Bayerisches LSG, Urteil vom 08.03.2017 - L 2 U 26/16
Fundstelle
openJur 2019, 40620
  • Rkr:
Tenor

I.

Das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 18.11.2015 und der Bescheid der Beklagten vom 24.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.06.2015 werden aufgehoben und es wird festgestellt, dass der Unfall des Klägers vom 24.10.2014 ein Arbeitsunfall ist.

II.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

III.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist, ob es sich bei dem Ereignis vom 24.10.2014 um einen bei der Beklagten versicherten Arbeitsunfall im Sinne eines Wegeunfalls im Sinne des § 8 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) handelt.

Der 1990 geborene Kläger war am 24.10.2014 gegen 06.15 Uhr auf der Land Straße B11 zwischen A-Stadt und B-Stadt in Höhe Ortsteil S. an einem Verkehrsunfall beteiligt. Der Kläger war bei einem Überholmanöver frontal in einen entgegenkommenden Lkw geprallt. Er zog sich dabei unter anderem eine Handgelenksluxationsfraktur rechts, eine Kahnbeinfraktur links sowie offene Oberschenkelfrakturen rechts und links zu. Der Kläger bewohnte in der F-Straße 8 in B-Stadt eine eigene Wohnung. Die Lagerhalle seines damaligen Arbeitgebers Firma Handwerkerservice A., bei der er bis heute als Bauhelfer beschäftigt ist, befand sich in der P-Straße Straße 33 in B-Stadt. Die Wegstrecke zur Arbeit beträgt 1,6 Kilometer (km). Am Unfalltag hatte der Kläger die Fahrt zur Arbeit von der Wohnung seiner 1996 geborenen damaligen Freundin und heutigen Ehefrau D. A., geb. C., in C-Straße, C-Stadt (bei A-Stadt), bei der er zuvor übernachtet hatte, angetreten (Wegstrecke zur Arbeitsstätte: 46 km).

Mit Bescheid vom 24.03.2015 lehnte die Beklagte die Anerkennung des Unfalls als Arbeitsunfall ab. Die Wohnung der Freundin in C-Stadt sei im Verhältnis zu seiner Arbeitsstätte und seiner eigenen Wohnung als "dritter Ort" anzusehen. Der Weg von diesem Ort zur Arbeitsstätte stehe aber nur dann unter Versicherungsschutz, wenn die Länge des Weges vom dritten Ort im angemessenen Verhältnis zum üblicherweise zur Arbeitsstätte zurückgelegten Weg stehe. Dies sei bei einer Entfernung von 46 km im Verhältnis zur Strecke von der eigenen Wohnung in B-Stadt zur Arbeitsstätte (1,6 km) nicht mehr anzunehmen.

Den hiergegen eingelegten Widerspruch vom 21.04.2015 begründete der Prozessbevollmächtigte des Klägers damit, dass der Kläger zwar in der F-Straße 8 in B-Stadt gemeldet gewesen sei, von der Beklagten jedoch nicht berücksichtigt worden sei, dass der Kläger sich überwiegend bei seiner Freundin in C-Stadt aufgehalten habe. Es sei somit von einer gespaltenen Wohnung auszugehen. Ein Wegeunfall liege vor, der Versicherungsschutz sei zu bejahen.

Auf Nachfrage der Beklagten ergänzte und konkretisierte der Kläger seine Ausführungen wie folgt: Der Kläger sei mit Frau D. C. seit März 2014 liiert. Bei seiner Freundin handle es sich um eine Abiturientin, die noch zu Hause bei ihren Eltern wohne. Da Frau C. zum Zeitpunkt des Unfalls noch über kein eigenes Auto verfügt habe, habe sie der Kläger beinahe täglich nach der Arbeit besucht. Im Haushalt der Eltern der Freundin sei er versorgt worden. Die Wohnung in B-Stadt habe er noch nicht aufgegeben, da die berufliche Zukunft der Freundin noch völlig unklar gewesen sei. Aus diesem Grund sei auch noch keine Ummeldung erfolgt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 18.06.2015 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Um eine Wohnung als ständige Familienwohnung anzusehen, müsse diese auf eine längere bzw. nicht unerhebliche Zeit angelegt sein. Da die Beziehung des Klägers zu seiner Freundin erst wenige Monate bestanden habe und die berufliche Zukunft der Freundin noch völlig offen gewesen sei, sprächen die Umstände dafür, dass der Kläger in der elterlichen Wohnung der Freundin lediglich zu Besuch gewesen sei.

Mit der am 20.07.2015 beim Sozialgericht (SG) Landshut erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter verfolgt.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 18.11.2015 ist der Kläger angehört worden. Er hat dabei angegeben, dass er seit seiner Geburt in B-Stadt lebe und vor etwa drei Jahren in eine eigene Wohnung gezogen sei. Es handle sich um eine 1-Zimmer-Wohnung, mit einer Wohnfläche von ca. 42 qm. Die Wohnung sei voll möbliert, dazu gehöre auch ein Carport. Er nutze die Wohnung allein. Seine Mutter wohne ebenfalls in B-Stadt. Diese sehe er drei- bis viermal wöchentlich. Außerdem habe er noch drei Geschwister. Bei seinem Bruder sei er angestellt. Mit seiner jüngeren Schwester habe er regelmäßig Kontakt. Im Mai 2014 habe er sich ein eigenes Auto gekauft und sei dann fast täglich, wenn es möglich gewesen sei, zu seiner Freundin gefahren und habe dort übernachtet. Er habe dort auch gegessen und wenn es notwendig war, sei auch seine Wäsche dort gemacht worden. In seiner eigenen Wohnung habe er selber gewaschen. Auch am Wochenende sei er zu seiner Freundin gefahren, soweit diese trotz Lernstresses - sie habe in dieser Zeit Abiturvorbereitungen gehabt - Zeit für ihn hatte. Seine Wohnung habe er nicht aufgegeben, da er gedacht habe, dass seine Freundin möglicherweise später in B-Stadt arbeiten könnte. Er habe keinen großen Freundeskreis. Nach der Schule sei der große Freundeskreis auseinander gebrochen.

Das SG hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung auch den Vater der Freundin, H. C., als Zeugen vernommen. Dieser gab an, zusammen mit seiner Ehefrau, seinen beiden Kindern und den Schwiegereltern in einem Einfamilienhaus mit circa 150 qm Wohnfläche zu leben. Der Kläger sei fast die ganze Woche in seinem Haus gewesen. Er habe im Haushalt wie ein eigenes Kind mitgelebt. Wäsche sei für den Kläger mitgewaschen worden, und er habe mitgegessen. Er habe sich in der Wohnung frei bewegen können. Haushaltskosten seien vom Kläger nicht bezahlt worden. Dies hätten die Eltern seiner Freundin auch nicht gewollt. Er habe keine eigenen Möbel mitgebracht, da das Haus voll möbliert gewesen sei. Er habe im Zimmer der Freundin übernachtet. Eine eigene Wohnung hätte man dem Paar zum damaligen Zeitpunkt nicht zur Verfügung stellen können. Der Kontakt des Klägers in C-Stadt habe sich nur auf die Familie C. beschränkt. Hinsichtlich der weiteren Ausführungen wird auf das Sitzungsprotokoll vom 18.11.2015 Bezug genommen.

Der Kläger hat erstinstanzlich beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 24.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.06.2015 aufzuheben und festzustellen, dass das Ereignis vom 24.10.2014 ein Wegeunfall gemäß § 8 Abs. 2 SGB VII ist.

Das SG hat mit Urteil vom 18.11.2015 (Az. S 9 U 166/15) die Klage als zulässig, aber unbegründet abgewiesen. Zur Begründung seiner Auffassung, dass der Unfall nicht auf einem gemäß § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGG SGB VII versicherten Weg geschehen sei, hat das SG auf die Gründe des Widerspruchsbescheides verwiesen. Im Übrigen hat sich das SG mit der Vorschrift des § 8 Abs. 2 Nr. 4 SGB VII auseinandergesetzt und diskutiert, ob der Kläger bei seiner Freundin in C-Stadt eine "ständige Familienwohnung" im Sinne dieser Vorschrift hatte. Dies hat das SG jedoch verneint. Das Vorliegen einer "ständigen Familienwohnung" im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 4 SGB VII sei nicht bewiesen. Im Rahmen der notwendigen Gesamtbetrachtung sei davon auszugehen, dass der Kläger sich nur besuchsweise bei seiner Freundin aufgehalten habe und seinen Lebensmittelpunkt von B-Stadt, wo er aufgewachsen war, nach C-Stadt noch nicht verlagert hätte. Trotz der häufigen Fahrten zur Freundin habe der Kläger noch nicht im Haushalt der Freundin "gewohnt". Hierbei spiele zum einen eine Rolle, dass der Kläger nach C-Stadt nur dann gefahren sei, wenn seine Freundin, die sich auf das Abitur vorbereitete, trotz Lernstresses für ihn Zeit hatte. Zum anderen sei der Kläger zwar im elterlichen Haushalt der Freundin "mitversorgt" worden. Dass er sich in irgendeiner Form im Haushalt eingebracht hätte, wie es bei erwachsenen "Kindern" zu erwarten wäre, gehe aber weder aus seinen eigenen Einlassungen noch aus den Ausführungen des Zeugen C. hervor. Der Kläger sei schließlich zum Zeitpunkt des Unfalls nach wie vor persönlich in B-Stadt, seinem Wohn- und Beschäftigungsort, verwurzelt gewesen insbesondere durch die Beziehungen zur Mutter, zur Schwester sowie zum Bruder, der gleichzeitig sein Arbeitgeber war.

Der Kläger hat gegen das Urteil des SG, das ihm am 22.12.2015 zugestellt worden war, am 22.01.2016 Berufung beim SG Berufung eingelegt, die zuständigkeitshalber an das Bayerische Landessozialgericht (LSG) weitergeleitet worden ist.

Die Zeugin D. A. ist nach dem Abitur, das sie im Jahr 2015 ablegte, im Haus ihrer Eltern in A-Stadt verblieben und hat dort eine Ausbildung zur Erzieherin begonnen. Am 10.08.2016 haben der Kläger und seine frühere Freundin D. A., geborene C., geheiratet. Sie hatten noch bis Mai 2016 bei den Eltern der Braut in C-Stadt gewohnt und dann eine gemeinsame Wohnung im A-Straße in A-Stadt bezogen. Am 20.09.2016 wurde ein gemeinsames Kind geboren. Derzeit befindet sich die Zeugin D. A. in Elternzeit und möchte ihre Ausbildung so bald wie möglich fortsetzen.

Das LSG hat mit Schreiben vom 02.03.2016 die Beklagte auf die Rechtsprechung des BSG zum "erweiterten häuslichen Bereich" hingewiesen, bei dem der Weg zur Arbeit gewöhnlich von wechselnden Ausgangspunkten aus zurückgelegt werde, ohne dass einer den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bilde, etwa wenn sich ein junger Mensch langsam von seinem Elternhaus lösen wolle und teilweise bei den Eltern und im Übrigen bei seinem Partner wohne. Diese Rechtsprechung hält die Beklagte schon deshalb nicht für anwendbar, weil der Kläger nicht mehr bei seinen Eltern, sondern bereits seit ca. 2012 in einer eigenen, voll eingerichteten Wohnung gewohnt habe, in der er auch seine Wäsche selbst gewaschen habe. Zudem sei die Freundin dort sogar mit Zweitwohnsitz gemeldet gewesen.

In der mündlichen Verhandlung vom 08.03.2017 hat der Kläger ergänzt, dass er zur Zeit des Unfalls sowohl während der Arbeitswoche als auch am Wochenende abwechselnd in seiner Wohnung in B-Stadt und bei seiner Freundin in A-Stadt übernachtet habe. Gelegentlich habe auch seine Freundin bei ihm in B-Stadt übernachtet.

Die Zeugin D. A. hat ausgesagt, dass der Kläger einen Teil des Schrankes in ihrem Zimmer für seine Kleidung belegt und auch im Haushalt mitgeholfen habe. Er habe mehr mitgeholfen als sie selbst. Wenn er unter der Woche morgens wegfuhr, sei er direkt in die Arbeit gefahren. Er habe zwar keinen Hausschlüssel gehabt, jedoch sei es in ihrer Familie so üblich, dass nur die Mutter den Hausschlüssel habe. Nicht einmal ihr Vater habe einen eigenen Hausschlüssel. Der Kläger habe in der Regel fünf- bis siebenmal pro Woche bei ihnen übernachtet. Er habe wie ein Familienmitglied im Haus ihrer Eltern gewohnt. Etwa jedes zweite Wochenende hätten sie gemeinsam in der Wohnung des Klägers in B-Stadt verbracht. Sie hätten sich bereits am 04.10.2013 kennengelernt und seien seit dem 10.03.2014 "ein Paar" gewesen.

Weiter hat das Gericht den Bruder der Zeugin D. A., C., als Zeugen vernommen, der die Angaben des Klägers und der Zeugin D. A. bestätigt hat. Weiter hat er ausgeführt, dass der Kläger zur Zeit des Unfalls ganz überwiegend in der Region gearbeitet habe. Die Zeiten, in denen der Kläger öfters die ganze Arbeitswoche auf Montage war, hätten erst nach dem Unfall begonnen.

Zu weiteren Einzelheiten der Aussagen des Klägers und der Zeugen wird auf die Sitzungsniederschrift vom 08.03.2017 Bezug genommen.

Der Kläger ist der Auffassung, dass er zum Zeitpunkt des Unfalls seinen Lebensmittelpunkt in C-Stadt gehabt habe. Er habe sich - wie auch seine Freundin - an den im Haushalt der Familie C. anfallenden Arbeiten beteiligt. Nicht zutreffend sei das Argument des Sozialgerichts, dass er zwar im Haushalt mitversorgt worden sei, sich aber nicht eingebracht habe, wie dies von erwachsenen Kindern zu erwarten sei. Eine solche Erwartungshaltung sei nicht gerechtfertigt, weil bekanntlich eine steigende Zahl in der Ausbildung befindlicher, eigentlich erwachsener Kinder noch zuhause wohne und sich der Annehmlichkeiten des "Hotels Mama" erfreue. Unschädlich sei auch die im gewissen Umfang bestehende Verwurzelung in B-Stadt. Die häufigen Besuche in B-Stadt erklärten sich aus dem Umstand, dass der Kläger in B-Stadt beschäftigt gewesen sei und dass sowohl seine Mutter als auch eine Schwester in B-Stadt gewohnt hätten. Da die Beziehung zur Freundin zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens erst seit einigen Monaten bestanden habe, seien eine weitreichende Bindung zum neuen Wohnort und eine Integration in das dortige Gemeindeleben nicht zu erwarten gewesen. Es sei daher von einer ständigen Familienwohnung in C-Stadt auszugehen.

Die Beklagte hat gegen die Annahme einer gespaltenen Wohnung ausgeführt, dass nur dann von einem geteilten Lebensmittelpunkt gesprochen werden könne, wenn sich beide Teile zu einer Einheit ergänzten und der eine ohne den anderen nicht bestehen könne.

Es gebe auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sich wesentlich in den Haushalt der Familie seiner Freundin eingebracht hätte. Eine hinreichende Bindung zum Wohnort C-Stadt habe es nicht gegeben. Im Unfallzeitpunkt habe der Kläger unter Berücksichtigung der sozialen Kontakte seinen Lebensmittelpunkt in B-Stadt gehabt, da neben der beruflichen Bindung im Betrieb des Bruders weitere familiäre und soziale Bindungen überwiegend bis ausschließlich dort vorlagen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 18.11.2015 und den Bescheid der Beklagten vom 24.03.2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides am 18.06.2015 aufzuheben und festzustellen, dass es sich bei dem Ereignis vom 24.10.2014 um einen Wegeunfall im Sinne des § 8 Abs. 2 SGB VII handelt.

Die Beklagte beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf die Prozessakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogene Akte der Beklagten verwiesen.

Gründe

Die Berufung ist zulässig, insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 143, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG). Die Berufung bedarf gemäß § 144 SGG keiner Zulassung.

Die Berufung ist auch begründet. Zu Unrecht hat das SG die auf Feststellung eines Arbeitsunfalls gerichtete Klage abgewiesen. Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage gemäß § 54 Abs. 1 in Verbindung mit § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG zulässig. Die Klage ist auch begründet, weil der Unfall des Klägers vom 24.10.2014 ein bei der Beklagten versicherter Arbeitsunfall ist.

Rechtsgrundlage für die Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall ist § 8 SGB VII. Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 SGB VII ist ein Arbeitsunfall der Unfall, den ein Versicherter infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleidet. Nach § 8 Abs. 1 Satz 2 SGB VII sind Unfälle zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen. Versicherte Tätigkeiten sind nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII auch das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden unmittelbaren Weges nach und von dem Ort der Tätigkeit. Versichert ist dabei der Weg von der Wohnung zur versicherten Tätigkeit und nach § 8 Abs. 2 Nr. 4 SGB VII das Zurücklegen des mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weges von und nach der ständigen Familienwohnung, wenn die Versicherten wegen der Entfernung ihrer Familienwohnung von dem Ort der Tätigkeit an diesem oder in dessen Nähe eine Unterkunft haben. Dieser Weg beginnt mit Verlassen des häuslichen Wirkungskreises und endet mit dem Erreichen des Betriebsgeländes, in der Regel also mit dem Durchschreiten z.B. eines Eingangstores. Als Grenzpunkt des versicherten Weges ist in Absatz 2 Nr. 1-4 nur der Ort der Tätigkeit, nicht aber der andere Ort genannt. Dieser ist in erster Linie, aber nicht ausschließlich (nämlich vorbehaltlich der Rechtsprechung zum sogenannten "dritten Ort") der Lebensmittelpunkt, also die Wohnung der versicherten Person (Keller in Hauck/ Noftz, SGB, 05/15, § 8 SGB VII Rdnr. 196). Die Rechtsprechung des BSG im Rahmen des § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII zum dritten Ort, wonach auch Wege zur Arbeit von anderen Orten als dem Lebensmittelpunkt aus versichert sein können, wenn der Aufenthalt am dritten Ort länger als 2 Stunden beträgt, kommt vorliegend nicht zum Tragen, da nach dieser Rechtsprechung Voraussetzung für einen Versicherungsschutz ist, dass die Entfernung des "dritten Ortes" zur Arbeitsstelle in einem angemessenen Verhältnis zur üblichen Wegstrecke steht (ständige Rechtsprechung, zum Beispiel BSG, Urteil vom 03.12.2002 Az. B 2 U 18/02 R). Unter diesem Aspekt kann die Wohnung der Freundin in A-Stadt im Vergleich zur Wohnung des Klägers in B-Stadt nicht als geeigneter "dritter Ort" angesehen werden, da die Entfernung zur Arbeit von B-Stadt aus nur 1,6 km und von A-Stadt aus 46 km betrug, sodass von einem "angemessenen Verhältnis" nicht mehr die Rede sein kann.

Zutreffend hat das SG auch ausgeführt, dass keine Familienwohnung im Sinne des § 8 Abs. 2 Nr. 4 SGB VII vorliegt. Nach Auffassung des Senats handelt es sich nämlich bei der Wohnung in B-Stadt nicht lediglich um eine einfache Unterkunft, sondern um eine gleichwertige Wohnung.

Der Versicherungsschutz im Sinne eines Wegeunfalls war jedoch deshalb zu bejahen, weil der Kläger seinen Lebensmittelpunkt und seine Wohnung zum Zeitpunkt des Unfalls nicht nur in B-Stadt, sondern auch bei seiner Freundin in A-Stadt hatte. Er befand sich im Zeitpunkt des Unfalls auch auf dem direkten Weg von der Wohnung in A-Stadt zu seiner Arbeitsstelle in B-Stadt.

Grundsätzlich stellt bei zwei gleichwertigen Wohnungen die näher zum Ort der Tätigkeit gelegene Wohnung den Lebensmittelpunkt des Klägers dar (Wagner, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK- SGB VII, 2. Aufl. 2014, § 8 SGB VII Rz. 239) - hier also die Wohnung des Klägers in B-Stadt.

Der Kläger hatte im Zeitpunkt des streitgegenständlichen Unfalls seinen Lebensmittelpunkt bzw. seine Wohnung sowohl in der von ihm selbst unterhaltenen Wohnung in B-Stadt als auch bei der Familie seiner Freundin in A-Stadt. Der Versicherungsschutz ergibt sich aus den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum sogenannten "erweiterten häuslichen Bereich" (vgl. BSG, Urteil vom 18.10.1994, Az. 2 RU 31/93 = SozR 3-2200 § 550 Nr. 10). Von einem solchen erweiterten häuslichen Bereich spricht das BSG, wenn der Versicherte aus besonderen Gründen, die in seinen familiären Verhältnissen liegen, den Weg zur Arbeit gewöhnlich von wechselnden Ausgangspunkten aus zurücklegen muss, ohne dass einer für sich genommen den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bildet. In einem solchen Fall besteht von jedem dieser Ausgangspunkte aus Versicherungsschutz. Ein solcher "erweiterter häuslicher Bereich" ist z. B. von der Rechtsprechung bejaht worden, wenn sich die wechselnden Ausgangspunkte aus der familiären Situation ergeben, in der sich eine 19-jährige Versicherte langsam von ihrem Elternhaus lösen will und drei Tage pro Woche bei ihren Eltern und an den restlichen Tagen bei ihrem Freund wohnt (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 16.10.1997, L 10 U 851/97, HVBGInfo 1998, S. 30 ff.).

Ein solcher erweiterter häuslicher Bereich, der zur Erweiterung des Versicherungsschutzes in der gesetzlichen Unfallversicherung führt, lag nach der Überzeugung des Senats im Zeitpunkt des Unfalles vor. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und unter Würdigung aller Zeugenaussagen sowie der Schlüssigkeit des Vorbringens des Klägers besteht für den Senat kein vernünftiger Zweifel daran, dass der Kläger und seine damalige Freundin und jetzige Ehefrau D. A. sich am 04.10.2013 kennengelernt hatten und, nachdem sie seit dem 10.03.2014 ein festes Paar bildeten, so viel Zeit wie möglich zusammen verbrachten. Jedes zweite Wochenende übernachtete die Freundin in der Wohnung des Klägers in B-Stadt. Im Übrigen versuchte der Kläger so viel Zeit wie möglich bei seiner Freundin zu Hause in A-Stadt zu verbringen und hatte sich zu diesem Zweck im Mai 2014 ein Auto gekauft. Es bestand hierzu die volle Unterstützung seitens der Familie der Freundin. Wenn er bei der Freundin in A-Stadt übernachtete, was jedenfalls mehrmals wöchentlich der Fall war, fuhr er morgens direkt in die Arbeit. Der Kläger hatte auch einen Teil seiner Kleidung in das Zimmer seiner Freundin verbracht, wo er einen Teil des Schrankes belegte. Er lebte dort wie ein Familienmitglied, indem er dort verköstigt wurde, sich duschte, im Haushalt mithalf, sich seine Wäsche von der Mutter der Freundin waschen ließ usw. Insgesamt ist der Senat der Auffassung, dass der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls mindestens so viel Zeit bei der Freundin in A-Stadt verbrachte wie in seiner eigenen Wohnung in B-Stadt. Diese Verhältnisse waren auf grundsätzlich unbestimmte Zeit angelegt. Dass die Beziehung im Zeitpunkt des Unfalles tatsächlich bereits so eng war wie vom Kläger und allen Zeugen geschildert, wird auch indirekt dadurch bestätigt, dass der Kläger und seine damalige Freundin im Mai 2016 eine gemeinsame Wohnung in A-Stadt nahmen und im weiteren Verlauf des Jahres 2016 heirateten und ein gemeinsames Kind bekamen. Es war nachvollziehbar, dass der Kläger zunächst seine Wohnung in B-Stadt aufrechterhielt, da er nicht wusste, wie sich die künftigen beruflichen Pläne seiner damaligen Freundin, die im Unfallzeitpunkt noch nicht das Abitur hatte, entwickeln würden. Insoweit lag der klassische Anwendungsfall eines sogenannten erweiterten häuslichen Bereichs vor, bei dem die familiären Verhältnisse dazu führen, dass jemand ständig von wechselnden Ausgangspunkten den Weg zur Arbeit antritt. Es lag auch eine typische familiäre Übergangssituation vor, für die eine derartige Erweiterung des Versicherungsschutzes gerechtfertigt ist.

Damit ist der Unfall infolge einer nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 SGB VII versicherten Tätigkeit eingetreten und stellt als sogenannter Wegeunfall einen Arbeitsunfall im Sinne des § 8 SGB VII dar.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG). Die Rechtsprechung zum sogenannten erweiterten häuslichen Bereich stützt sich auf ein vereinzelt gebliebenes älteres Urteil des BSG, sodass die Frage, ob das BSG die damalige Entscheidung fortführt bzw. ausbaut, von grundsätzlicher Bedeutung ist.