. Mai 1984 - 1 StR 148/84 - (BGHSt 32, 345); Beschluß vom 20. Dezember 1983 - 5 StR 634/83 - (NStZ 1984, 178 = StV 1984, 58) und Urteil vom 23. Juli 1985 - 5 StR 166/85 - (zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt = StV 1985, 398 mit Anm. Becker).