VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17
Fundstelle
openJur 2019, 39735
  • Rkr:

1. Ein vorverfolgt ausgereister afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Laghman, bei dem die Vermutung dafür spricht, dass er bei Rückkehr dorthin erneuter Verfolgung ausgesetzt wäre und der verfolgungsbedingt von seiner Frau und den beiden gemeinsamen minderjährigen Kindern getrennt wurde, kann nicht auf die dieser Provinz benachbarte Stadt Kabul als Ort internen Schutzes im Sinne des § 3e AsylG verwiesen werden.

2. Ob gemäß § 3e Abs 1 Nr 2 AsylG von einem Schutzsuchenden vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in einem anderen Landesteil seines Heimatlandes niederzulassen, ist nach wertender Betrachtung unter Berücksichtigung der die Situation vor Ort prägenden Umstände sowie der persönlichen Umstände zu ermitteln.

3. Bei einer verfolgungsbedingten Trennung vom Ehepartner bzw. von gemeinsamen minderjährigen Kindern sind diese Familienangehörigen in die Prüfung einzubeziehen.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21. November 2016 - A 2 K 3113/16 - geändert. Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Versagung der Flüchtlingseigenschaft, des subsidiären Schutzes und die Verneinung nationaler Abschiebungsverbote.

Der nach eigenen Angaben am 17. Oktober 1992 in der Provinz Laghman/Afghanistan geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger islamischen Glaubens vom Volk der Paschai. Er reiste nach eigenen Angaben etwa Anfang Dezember 2015 in die Bundesrepublik ein und beantragte am 9. Dezember 2015 seine Anerkennung als Asylberechtigter.

Im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 14. Dezember 2015 gab der Kläger im Wesentlichen an, er habe sich zuletzt in der Provinz Laghman im Distrikt Alishing, Dara-e-Meh im Dorf T. aufgehalten. Er habe eine Frau und zwei Töchter. Seine Brüder seien bei einer Art Bürgerwehr (Arbaki) gewesen, die mit Unterstützung der Regierung bewaffnet worden sei. Im Dorf seien sie deswegen als Ungläubige und Verräter angesehen worden. Die Taliban hätten seinen Vater aufgefordert, dass seine Söhne dies unterlassen sollten. Eines Tages, als sein Vater wegen des Viehs draußen gewesen sei, sei er von den Taliban erwischt und getötet worden. Nach Auflösung der Arbaki sei ein Bruder nach Pakistan gezogen und zwei lebten im Iran. Er selbst habe nach dem Tod seines Vaters unbedingt zur Armee gehen und seinen Beitrag leisten wollen. Nach 18 Monaten Dienst beim Militär sei er bei einem Angriff der Taliban schwer verletzt worden. Er sei dann sechs Monate im Krankenhaus gelegen und habe sehr viele Operationen hinter sich gebracht. Die Ärzte hätten seinen linken Arm aufgrund der Verletzung amputieren wollen, wogegen er sich aber vehement gewehrt habe. Er habe dann zwei Operationen am linken Arm gehabt. Er habe noch eine Platte im Arm und einen Splitter im Bein. Er habe am ganzen Körper sichtbare Narben. Nachdem er zunächst aus dem Krankenhaus entlassen worden und bei einer Wiedervorstellung unter Verweis auf die fehlende Zuständigkeit nicht mehr aufgenommen worden sei, sei er zunächst zur Ermöglichung seiner Behandlung zu seiner Einheit nach Helmand, dann letztlich aber nach Hause zurück, um seine Verletzungen behandeln zu lassen. Es habe sich dann im Dorf herumgesprochen, dass er ein Ungläubiger sei, weil er als einer der ersten dort für die afghanische Armee gearbeitet habe. Eines Tages sei ein Freund zu ihm gekommen und habe ihm mitgeteilt, Leute hätten beschlossen, ihn zu töten. Er sei mit seiner Familie (seiner Frau, seinen Kindern und einem Bruder) in einem Bunker, wie ihn dort alle Häuser hätten, gewesen. Es seien tatsächlich Granaten in ihr Haus eingeschlagen. Er habe daraufhin seine Frau, seine Kinder und seinen Bruder zu seinem Schwiegervater, dessen Dorf zu Fuß etwa drei Stunden entfernt gelegen sei, gebracht und sei geflüchtet. Im Gegensatz zu seiner Frau, mit der "sie" nicht viel zu tun hätten, wäre er selbst dort nicht sicher gewesen. Er denke, dass er im Falle einer Rückkehr in sein Dorf getötet würde. Hilfe vom Militär, der Regierung oder der Polizei sei nicht zu erwarten. Befragt nach einem etwaigen Umzug an einen anderen Ort, etwa nach Kabul, äußerte der Kläger, sie hätten in einem Dorf in den Bergen gelebt und keine Möglichkeit, in Kabul eine Existenz aufzubauen. Es sei nirgendwo sicher.

Mit Bescheid vom 12. Januar 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter und auch den Antrag auf subsidiären Schutz ab. Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen würden. Der Kläger wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde ihm die Abschiebung nach Afghanistan oder einen anderen Staat, in den er einreisen dürfe oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet sei, angedroht. Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung festgesetzt.

Gegen den am 24. Juni 2016 zugestellten Bescheid erhob der Kläger am 1. Juli 2016 Klage zum Verwaltungsgericht mit dem Ziel der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise des subsidiären Schutzes, höchst hilfsweise der Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots. Er trug vor, er habe bereits in seiner Anhörung vom 14. Dezember 2015 dargelegt, dass er als Soldat der afghanischen Nationalarmee im Kampf schwer verletzt worden sei. Dies sei bei einem Einsatz in der Nähe von Sangin in der Provinz Helmand passiert. Er ordne das Ereignis zeitlich am 15. Tag des Ramadan des Jahres 1393, also etwa Mitte Juli 2014, ein. Einige Zeit später - der Kläger sei nach seiner Verletzung wieder in sein Heimatdorf T. im Distrikt Alishing in der Provinz Laghman zurückgekehrt - sei der Angriff auf sein Haus erfolgt. Die Annahme im angegriffenen Bescheid, zwischen der Gefährdung des Klägers im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan und seiner Tätigkeit als Soldat bestehe kein Kausalzusammenhang, sei lebensfremd. Es sei bekannt, dass die Taliban in ganz Afghanistan hervorragend vernetzt seien. Der Kläger müsse überall in Afghanistan befürchten, wegen seiner Nähe zur afghanischen Regierung von den Taliban verfolgt zu werden. Verfolgungsfreier interner Schutz bestehe nicht.

In der mündlichen Verhandlung vom 21. November 2016 wiederholte der Kläger seine bereits beim Bundesamt getätigten Angaben. Er vertiefte diese dahin, dass es in Sangin Besicz (phonetisch) in Helmand gewesen, wo sie von etwa 2.000 Taliban überfallen worden seien und er verletzt worden sei. Als er nach der Entlassung nach seinem sechsmonatigen Krankenhausaufenthalt zur Nachuntersuchung gegangen sei, hätten sie ihm gesagt, er werde nicht mehr dort behandelt, er solle nach Helmand zu seiner Einheit gehen und sich dort melden. Dann solle er wieder mit einem Schreiben zurückkommen für die Behandlung. Am Flughafen hätten sie ihn nicht mit dem Flugzeug mitnehmen wollen. Er sei mit dem Auto nach Helmand gefahren. Als er angekommen sei, sei er drei Monate dort gewesen. Sie hätten ihn dort vertröstet. Seine Wunde sei sehr schlecht geworden. Sie hätten ihn dort nicht behandeln wollen. Er sei dann zu einem privaten Arzt gegangen, den er aus eigener Tasche bezahlt habe. Als er nach Hause gegangen sei, habe er sich dort versteckt gehalten. Sie hätten mitbekommen gehabt, dass er wieder nach Hause gekommen sei. Dann hätten die Taliban das Haus überfallen. In dem Gebiet, wo sie lebten, seien sie alle Taliban. Vor dem Angriff habe ihn ein Freund informiert. Er habe sich im Keller versteckt. Sie hätten mit einer Granate geschossen. Er habe seine Ehefrau zu seinen Schwiegereltern gebracht. Sie seien noch immer dort. Sie hätten keine Probleme, weil die Taliban von Frauen und Kindern nichts wollten. Angesprochen auf seine Verletzung erklärte der Kläger, selbst gesunde Menschen hätten keine Chance auf Arbeit. Er sei behindert. Wie solle er damit Arbeit finden. Er könne mit der linken Hand keine Tätigkeit ausführen.

Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit Urteil vom 21. November 2016 abgewiesen. In der Begründung ließ es offen, ob die Erzählung des Klägers von dem Angriff auf sein Haus glaubhaft sei und verwies auf die Möglichkeit internen Schutzes, da von einer landesweiten Verfolgung nicht auszugehen sei und vom Kläger erwartet werden könne, dass er sich zum Beispiel in Kabul niederlasse. Obwohl in Kabul eine schwierige humanitäre Lage herrsche, sei der Kläger in der Lage, Gelegenheitsarbeiten zu finden und auszuüben und ggf. unter Inanspruchnahme internationaler Hilfe zumindest ein kleines Einkommen zu erzielen. Mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit könne der Kläger auch damit rechnen, dass ihn die afghanische Armee wieder aufnehme. Dass er verheiratet sei und zwei kleine Kinder habe, stehe nicht entgegen. Es sei zu erwarten, dass die Schwiegereltern des Klägers seine Frau und seine Kinder weiterhin unterstützten. Eine Fernbeziehung zu führen sei ihm angesichts der früheren Tätigkeit bei der Armee und den damit einhergegangenen Trennungen zumutbar. Soweit der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung erstmals vorgebracht habe, er könne wegen seiner Schussverletzung am linken Arm mit diesem keine Tätigkeiten mehr ausführen und habe wegen dieser Behinderung keine Chance, in Afghanistan Arbeit zu finden, sei er mit diesem Einwand präkludiert. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes und die Feststellung nationaler Abschiebungshindernisse verneinte das Gericht ebenfalls.

Auf den Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 24. Februar 2017 die Berufung gegen das Urteil zugelassen.

Auf den am 3. März 2017 zugestellten Beschluss hat der Kläger hat am 27. März 2017 unter Stellung eines Antrags die Berufung begründet. Er vertritt die Auffassung, er habe einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Als Unterstützer der afghanischen Regierung gelte er für die Taliban als Ungläubiger und damit Feind. Er sei im Falle einer Rückkehr nach einem Leben im Westen stigmatisiert. Interner Schutz stehe ihm wegen des weitverzweigten Informantennetzes der Taliban nicht zur Verfügung. Außerdem sei er in Folge seiner Verletzungen nicht in der Lage, sein Existenzminimum zu erwirtschaften. Er müsse im Falle einer Rückkehr eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung fürchten. Die Sicherheitslage in Laghman lasse zudem befürchten, dass der Kläger Opfer willkürlicher Gewalt des auch dort herrschenden bewaffneten Konflikts werde. Es bestehe auch ein Abschiebungsverbot. Der Kläger könne in Afghanistan keiner existenzsichernden Arbeit nachgehen, um einen eigenen Lebensunterhalt zu sichern oder für seine Frau und seine zwei Töchter zu sorgen. Wegen seiner Behinderung am linken Arm sei es ihm unmöglich, wenigstens durch Gelegenheitsarbeit ein zumindest bescheidenes Einkommen zu erzielen. Eine Tätigkeit in der Landwirtschaft, wie er sie vor seinem Eintritt ins Militär ausgeübt habe, sei in besonderem Maße körperlich belastend und erfordere die vollumfängliche Beweglichkeit der Hände. Mangels qualifizierter Berufsausbildung werde er allenfalls körperlichen Hilfsarbeiten nachgehen können. Eine hohe körperliche Belastung werde er nicht durchhalten können.

Zum Beleg seines gesundheitlichen Zustands hat der Kläger den Ausdruck einer Röntgenaufnahme seines linken Unterarms, auf dem eine eingebrachte Platte mit sechs Nägeln zu sehen ist, sowie ein Schreiben der Chefärzte der Handchirurgie der V-Klinik B. vom 30. Januar 2017 vorgelegt, das u.a. die Diagnose einer Läsion am Nervus medianus links nach Schussverletzung mit Verplattung am Radiusschaft enthält. Beschrieben wird u.a. die fehlende Fähigkeit zur aktiven Beugung von Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Vorgelegt hat er außerdem einen ärztlichen Befund des Instituts für Rechtsmedizin und Verkehrsmedizin H. vom 28. März 2017 zur körperlichen Untersuchung des Klägers vom 27. März 2017. Dort wird neben einer Vielzahl von Narben insbesondere auch beschrieben, dass am linken Unterarm eine Narbe mit deutlichen Einziehungen - einem muskulären Defekt - vorhanden sei. Links sei ein vollständiger Faustschluss bei Beeinträchtigung der Beugung von Daumen und Zeigefinger nicht möglich. An Daumen und Zeigefinger werde eine Überempfindlichkeit bei Berührung angegeben. Auch in einem Schreiben der Berufsgenossenschaftlichen Klinik L. (Klinik für Hand-, plastische und rekonstruktive Chirurgie) vom 12. Mai 2017 werden neben persistierenden Gefühlsstörungen endgradige Bewegungseinschränkungen im Bereich des linken Daumens und Zeigefingers mit inkomplettem Faustschluss diagnostiziert.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21. November 2016 - A 2 K 3113/16 - zu ändern und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2016 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger subsidiären Schutz zuzuerkennen,

weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG im Hinblick auf Afghanistan bestehen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung trägt sie unter Darstellung zahlreicher Erkenntnisquellen zur Versorgungssituation, sowie zur wirtschaftlichen und humanitären Lage in Kabul und auch zur Problematik der zahlreichen Rückkehrer aus den Nachbarländern vor und vertritt die Auffassung, die Bedingungen, auf die ein Rückkehrer nach Kabul treffe, seien in Bezug auf den Zugang zu Wasser, Nahrung und Unterkunft nicht derartig schlecht, dass Rückkehrer in schrecklichen humanitären Zuständen existieren müssten.

Dem Senat liegen die verfahrensbezogenen Akten des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge sowie die des Verwaltungsgerichts vor. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf diese Akten, die im Verfahren gewechselten Schriftsätze, die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel und die Niederschrift zur mündlichen Verhandlung verwiesen.

Gründe

Die zulässige Berufung des Klägers hat Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat seine Klage zu Unrecht abgewiesen.

Der Kläger hat in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

1. Rechtsgrundlage für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind die Vorschriften der §§ 3 bis 3e AsylG.

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention GFK - (BGBl 1953 II S. 559), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugungen oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.

a) Nach § 3a Abs. 1 AsylG (vgl. auch Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.12.2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl EU L 337/9, kurz auch Anerkennungs-/Qualifikationsrichtlinie; im Folgenden RL 2011/95/EU) gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die 1. auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder 2. in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist. Nach § 3a Abs. 2 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU) können als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG u. a. gelten: 1. die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, 2. gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden, 3. unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung, 4. Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung, 5. Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen, 6. Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind. Nach § 3a Abs. 3 AsylG (vgl. Art. 9 Abs. 3 RL 2011/95/EU) muss zwischen den in § 3 Abs. 1 Nummer 1 in Verbindung mit den in § 3b genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen eine Verknüpfung bestehen.

Die Feststellung einer Verfolgungshandlung nach § 3a AsylG setzt voraus, dass das Verhalten des betreffenden Akteurs im Sinne einer objektiven Gerichtetheit auf die Verletzung eines nach der Vorschrift geschützten Rechtsguts selbst zielt.

BVerwG, Urteil vom 21.04.2009 - 10 C 11.08 -, NVwZ 2009, 1237 Rn. 13 und vom 19.01.2009 -10 C 52.07 -, NVwZ 2009, 982 Rn. 23 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 39 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 26.

b) Die Verfolgung kann nach § 3c AsylG (vgl. Art. 6 RL 2011/95/EU) ausgehen von 1. dem Staat, 2. Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, oder 3. nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in den Nummern 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG (vgl. Art. 7 RL 2011/95/EU) Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht.

c) Für die Beurteilung der Frage, ob die Furcht vor Verfolgung begründet ist, gilt der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Die relevanten Rechtsgutsverletzungen müssen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.

Dieser aus dem Tatbestandsmerkmal "aus der begründeten Furcht vor Verfolgung" des Art. 2d RL 2011/95/EU abzuleitende Maßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt ("real risk"); dieser Maßstab ist kein anderer als der der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.

BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32.

Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des gesamten zur Prüfung gestellten und relevanten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende bzw. bewertende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung erforderlich. Entscheidend ist, ob aus der Sicht eines vernünftig denkenden und nicht übertrieben furchtsamen Menschen gerade in der Lage des konkreten Asylsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar einzuschätzen ist. Unzumutbar kann eine Rückkehr in den Heimatstaat auch dann sein, wenn ein mathematischer Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 Prozent für eine politische Verfolgung gegeben ist. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben jedoch die Gesamtumstände des Falls die tatsächliche Gefahr (sog. "real risk") einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine eher geringere mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, kann es auch aus der Sicht eines besonnenen Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen ganz erheblichen Unterschied bedeuten, ob er z. B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber Folter oder gar die Todesstrafe riskiert. Auch gilt: Je unabwendbarer eine drohende Verfolgung erscheint, desto unmittelbarer steht sie bevor. Je schwerer der befürchtete Verfolgungseingriff ist, desto weniger kann es dem Gefährdeten zugemutet werden, mit der Flucht zuzuwarten, bis der Verfolger gewissermaßen unmittelbar vor der Tür steht. Das gilt auch dann, wenn der Eintritt der befürchteten Verfolgung von reiner Willkür abhängt, das befürchtete Ereignis somit im Grunde jederzeit eintreten kann, ohne dass allerdings im Einzelfall immer gesagt werden könnte, dass dessen Eintritt zeitlich in nächster Nähe bevorsteht. Die allgemeinen Begleitumstände, z.B. eine Willkürpraxis, die Repressionsmethoden gegen bestimmte oppositionelle oder verwundbare Gruppen, sind allgemeine Prognosetatsachen.

VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 25, vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 40 und vom 03.11.2016 - A 9 S 303/15 -, Asylmagazin 2016, 232, juris Rn. 32.

Für die Beurteilung sind alle Akte zu berücksichtigen und einzustellen, denen der Ausländer ausgesetzt war oder die ihm gedroht hatten, um festzustellen, ob unter Berücksichtigung seiner persönlichen Umstände diese Handlungen als Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU gelten können.

Zur Erstellung der erforderlichen Prognose sind objektiviert die Prognosetatsachen nach den allgemeinen Maßstäben des verwaltungsverfahrensrechtlichen und verwaltungsgerichtlichen Regelbeweismaßes der Überzeugungsgewissheit zu ermitteln und festzustellen. Diese Tatsachen liegen regelmäßig teils in der Vergangenheit, teils in der Gegenwart. Sie müssen sodann in einer Gesamtschau verknüpft und gewissermaßen in die Zukunft projiziert werden. Auch wenn insoweit - wie sich bereits aus dem Gefahrbegriff ergibt - eine beachtliche Wahrscheinlichkeit ausreicht und deshalb ein "voller Beweis" nicht erbracht werden kann, ändert dies nichts daran, dass das Gericht von der Richtigkeit seiner verfahrensfehlerfrei gewonnenen Prognose drohender Verfolgung die volle Überzeugung gewonnen haben muss.

VGH Bad.-Württ., Urteile vom 30.05.2017 - A 9 S 991/15 -, juris Rn. 27 und vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, juris Rn. 42.

Der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab ist unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise verfolgt worden ist.

BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, NVwZ 2013, 936 Rn. 32 und vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, NVwZ 2011, 1463 Rn. 22; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -; vom 18.04.2017 - A 9 S 333/17 -, Asylmagazin 2017, 197, juris Rn. 43 und vom 27.08.2014 - A 11 S 1128/14 -, Asylmagazin 2014, 389, juris Rn. 34 m.w.N.

Die Tatsache, dass ein Ausländer bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden ernsthaft bedroht war, ist allerdings ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Ausländers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden (vgl. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU); es besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Den in der Vergangenheit liegenden Umständen wird Beweiskraft für ihre Wiederholung in der Zukunft beigelegt. Dadurch wird der Vorverfolgte bzw. Geschädigte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden bzw. schadenstiftenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann aber widerlegt werden; hierfür ist erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung bzw. des Eintritts eines solchen Schadens entkräften.

d) Die Flüchtlingseigenschaft wird nicht zuerkannt, wenn eine interne Schutzmöglichkeit besteht, was voraussetzt, dass der betroffene Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e AsylG) (dazu im Weiteren unter 3.).

e) Das Gericht trifft seine Entscheidung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Auch im Asylverfahren muss die danach gebotene Überzeugungsgewissheit dergestalt bestehen, dass das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit (nicht etwa nur von der Wahrscheinlichkeit) des vom Kläger behaupteten individuellen Verfolgungsschicksals erlangt hat. Wegen des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich der Betroffene insbesondere hinsichtlich der von ihm vorgetragenen Vorgänge im Heimat-, also im "Verfolgerland" vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel die Glaubhaftmachung, wodurch allerdings das Gericht nicht von einer Überzeugungsbildung im Sinne des § 108 Abs. 1 VwGO enthoben ist. Vielmehr darf das Gericht keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen. Es muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit begnügen, der den Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind.

Neben der bereits beschriebenen Besonderheit auf dem Gebiet des Beweismaßes (beachtliche Wahrscheinlichkeit, s.o. lit c)) ist im Flüchtlingsrecht daher auch die Modifikation im Bereich des Beweismittel zu beachten: Unter Berücksichtigung des beschriebenen Beweisnotstands kommt dem persönlichen Vorbringen des Klägers und dessen Würdigung gesteigerte Bedeutung zu, weswegen allein der Tatsachenvortrag des Asylsuchenden zum Erfolg der Klage führen kann, sofern seine Behauptungen unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände in dem Sinne "glaubhaft" sind, dass sich das Gericht von ihrer Wahrheit überzeugen kann.

Grundlegend: BVerwG, Urteile vom 16.04.1985 - 9 C 109.84 -, NVwZ 1985, 567, juris Rn. 16 und vom 29.11.1977 - I C 33.71 -, juris, beide m.w.N.; außerdem: BVerwG, Beschlüsse vom 08.02.2011 - 10 B 1.11 -, NVwZ-RR 2011, 382 und vom 08.03.2007 - 1 B 101.06 -, BeckRS 2007, 22701; vgl. dazu auch Stuhlfauth, in: Bader, u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 108 VwGO Rn. 8, m.w.N.

So sieht auch Art. 4 Abs. 5 RL 2011/95/EU unter bestimmten Umständen vor, dass die Einlassung des Schutzsuchenden ausreichend sein kann und es keiner Nachweise seiner Aussagen bedarf. Und zwar dann, wenn dieser sich offenkundig bemüht hat, seinen Antrag zu begründen, alle ihm verfügbaren Anhaltspunkte vorliegen, und er eine hinreichende Erklärung für das Fehlen anderer relevanter Anhaltspunkte gegeben hat, festgestellt wurde, dass seine Aussagen kohärent und plausibel sind und sie zu den für seinen Fall relevanten, verfügbaren besonderen und allgemeinen Informationen nicht in Widerspruch stehen, er internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt beantragt hat (es sei denn, er kann gute Gründe dafür vorbringen, dass dies nicht möglich war) und schließlich auch seine generelle Glaubwürdigkeit festgestellt worden ist.

Vgl. dazu EuGH, Urteil vom 22.11.2012 - C-277/11 - (M.M./Irland), NVwZ 2013, 59.

Es ist demzufolge zunächst Sache des Schutzsuchenden, die Gründe für seine Furcht vor Verfolgung schlüssig vorzutragen. Dazu hat er unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei verständiger Würdigung ergibt, dass ihm in seinem Heimatstaat Verfolgung droht. Hierzu gehört, dass er zu den in seine Sphäre fallenden Ereignissen, insbesondere zu seinen persönlichen Erlebnissen, eine Schilderung gibt, die geeignet ist, den behaupteten Anspruch lückenlos zu tragen. Erhebliche Widersprüche und Unstimmigkeiten im Vorbringen können dem entgegenstehen, es sei denn, diese können überzeugend aufgelöst werden. Bei der Bewertung der Stimmigkeit des Sachverhalts müssen u.a. Persönlichkeitsstruktur, Wissensstand und Herkunft des Schutzsuchenden berücksichtigt werden.

Dazu BVerwG, Beschluss vom 21.07.1989 - 9 B 239.89 -, NVwZ 1990, 171, juris Rn. 3 und 4 sowie auch OVG NRW, Urteil vom 02.07.2013 - 8 A 2632/06.A -, BeckRS 2013, 55090 juris Rn. 59.

Mit anderen Worten: Für die richterliche Überzeugungsbildung ist eine bewertende Gesamtschau des gesamten Vorbringens des Schutzsuchenden unter Berücksichtigung seiner individuellen Aussagekompetenz und seiner Glaubwürdigkeit erforderlich, die die Stimmigkeit des Vorbringens an sich, dessen Detailtiefe und Individualität, sowie dessen Übereinstimmung mit den relevanten und verfügbaren Erkenntnismitteln ebenso berücksichtigt wie die Plausibilität des Vorbringens, an der es etwa fehlen kann, wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen oder unterbleiben, falsche oder missverständliche Urkunden nicht erklärt werden können bzw. wenn Beweise oder Vorbringen ohne nachvollziehbaren Grund verspätet vorgebracht werden.

Vgl. insgesamt auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 19.04.2017 - A 11 S 1411/16 -, BeckRS 2017, 127389 Rn. 23 ff. sowie International Association of Refugee Law Judges, Assessment of Credibility in Refugee and Subsidiary Protection claims under the EU Qualification Directive, Judicial criteria and standards, https://www.iarlj.org/images/stories/Credo/Credo_Paper_March 2013-rev1.pdf, Seite 33 f.).

2. Gemessen an diesen Grundsätzen ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes befindet. Dem vorverfolgten Kläger droht in Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung und er wird dort nach Überzeugung des Senats keinen internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG finden können (dazu unter 3.).

Die Schilderungen des Klägers vor dem Senat waren insgesamt, also auch, soweit sie allgemein seinen Werdegang in der afghanischen Armee, die im Kampfeinsatz erlittenen Verwundungen sowie die daraufhin folgenden Behandlungen, und das Folgegeschehen betrafen, für den Senat glaubhaft. Dies gilt auch, soweit der Kläger geschildert hat, dass Mitglieder der Taliban oder jedenfalls ihnen nahestehende regierungsfeindliche Kräfte das Haus seiner Familie auf Grund seiner Tätigkeit in der afghanischen Nationalarmee und der hieraus geschlossenen Nähe zur afghanischen Regierung angegriffen und zerstört haben und seine Tötung erreichen wollten.

Im Einzelnen:

Nach der glaubhaften Schilderung des Klägers war es bereits in der Vergangenheit zu Konflikten zwischen seinem Vater sowie seinen älteren Brüdern und regierungsfeindlichen Kräften gekommen, u.a. weil die Brüder des Klägers auf Betreiben des Vaters bei den Arbaki aktiv waren. Unter der Bezeichnung Arbaki werden lokal organisierte Sicherheitsgruppen zusammengefasst, also Kampftruppen auf Stammes- oder Gemeindeebene. Verschiedene solcher paramilitärischer Initiativen wurden zur Unterstützung der afghanischen Regierung und der offiziellen bewaffneten Kräfte Afghanistans (aus)gebildet und offiziell anerkannt. Immer wieder wurde ihnen auch eine offizielle Funktion im Sicherheitsapparat der Regierung zugebilligt.

Zu den Arbaki: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Recruitment by armed groups (September 2016), S. 33; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (Januar 2016), S. 7 und 18 m.w.N.; vgl. zur undifferenzierten Bezeichnung verschiedener Aufstands- und lokaler Verteidigungskräfte, die als Anti-Taliban-Kräfte entstanden und vom Staat "adoptiert" wurden, als Arbaki: Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 19.

Nachvollziehbar und glaubhaft ist daher auch die Schilderung des Klägers, schon damals sei seiner Familie durch "das Dorf" vorgeworfen worden, sie seien "Gottlose", weil sie sich für die Regierung einsetzten.

Keine Zweifel hat der Senat auch hinsichtlich des weiteren Vortrags, wonach der Vater des Klägers erschossen worden sei. Der Kläger hat dazu weiter geschildert, im Dorf habe man später erzählt, es seien die Taliban gewesen. Ob angesichts dessen schon dieser Vorfall im Zusammenhang mit dem Vorwurf der Regierungsnähe eines Mitglieds der Familie des Klägers (des Vaters) stand oder ob eine "unpolitische" Ursache vorlag, ist im Hinblick auf die vom Kläger selbst als Vermutung und Gerüchte beschriebenen Hintergründe nicht klar. Dies bedarf aber auch keiner Entscheidung, da es dabei nicht um eine gegen den Kläger selbst gerichtete Handlung geht.

Der Kläger hat im Rahmen seiner Anhörung durch den Senat nochmals ausführlich geschildert, wie er sich nach dem Tod seines Vaters und nach dem Wegzug seiner älteren Brüder nach Pakistan und in den Iran im Jahr 1392 (also 2013) im Alter von 20 Jahren entschlossen hatte, in die afghanische Nationalarmee einzutreten, sich hierfür eine Tazkira in der Bezirksstadt besorgte, sich in Laghman vorstellte, dann zunächst nach Kabul geschickt wurde und anschließend in Sharabak in der Provinz Helmand drei Monate seine militärische Ausbildung absolvierte. Bei seinem anschließenden Einsatz in Sangin in Helmand sei er nach etwa zehn oder elf Monaten verletzt worden. Auch an dieser Schilderung, die der Kläger auch hinsichtlich des Ablaufs und der Orts- und Personennamen in den verschiedenen Anhörung kontinuierlich und detailliert beschrieben hat, hat der Senat keine Zweifel. Dies gilt gerade auch für die vom Kläger beschriebenen Verletzungen, von denen er zahlreiche Narben und auch eine Plattenosteosynthese im linken Arm zurückbehalten hat.

Vgl. dazu auch die eingereichten Unterlagen zu den Feststellungen des heutigen Gesundheitszustands des Klägers, insbesondere der Arztbrief vom 30. Januar 2017 (Bl. 117 der Gerichtsakten); der Bericht zur rechtsmedizinischen körperlichen Untersuchung vom 28. März 2017 (Bl. 125), der Arztbrief vom 12. Mai 2017 (Bl. 261 f. der Gerichtsakten) sowie auch der Screenshot der Röntgenaufnahme vom 14. Dezember 2016 (Bl. 139 der Gerichtsakte).

Zur Überzeugung des Senats steht weiter fest, dass der Kläger insgesamt ungefähr sechs Monate in Kandahar und in Kabul behandelt wurde, zunächst in einem US-amerikanischen Krankenhaus und dann durch "die Regierung", u.a. im afghanischen Militärkrankenhaus in Kabul, dem sogenannten "400-Betten-Krankenhaus". Die ausführlichen Schilderungen des Klägers zu den Umständen seiner Verwundungen und den nachfolgenden Behandlungen waren detailreich und umfassten geschilderte Komplikationen, so etwa hinsichtlich der drohenden Amputation, der Verlegung in ein anderes Krankenhaus wegen des Wechsels der Behandlungszuständigkeit und auch bezüglich seines Wartens auf seine Entlassung aus dem Militärdienst im Militärstützpunkt. Gleiches gilt für seine Ausführungen zu einem von ihm vorgelegten digitalen Foto, das ihn in Uniform auf einer Bankkarte zeigt, die ihm sein Kommandeur ins Krankenhaus mitgebracht habe. Bei einer bloß erfundenen Geschichte wären weder derartige Komplikationen zu erwarten gewesen noch wäre es dem Kläger gelungen, diese derart detailreich und ohne Strukturbrüche lebendig zu schildern.

Nach der glaubhaften, widerspruchsfreien, konsistenten und detaillierten Darstellung des Klägers hatte er - angesichts der Vorgeschichte und der Verquickung der Dorfbewohner mit den Taliban nachvollziehbar - Sorge und kehrte deswegen heimlich in sein Heimatdorf zurück, wo dann sein Haus gezielt mit Raketen beschossen und infolge des Angriffs zerstört wurde. Er konnte physischen Schaden von sich selbst und seiner Familie nur abwenden, weil er durch einen Freund dahingehend vorgewarnt worden war, dass die Leute von seiner Rückkehr erfahren hätten und sein Haus angegriffen werde. Der Senat hat keine Anhaltspunkte dahin, dass rein zufällig nach der Vorwarnung durch den Bekannten des Klägers just an diesem Abend gerade das Haus des Klägers - ohne Zusammenhang mit den schon seit längerem bestehenden Spannungen und der Rückkehr des Klägers von seinem Einsatz als Soldat für den afghanischen Staat - Ziel eines so gravierenden Angriffs geworden sein soll, der die Zerstörung des Hauses zur Folge hatte. So bestand auf Grund der vom Kläger glaubhaft geschilderten Dominanz regierungsfeindlicher Kräfte nicht etwa Anlass zu einem Angriff auf das Dorf, um dort die militärische Kontrolle zu erlangen oder zu festigen oder auch nur die allgemeine Einschüchterung der Dorfbewohner zu bewirken, da dies längst erreicht war.

Insgesamt zeigte sich in der Anhörung des Klägers, dass dieser bei strukturgleicher Schilderung und mitschwingender Erzählung jederzeit in der Lage war, auch bei chronologischen Sprüngen weiterhin lebensnah zu berichten, weswegen der Senat vom vorstehenden Geschehensablauf überzeugt ist. Der Kläger hat dem Senat in Übereinstimmung mit seinen bereits beim Bundesamt und in der informatorischen Anhörung beim Verwaltungsgericht getätigten Angaben detailliert die Ereignisse und Hintergründe beschrieben, die schließlich in dem Angriff auf ihn und seine Familie in dem von ihnen bewohnten Haus mündeten. Dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung - nicht zuletzt auch auf entsprechende Fragen des Senats - sein früheres Vorbringen vertieft hat, steht dem nicht entgegen. Denn es haben sich keine Widersprüche ergeben, die die Glaubwürdigkeit des Klägers hätten in Frage stellen können.

Der Kläger war daher vor seiner Flucht aus Afghanistan einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung ausgesetzt, nämlich der Anwendung physischer Gewalt (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 AsylG) in Gestalt des Angriffs auf sein Haus, ihn selbst und seine Familie. Diese Vorverfolgung des Kläger beruhte auch auf einem flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsgrund, nämlich auf der vom Kläger in der Verhandlung geschilderten politischen Überzeugung (§§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 4, 3b Abs. 2 AsylG) ("Ich wollte Gutes für mein Land bewirken"), die durch seinen Eintritt in die afghanische Armee auch zum Ausdruck gekommen war. Wie vorstehend bereits ausgeführt besteht zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund die erforderliche Verknüpfung, da es sich angesichts der Vorgeschichte des Klägers, der vorhergehenden Warnung und dem gezielten Angriff gerade auf das Haus des Klägers nach Überzeugung des Senats nicht bloß um einen Zufall handelte, sondern der Angriff gerade dem politisch missliebigen Kläger galt.

Eine andere Beurteilung ist nicht deswegen angezeigt, weil der Kläger Soldat der afghanischen Nationalarmee war. Insoweit ist festzuhalten, dass die vorliegend relevante Verfolgungshandlung nicht etwa die Tätigkeit des Klägers als Soldat (beispielsweise eine Verletzung im Rahmen von Kampfhandlungen) betrifft. Vielmehr handelt es sich um eine individuell gegen den Kläger als Person gerichtete Verfolgung im privaten Leben, die ferner zu einem Zeitpunkt erfolgte, zu dem ihm nach seinen glaubhaften Angaben nach seiner Verletzung bereits seine Ausmusterung mitgeteilt worden war.

Die Verfolgung des Klägers ging von nichtstaatlichen Akteuren im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG aus, nämlich von Taliban oder jedenfalls von diesen nahestehenden Kräften

- zur weitreichenden Sammelbezeichnung "Taliban", der eine heterogene Mischung von Splittergruppen und -interessen umfasst: ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, 26 f. -

und der afghanische Staat wie auch die sonstigen, in § 3d AsylG genannten Schutzakteure sind nicht in der Lage, den Kläger vor weiterer Verfolgung durch diese zu schützen. Denn nach § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG ist ein Schutz vor Verfolgung generell dann gewährleistet, wenn die Schutzakteure geeignete Schritte einleiten, um Verfolgung zu verhindern, u.a. etwa durch Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen. Dies ist in Afghanistan allerdings nicht gesichert. Denn infolge der sich im Zuge der Übergabe der Sicherheitsverantwortung von den ISAF-Truppen an die afghanischen Sicherheitskräfte verschlechternden Sicherheitslage in allen Regionen Afghanistans bei gleichzeitigem Erstarken der regierungsfeindlichen Kräfte konnte der Kläger in seiner Heimatregion keinen wirksamen Schutz von staatlichen Sicherheitskräften oder internationalen Organisationen erhalten und wird dies auch im Falle einer Rückkehr nicht können.

Zum begrenzten Einfluss der Zentralregierung und zum Fehlen von Sanktionen infolge des schwachen Verwaltungs- und Rechtswesens: Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 11/Rn. 40 - sowie Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 17; insgesamt m.w.N. auch: Stahlmann, Bedrohung im sozialen Alltag Afghanistans - Der fehlende Schutz bei Verfolgung und Gewalt durch private Akteure, Asylmagazin 2017/3, 82 ff.

So ist gerade die Heimatprovinz der Klägers, Laghman, noch immer Schauplatz zahlreicher Auseinandersetzungen zwischen den Sicherheitskräften und regierungsfeindlichen Kräften (insbesondere den Taliban), sowie Anschlägen auf Mitglieder staatlicher Sicherheitskräfte (beispielsweise einen stellvertretenden Distriktpolizeikommandanten, auf einfache Polizisten, auf ein Polizeifahrzeug usw.).

Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 6/Rn. 21 und S. 7/Rn. 24; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 111. Accord, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Provinz Laghman, Distrikt Alingar, 10.06.2016;zu den Aktivitäten der IS-/Daesh-Splittergruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province) in Laghman: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 23.

Der Kläger ist daher vorverfolgt aus Afghanistan geflohen und kann infolgedessen die Vermutung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU für sich in Anspruch nehmen.

Diese Vermutung ist auch nicht widerlegt. Hierfür wäre erforderlich, dass stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgung entkräften. Solche Gründe liegen aber nicht vor. Insbesondere ist dies nicht aus dem Umstand, dass die Ehefrau und die Kinder des Klägers nach seinen Angaben bislang an ihrem derzeitigen Aufenthaltsort beim Vater der Ehefrau im etwa drei Stunden Fußmarsch vom Heimatdorf des Klägers entfernten Dorf A. nicht angegriffen wurden, herzuleiten.

Dass regierungsfeindliche Kräfte durchaus auch gegen Familienangehörige tatsächlich oder vermeintlich regierungsnaher oder mit der internationalen Gemeinschaft verbundenen Personen nach dem Prinzip einer Sippenhaft vorgehen,

- vgl. etwa UNCHR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 47 -

erlaubt nicht etwa im Umkehrschluss die Folgerung, ein Ausbleiben einer entsprechenden Racheaktion bedeute, dass demjenigen, der von regierungsfeindlichen Kräften vorverfolgt wurde, keine Gefahr mehr droht und entsprechend erneute Übergriffe auf ihn ausgeschlossen wären. Denn das Verhalten regierungsfeindlicher Kräfte folgt insoweit keinem erkennbaren Muster und deren künftiges Handeln ist nicht stringent und daher nicht stets vorhersehbar.

Zu den diversen, nicht vorhersehbaren Handlungsweisen und wechselnden Bekundungen beispielsweise durch die Taliban bei allgemeinen Machtdemonstrationen und Angriffen auf ziviles Leben zum einen und Verfolgung von Gegnern zum anderen: Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 2017/5-6, 189 (194 ff.); Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 13; UNCHR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S.47; UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 42 f.; UNAMA, Annual Report 2016: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Februar 2017, S. 27 und 74.

Daher ist auch der Umstand, dass seine aus dem Heimatdorf des Klägers weggezogene Familie von Übergriffen verschont geblieben ist, nicht geeignet, die auf den Kläger bezogene Vermutung weiterer Verfolgung zu widerlegen.

3. Dem Kläger steht auch kein interner Schutz nach § 3e AsylG vor der somit im Fall einer Rückkehr zu erwartenden weiteren Verfolgung zur Verfügung.

Gemäß § 3e Abs. 1 AsylG wird die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn der betroffene Ausländer in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat (Nr. 1) und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (Nr. 2).

Eine solche Möglichkeit internen Schutzes besteht für den Kläger und seine Familie, die in die Beurteilung mit einzubeziehen ist, allerdings nicht. Denn die rechtlichen Anforderungen des § 3e AsylG (a)) sind angesichts der in Kabul herrschenden allgemeinen Gegebenheiten und tatsächlichen Verhältnisse (b)) und unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Klägers (c)) nicht gegeben. Denn die Existenz des Klägers, seiner Frau und der beiden minderjährigen Kinder, die sich derzeit wegen der fluchtbegründenden Ereignisse bei den Schwiegereltern des Klägers aufhalten, wäre in Kabul nicht gesichert.

a) Der von der Beklagten vertretenen Auffassung, die Stadt Kabul böte internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG, trifft nicht zu, da es jedenfalls am letztgenannten Kriterium - den Voraussetzungen des § 3e Abs. 1 Nr. 2 letzte Var. AsylG - fehlt. Es kann von ihm nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich mit seiner Frau und den beiden minderjährigen Kindern in Kabul niederlässt.

Ob die Voraussetzungen dafür, dass vernünftigerweise erwartet werden kann, sich an einem Ort als interne Schutzalternative niederzulassen, vorliegen, bedarf der Prüfung im Einzelfall unter Berücksichtigung objektiver Gesichtspunkte (darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung sowie die Sicherheitslage am Ort des internen Schutzes) und subjektiver Umstände (etwa Alter, Geschlecht, familiärer und biographischer Hintergrund einschließlich einer ggf. bestehenden Vorverfolgungssituation, Gesundheitszustand, finanzielle Situation bezogen auf Vermögen und Erwerbsmöglichkeiten sowie Leistungen aus Hilfsangeboten für Rückkehrer, Fähigkeiten/Ausbildung/Berufserfahrung, das Vorhandensein von tragfähigen Beziehungen/Netzwerken am Ort des internen Schutzes, Kenntnisse zumindest einer der am Ort des internen Schutzes gesprochenen Sprache, sowie ggf. auch die Volkszugehörigkeit u.a.).

Vgl. dazu auch Art. 4 Abs. 3 lit. c RL 2011/95/EU sowie auch VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.04.2016 - A 3 S 961/15 -, juris; vgl. auch zur Frage besonderer Schutzbedürftigkeit: Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen, kurz: Aufnahmerichtlinie.

Bei dieser Beurteilung ist neben der Sicherheit vor flüchtlingsrechtlich relevanter Verfolgung (dazu schon § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) bzw. vergleichbaren Bedrohungen auch der Umstand von Bedeutung, ob bzw. inwieweit jenseits dessen am Ort des internen Schutzes die Existenzsicherung des Betroffenen gewährleistet ist.

aa) Eine Existenzsicherung muss dabei zumindest soweit gegeben sein, dass der Betroffene auf Basis der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, also wenigstens das Existenzminimum gewährleistet ist, wobei dieser Zumutbarkeitsmaßstab über das Fehlen einer im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beachtlichen existentiellen Notlage hinausgeht.

BVerwG, Urteile vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - NVwZ 2013, 1167 Rn. 20; vom 05.05.2009 - 10 C 19.08 - BeckRS 2009, 36674 Rn. 16 sowie vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 - NVwZ 2008, 1246 Rn. 30 bis 32 und 35, jeweils zu Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG sowie Beschluss vom 14.11.2012 - 10 B 22.12 - NVwZ 2013, 282 Rn. 9.

Interner Schutz scheidet aus, wenn die Situation am vermeintlichen Schutzort einen Verstoß gegen § 4 Abs. 1 AsylG oder Art. 3 EMRK bedeuten würde.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 -, NVwZ 2013, 1167 Rn. 14 dazu, dass Art. 8 RL 2004/83/EG (die Vorgängernorm des Art. 8 RL 2011/95/EU) einschränkende Voraussetzungen (also weitergehende Anforderung) im Vergleich zu denen des subsidiären Schutzes beinhaltet (dort zum innerstaatlichen bewaffneten Konflikt); zur Gefahr des "Leerlaufens" der Bestimmungen über den internen Schutz im Falle niedrigerer Anforderungen: Berlit, jurisPR-BVerwG 10/2013 Anm. 3; vgl. auch Marx, Interner Schutz von Flüchtlingen nach Art. 1 A Nr. 2 GFK (Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU), ZAR 2017/8, 304 ff.; insbesondere S. 306, wonach eine Niederlassung am Ausweichort stets unzumutbar ist, wenn dort eine Art. 3 EMRK zuwiderlaufende Gefahrenlage vorherrscht.

Ausgehend von diesen Mindestanforderungen bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen das wirtschaftliche Existenzminimum in aller Regel dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können. Zu den danach zumutbaren Arbeiten gehören auch Tätigkeiten, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können. Nicht zumutbar sind hingegen die entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder Teilnahme an Verbrechen besteht.

BVerwG, Urteil vom 01.02.2007 - 1 C 24.06 -, NVwZ 2007, 590 Rn. m.w.N. 11 m.w.N. sowie Beschluss vom 17.05.2005 - 1 B 100.05 - juris Rn. 11; BVerwG,; vgl. auch jüngst wieder VGH Bad.-Württ., Urteil vom 06.04.2016 - A 3 S 961/15 -, juris.

So soll die Gewährleistung dieser Lebensbedingungen verhindern, dass der Betroffene sich letztlich gezwungen sieht, doch wieder seine Herkunftsregion aufzusuchen und sich damit gerade den Gefährdungen auszusetzen, wegen derer er zuvor auf die Möglichkeit internen Schutzes verwiesen worden war. Die entsprechenden Anforderungen dienen damit der Wahrung von Art. 33 GFK. Denn dieser verbietet Maßnahmen, die in irgendeiner Weise zu Refoulementgefahren führen (also gerade auch die Rückführung in unsichere Gebiete und Gebiete, in denen unzumutbare Lebensbedingungen bestehen).

Vgl. dazu Marx, Interner Schutz von Flüchtlingen nach Art. 1 A Nr. 2 GFK (Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU), ZAR 2017/8, 304 ff.; insbesondere S. 306 f. m.w.N.

bb) Ob ein Ort zumutbaren internen Schutz bietet, ist grundsätzlich unabhängig von den Verhältnissen am Heimat- bzw. Verfolgungsort des Betroffenen zu beurteilen.

Fehlt es etwa an der Existenzgrundlage am Zufluchtsort, scheidet interner Schutz auch dann aus, wenn im Herkunftsgebiet des Betroffenen die Lebensverhältnisse gleichermaßen schlecht sind.

BVerwG, Urteil vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 -, NVwZ 2008, 1246, Rn. 32.

So wie dem Betroffenen demnach eine schlechte Lage in seinem Herkunftsgebiet (also am Ort der Verfolgung) nicht zum Nachteil gereichen darf, kann er allerdings auch nicht umgekehrt verlangen, dass die allgemeinen Lebensverhältnisse am Ort des internen Schutzes in jedem Fall besser sein müssen, als die am Ort der Verfolgung.

cc) Ob darüber hinaus auch wirtschaftliche und soziale Verhältnisse über die Gewährung des Existenzminimums hinaus zu berücksichtigen sind, dass nämlich insbesondere auch die allgemeinen Gegebenheiten - oberhalb der Schwelle des wirtschaftlichen Existenzminimums - den Zumutbarkeitsmaßstab prägen,

- offengelassen durch das BVerwG, Urteile vom 31.01.2013 - 10 C 15.12 - Rn. 19 f. und vom 29.05.2008 - 10 C 11.07 -Rn. 35 sowie auch Beschlüsse vom 14.11.2012 - 10 B 22/12 -, juris Rn. 9 und vom 27.01.2009 - 10 B 56.08 -, juris Rn. 7; bejahend: OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, juris Rn. 189 ff. sowie die hierauf folgenden dessen Beschlüsse vom 08.05.2015 - 13 A 949/15.A -, juris Rn. 18 ff., vom 20.07.2015 - 13 A 1531/15.A -, juris Rn. 8 ff. und vom 06.06.2016 - 13 A 1882/15.A -, juris Rn. 8 f. -; VGH Bad.-Württ., Urteile vom 06.03.2012 - A 11 S 3177/11 -, juris Rn. 30- und - A 11 S 3070/11 -, juris Rn. 27, -; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 3e AsylG Rn. 3; OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 - und Beschluss vom 06.06.2016 - 13 A 1882/15.A -, juris Rn. 4 ff. sowie wohl auch HessVGH, Urteil vom 25.08.2011 - 8 A 1657/10.A - juris Rn. 91 zur andernfalls auftretenden Problematik, dass der richtlinienkonforme Ausschluss der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG a.F. (also § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG in seiner aktuellen Fassung) für die Fälle des Art. 15 lit. c der Anerkennungsrichtlinie über die an den internen Schutz gestellten Anforderungen unterlaufen würde; zum Maßstab der grundlegenden wirtschaftlichen und sozialen Rechte vgl. auch Marx, Interner Schutz von Flüchtlingen nach Art. 1 A Nr. 2 GFK (Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU), ZAR 2017/8, 304 (307 ff.) m.w.N. -

bedarf vorliegend keiner Entscheidung.

b) Denn gemessen an diesen Anforderungen kann der Kläger nicht auf Kabul als interne Schutzalternative verwiesen werden, weil ihm auf Grund der aktuellen Lage in Kabul bereits die Sicherung des wirtschaftlichen Existenzminimums für sich selbst, seine Frau und die beiden gemeinsamen minderjährigen Kinder nicht möglich sein wird.

Im Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass die Wirtschafts-, Versorgungs- und Sicherheitslage in Kabul bereits in der Vergangenheit als äußerst schwierig bewertet wurde.

Vgl. zur Lage in Kabul unter dem Gesichtspunkt internen Schutzes bzw. der innerstaatlichen Fluchtalternative bis zum Jahr 2014 jeweils ausführlich die Urteile des OVG NRW vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, juris Rn. 189-250, des OVG Rheinl.-Pf. vom 21.03.2012 - 8 A 11048/10.OVG -, BeckRS 2012, 49772, des HessVGH vom 25.08.2011 - 8 A 1657/10 -, ZAR 2012, 80, vom 25.01.2010 - 8 A 303/09 -, BeckRS 2010, 51069 und vom 26.11.2009 - 8 A 1862/07.A -, NVwZ-RR 2010, 331, des VGH Bad.-Württ. vom 14.05.2009 - A 11 S 610/08 -, DVBl 2009, 1327 L und BeckRS 2009, 36753, des OVG Rheinl.-Pf. vom 06.05.2008 - 6 A 10749/07 -, BeckRS 2008, 36368 sowie des HessVGH vom 07.02.2008 - 8 UE 1913/06.A -, BeckRS 2008, 35023.

Die Versorgungs- bzw. humanitäre Lage war schon damals in wesentlichen Bereichen als stark defizitär eingeschätzt worden, da sie etwa durch Wohnraumknappheit, eine nur begrenzt funktionierende Trinkwasserversorgung, den Anstieg der Lebenshaltungskosten und eine problematische Arbeitsmarktsituation geprägt war.

Ausführlich m.w.N.: OVG NRW vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, juris Rn. 231 bis 244; vgl. zur fortbestehend problematischen Arbeitsmarktsituation auch NdsOVG, Urteil vom 19.09.2016 - 9 LB 100/15 -, juris Rn. 77.

Die Sicherheitslage war insbesondere durch medienwirksame Anschläge gekennzeichnet, die durch bewaffnete oppositionelle Gruppen - insbesondere die Taliban - verübt worden waren und sich als "high profile attacks" gegen Personen wie Dolmetscher, Auftragnehmer und Lieferanten des Militärs und hochrangige Regierungsbeamte richteten, wohingegen ein Interesse der Taliban an der Verletzung relativ machtloser Personen nicht zu bestehen schien.

Zur damals als "relativ stabil" bewerteten Sicherheitslage: OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, juris Rn. 200 bis 230 m.w.N.

Die schon in der Vergangenheit bestehenden prekären Verhältnisse haben sich zwischenzeitlich auf Grund einer Vielzahl von Faktoren nochmals verschlechtert. Dies betrifft die allgemeine wirtschaftliche Situation in Kabul (aa)) und die dortige Versorgungslage (bb)), die humanitären Umstände (cc)), insbesondere aber auch die Sicherheitslage (dd)), wobei sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland zusätzlichen Gefahren ausgesetzt sehen (ee)). Andererseits können Rückkehrer aus dem westlichen Ausland auch von diversen Unterstützungsprogrammen profitieren (ff)).

aa) Kabul ist aktuell die Stadt mit der am Abstand höchsten Einwohnerzahl in Afghanistan. Diese bewegt sich - nachdem die im Jahr 2001 noch von ca. 1,5 Millionen Personen bewohnte Stadt in den letzten Jahren ganz erheblich gewachsen ist - bei zwischen dreieinhalb und über sieben Millionen Personen.

Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 17: nach informellen Schätzungen über sieben Millionen; ProAsyl, Afghanistan: No safe country for refugees, Mai 2017, S. 17: fast sieben Millionen ; Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53: über sieben Millionen; zuvor Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: über fünf Millionen; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017-, S. 10/Rn. 35: 4,4 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 4: 3.961.487; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 39: Schätzungen von 3,6 bis 7 Millionen; zu den unterschiedlichen Angaben von bis zu sieben Millionen - oder auch mehr - und der möglicherweise zu Grunde liegenden Vermengung der Stadt und der Provinz Kabul sowie zur Problematik statistischer Angaben in Afghanistan allgemein auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 6.

Diesen Einwohnerzahlen Kabuls steht für das gesamte Land eine Einwohnerzahl von insgesamt etwa 27 bis 34 Millionen gegenüber.

Vgl. dazu Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan, Republik Österreich Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vom 02.03.2017, aktualisiert am 27.06.2017, S. 150: 33,3 Millionen; so auch UK Home Office, Country Policy and Information Note. Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 11; vgl. auch "the world fact book" - Afghanistan auf https://www.cia.gov/ für Juli 2017 geschätzt 34,124,811 Einwohner; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees - Mai 2017 -, S. 55: mindestens 31,5 Millionen; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 18/Rn. 48: mindestens 30 Millionen; Islamic Republic of Afghanistan Central Statistics Organization - Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, April 2017, S. 2: 29.724.323; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 8/Rn. 30: 27 bis 32 Millionen.

Die historisch gewachsene Struktur der Stadt Kabul umfasste ursprünglich etwa 500.000 bis 750.0000 Einwohner. Aktuell besteht sie zu 75 % aus irregulären Ansiedlungen.

EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 17; Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 6.

Über 40 % der Bevölkerung sind unter 15 Jahre, zwei Drittel unter 25 Jahre alt.

Sam Hall, Urban displaced youth in Kabul - mental health matters, Juni 2016, S. 7.

Afghanistan ist eines der ärmsten Länder der Welt. Es belegte im Jahr 2015 den Platz 171 und im Jahr 2016 den Platz 169 von 187 im Human Development Index. Mindestens 36 % der Bevölkerung des Landes leben unter der Armutsgrenze. Teils wird auch von einer Steigerung von 36 % für die Jahre 2007/2008 auf 39 % für die Jahre 2013/2014 berichtet, wobei ein Leben in Armut vorliegt, wenn das Einkommen unter der Armutsgrenze von 1.150 Afghani (20 US$) pro Monat liegt. Afghanistan hat im Vergleich mit allen asiatischen Ländern (45 Länder) den höchsten Anteil armer Menschen. Die Zahl der Menschen, die humanitärer Unterstützung bedürfen, hat sich von 2016 bis zum Beginn des Jahres 2017 um 13 % auf 9,3 Millionen erhöht. Dabei gibt es regionale Unterschiede. Sie reichen von einem Anteil von 27,7 % im Südwesten bis zu 49,7 % im Nordosten.

Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich - Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 176; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 31 f. m.w.N.; Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017/6, 223) (asyl.net), S. 3 Fn. 17; World Food Programme, Country Brief, WFP Assistance, Juli 2017.

Bei einer schon zuvor schlechten Lage ist seit dem Jahr 2012 ein massiver Einbruch der Wirtschaft zu verzeichnen.

Dazu Stahlmann, Überleben in Afghanistan, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N.

Die afghanische Wirtschaft ringt in der Übergangsphase nach Beendigung des NATO-Kampfeinsatzes zum Jahresende 2014 mit sinkenden internationalen Investitionen und der stark schrumpfenden Nachfrage durch den Rückgang internationaler Truppen um etwa 90 % (von 140.000 internationalen Soldaten auf rund 14.000). Die wirtschaftliche Entwicklung leidet unter schwacher Investitionstätigkeit. Die Abwertung des Afghani gegenüber dem US-Dollar schreitet - bei gleichzeitiger Deflation - immer weiter voran. Ein selbsttragendes Wirtschaftswachstum ist kurzfristig nicht in Sicht.

Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21.

Zudem beruht die Wirtschaft zu großen Teilen auf irregulären und illegalen Aktivitäten, darunter der Opiumhandel.

UNCHR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.

Der Vergleich des Wachstums des Bruttoinlandsprodukts für das Jahr 2012 von 14,4 % mit dem des Jahres 2015, in dem nur noch 0,8 % Wachstum zu verzeichnen waren, macht den für das gesamte Land zu verzeichnenden Einbruch deutlich.

Vgl. dazu Stahlmann, Überleben in Afghanistan, Asylmagazin 2017, 73 (74) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12 m.w.N.; siehe auch Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul. Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 20. April 2017, 20.06.2017, S. 5.

Bis zum Jahr 2016 blieb es bei einem Wachstum von unter 2 %. Auf Grund der abgeschwächten Konjunktur, unter anderem wegen der mangelnden Sicherheit und der politischen Ungewissheit, wird erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt allenfalls geringfügig wächst. Im Hinblick auf das jährliche Bevölkerungswachstum von geschätzt etwa 2,8 % für das Jahr 2015 wird auch vertreten, es werde auf Null absinken. Die Weltbank weist darauf hin, dass die Möglichkeit einer langsamen Erholung über die nächsten drei Jahre hinweg besteht und prognostiziert einen allmählichen Anstieg auf 3,6 % für das Jahr 2018, falls die politische Situation sich stabilisiert und geplante Reformen erfolgreich verwirklicht werden. Sie warnt allerdings auch, dass jede Verschlechterung der Sicherheitssituation die Wachstumsaussichten schwächen könnte.

EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 19 m.w.N.

Diese Wirtschaftslage spiegelt sich auch im Arbeitsmarkt wider, für den uneinheitliche Zahlen vorliegen.

Vgl. EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21 zur Bezeichnung der Arbeitsmarktzahlen als schwach und kontrovers ("weak and controversial").

Je nach Quelle und Erfassungsweise werden etwa für das Jahr 2014 Arbeitslosenzahlen von 9,1 % bis 24 % genannt, teils wird - unter Berücksichtigung eines Anteils von 15,3 % unterbeschäftigter Personen - der Anteil der nicht erwerbstätigen Personen sogar mit 40 % angegeben.

Im Einzelnen m.w.N.: EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21.

Im Jahr 2015 lag die landesweite Arbeitslosenquote bei 40 %. Der Anteil in den Städten war nochmal deutlich höher, da die Landwirtschaft, in der rund 60 %, in ländlichen Regionen sogar 70 % der erwerbstätigen Bevölkerung tätig sind, weiterhin der stabilste Beschäftigungssektor ist.

Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21; Stahlmann, Überleben in Afghanistan, Asylmagazin 2017, 73 (76) m.w.N. sowie dies. auch in ihrer landeskundlichen Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 m.w.N.; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.

Auch für den Zeitraum Ende des Jahres 2016 wurden ein Arbeitslosenanteil mit etwa 40 % geschätzt und die Aussichten als sehr düster bezeichnet.

EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 21; UNCHR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 15.

Ebenso werden für die Jugendarbeitslosigkeit sehr unterschiedliche Größenordnungen genannt. So gibt die Weltbank für das Jahr 2014 einen Anteil von 23 % bezüglich junger Frauen und 16 % hinsichtlich junger Männern an (bei 9,1 % für dieses Jahr im Allgemeinen). Die Jugendarbeitslosigkeit in den Städten soll um 50 % höher sein als die städtische Arbeitslosigkeit insgesamt.

EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22.

Es findet sich sogar die Angabe einer Jugendarbeitslosigkeit von 82 %.

Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 m.w.N.; dies., Überleben in Afghanistan, Asylmagazin 2017, 73 (76).

Gerade der städtische Arbeitsmarkt ist durch die bereits erwähnten Änderungen des internationalen Engagements geprägt. Dort waren mit der plötzlichen Ankunft internationaler Organisationen zunächst Qualifikationen gefragt, die auf dem lokalen Arbeitskräftemarkt nach den langen Kriegsjahren tatsächlich Mangelware waren - darunter Englischkenntnisse, Arbeitserfahrung mit der in internationalen Organisationen gepflegten Bürokratie und formelle Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Außerdem hatte der Bauboom in den Städten, und auch insbesondere im grundlegend zerstörten und rapide wachsenden Kabul, zunächst auch einen Markt für ungelernte Arbeitskräfte geschaffen.

Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 13 f. m.w.N.; dies., Überleben in Afghanistan? - Zur Lage von Rückkehrenden und ihre Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 2017/3, S. 73 (74); zum Arbeitsmarkt in Kabul auch Kohler, Faktische iranische Inländer, InfAuslR 2017, 99 (101) mit Verweis auf Islamic Republic of Afghanistan - Central Statistics Organisation, Socio-Demographic and Economic Survey, Figure 11 und Figure 12, dort allerdings nur für das Jahr 2013.

Damals hatten - in begrenztem Maße - selbst die traditionell familiär organisierten privatwirtschaftlichen Betriebe externe Arbeitskräfte aufgenommen (wenn auch in den Grenzen kriegsbedingter Freundschemata, so dass Fremde im Sinne ethnischer, religiöser oder lokaler Zugehörigkeit weiterhin weitgehend ausgeschlossen waren). Diese Entwicklung hat sich allerdings durch den bereits als prägend erwähnten Abzug der internationalen Truppen wieder verflüchtigt. Der Bauboom hat sich als kurzfristig erwiesen und auch der Dienstleistungsbereich ist eingebrochen. Geblieben ist der Umstand, dass zur Erlangung eines der wenigen vorhandenen Arbeitsplätze nicht die schulische oder berufliche Ausbildung, Qualifikation oder Erfahrung ausschlaggebend sind, sondern Beziehungen. Dies gilt für den gesamten Arbeitsmarkt, insbesondere auch für Arbeitsplätze im Staatsdienst.

Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 14 f. m.w.N.; dies., Überleben in Afghanistan, Asylmagazin 2017, 73 (76); anschaulich hierzu auch die Beispiele von Schuster zur allein durch (teils verwandtschaftliche) Beziehungen gekennzeichnete Einstellungspraxis ohne Rücksicht auf die Qualifikation an der Kabuler Universität und verschiedenen Ministerien: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 15/Rn. 44; vgl. auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 und 68; vgl. auch die Beispiele zu Rückkehrern, die trotz Qualifikation mangels Beziehungen keine Beschäftigung fanden: Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 65 ff. m.w.N.; zur "untergeordneten" Rolle von Eignung, Befähigung und Leistung bei der Verteilung administrativer Ämter auch Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 7.

Das vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Kriegs- und Konflikterfahrungen und anhaltender Alltagskriminalität als notwendig und bewährt erachtete System von Beziehungen bzw. Netzwerken ist geprägt durch eine Gegenseitigkeit, eine langfristige und belastbare Reziprozität. Wer in der Lage ist, einen Vorteil - etwa einen Arbeitsplatz - zu verschaffen, verknüpft hiermit die Erwartung, jedenfalls langfristig seinerseits einen Vorteil zu erlangen. Ist vom Arbeitssuchenden keine Gegenleistung zu erwarten, weil dieser nicht über die erforderlichen Beziehungen verfügt, ist nicht oder weniger zu erwarten, dass ihm eine Arbeitsstelle vermittelt wird. Ein entsprechendes Netzwerk ist daher der Schlüssel zum Arbeitsmarkt. Zudem gewährleistet das System der Empfehlungen, dass der Arbeitgeber sich sicher sein kann, dass der Arbeitssuchende, dessen örtliche und ethnische Herkunft sowie familiären Hintergrund er auf Grund der Empfehlung kennt, vertrauenswürdig ist.

EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67 f.: "Network as key to the job market"; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 12. m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12.

So äußerten die meisten Arbeitgeber in einer Befragung zu ihrer Einstellungspraxis, sie nutzten das traditionellste System: Freunde (62,6 %) und Familie (57,9 %). Entsprechend beklagen die Arbeitssuchenden jeden Levels, dass die Vergabe von Arbeitsstellen von persönliche Verbindungen, sog. "wasita" (wechselseitige Verbindungen zu Personen mit Macht oder Einfluss), abhängig sei. Erforderlich sind "shanaktht" (jemanden kennen) und "safarish" (eine Art Empfehlung). Nur etwa 15 % der Arbeitnehmer werden über den örtlichen Bazar angeworben, der größte Teil der Arbeitsplätze wird über Freunde oder Verwandte erlangt.

EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 67.

Die Beziehungen oder Netzwerke sind vielschichtig. Für manche besteht ihr Netzwerk aus nahen Verwandten, für andere ist es breiter angelegt und kann auch aus Freunden bestehen. Bei Angehörigen der Hazara kommt es vor, dass beim Zuzug in eine neue Stadt ein Netzwerk um die örtliche Moschee oder eine religiöse oder Wohlfahrtseinrichtung konzentriert ist. Ganz allgemein genügt die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Ethnie allein noch nicht, um ein solides Netzwerk für die Arbeitssuche zu begründen.

EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 68.

Eine staatliche Arbeitsvermittlung oder gar eine Arbeitslosenunterstützung nach westlichen Vorstellungen gibt es hingegen nicht. Allerdings werden freie Stellen im öffentlichen Sektor vom Civil Service Commission Management Directorate der Kommission für Öffentlichen Dienst und Verwaltungsreform online angekündigt. Außerdem bietet eine Nichtregierungsorganisation (ACBAR) Unterstützung für Arbeitssuchende an. Sie befindet sich in Charahi Shaheed, Sherpoor Bezirk in Kabul. Auf ihrer Website besteht die Möglichkeit, sich mit einem Lebenslauf und Motivationsschreiben auf relevante Jobs zu bewerben.

BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2.

Soweit eine - selten reguläre, meist nur unregelmäßige - Arbeitsstelle gefunden werden kann

- dazu Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eid-genossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S.10; siehe auch EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 22 zum "vulnerable employment" -,

ist das durchschnittliche Einkommen (insbesondere im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten, dazu sogleich) gering. Für das durchschnittliche Einkommen in Afghanistan finden sich Größenordnungen von monatlich 80 bis 120 US$, teilweise wird ein Mindestlohn von 95 US$ für nur vorübergehend beschäftigte Arbeitskräfte genannt. Andere Angaben nennen einen Anteil von 36 % der afghanischen Bevölkerung, deren Lohn bei 20 US$ pro Monat liegt.

IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 2; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.

Der gesetzliche Mindestlohn für einen festangestellten Regierungsmitarbeiter wird mit 6.000 Afghani bzw. 103 US$ pro Monat angegeben. Für festangestellte Arbeitskräfte im privaten Sektor gibt es keinen Mindestlohn.

EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 23 f.

bb) Zu der beschriebenen prekären Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage kommt eine ebenso problematische Versorgungslage und soziale Situation.

Zu deren Bedeutung vgl. BVerwG, Beschluss vom 24.11.2012 - 10 B 22.12 -, NVwZ 2013, 282.

Für die allgemeinen Lebenshaltungskosten in Kabul finden sich - jeweils auch abhängig vom Lebensstil - Angaben von 100 bis 150 EUR oder auch 150 bis 250 US$ für einen alleinstehenden Mann in Kabul

- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188 -

und mindestens 250 bis zu 600 EUR pro Monat für eine Familie, bestehend aus einem Vater und drei Kindern

- BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017 -,

wobei jeweils noch keine Unterbringungs-/Mietkosten enthalten sind. Ganz allgemein wird außerdem noch die Summe von bis zu 500 US$ monatlich angegeben.

IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 3.

Für die Kosten von Wohnraum finden sich - auch abhängig von der Lage - Angaben von einer Monatsmiete für ein Zimmer in Höhe von 100 US$, für ein Einzimmerapartment in Kabul von 88 US$/6.000 Afghani bis zu 146 US$/10.000 Afghani oder auch in Höhe von 160 bis 180 EUR (zuzüglich Nebenkosten von etwa 20 bis 25 EUR/Monat) sowie auch 300 US$. Die Miete für eine Dreizimmerwohnung in Kabul wird mit ca. 300 EUR/Monat bei Nebenkosten in Höhe von etwa 30 EUR angegeben, aber auch Preise von 400 bis 600 US$ zuzüglich Nebenkosten von etwa 40 US$ pro Monat werden genannt.

Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 14/Rn. 41; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Lebenshaltungs-/Mietkosten in Kabul; Taxilizenz, 22.04.2016; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017, S. 188; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation I: Lebenshaltungskosten in Kabul für alleinstehenden Mann, 09.05.2017; BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage Wohnraumsituation II: Lebenshaltungskosten in Kabul für Familie mit Vater und 3 Kindern, 09.05.2017; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2017, S. 3; IOM, Länderinformationsblatt Afghanistan 2016, S. 2; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Überleben in Afghanistan? - Zur Lage von Rückkehrenden und ihre Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 2017/3, S. 73 (76); vgl. auch Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16/Rn. 42: Einzelzimmer für 4.000 bis 6.000 Afghani, bei einem Lohnniveau von 4.000 bis 4.500 Afghani pro Monat; EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2017, S. 7 m.w.N.: 300 US$.

Sofern Wohnraum auf dem freien Markt verfügbar ist, haben in aller Regel wiederum nur diejenigen eine Chance darauf, die einen Bürgen beibringen können und in der Lage sind, bis zu sechs Monatsmieten im Voraus zu bezahlen. Im Rahmen der Wohnungssuche benötigt man also außergewöhnliche finanzielle Ressourcen, um eine Chance auf eine winterfeste Unterkunft zu haben, aber auch die beschriebenen sozialen Netzwerke. Diese sowie der Umstand, dass sich jemand für den künftigen Mieter und dessen vertrauenswürdigen Charakter gleichsam verbürgt, gewährleisten aus Sicht des Vermieters eine gewisse Sicherheit sowie insbesondere auch, dass der Mieter kein "unmoralisches" Verhalten an den Tag legt und seine Miete zahlen wird.

Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Überleben in Afghanistan? - Zur Lage von Rückehrenden und ihre Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 2017/3, S. 73 (76 f.); Schuster, Report for the Upper Tribunal, 08.11.2016, S. 4/Rn. 12 und auch S. 14/Rn. 41 und S. 15/ Rn. 44 m.w.N.

Es gibt keine NGOs oder öffentliche Organisationen, die bei der Wohnungssuche unterstützen. Immobilienmakler bieten einen entsprechenden Service im Austausch für eine Monatsmiete von Mieter und Vermieter an.

BAMF/ZIRF/IOM, ZIRF-Anfrage: Medizinische Versorgung in Afghanistan, Unterstützung für Rückkehrer bei Arbeits- und Wohnungssuche, 21.09.2016.

Ergänzend anzumerken ist, dass eine Wohnung auch nicht gleichzeitig den Zugang zu Wasser und Strom bedeutet. Dieser hat sich zwar in den letzten 15 Jahren generell verbessert. Allerdings hat sich bei der zentralen Wasserversorgung die Wasserqualität verschlechtert, da die Infrastruktur für die heutige Einwohnerzahl nicht ausgelegt ist. So funktioniert das öffentliche Wasserleitungssystem nur stundenweise. Zugang zu Leitungswasser haben nur ungefähr 34 % der Einwohner. Die meisten Menschen leben in den Slums und beziehen das Wasser entweder von öffentlichen Pumpen oder selbst angelegten Brunnen, mit denen das Grundwasser angezapft wird. Dessen Stand hat sich zwischenzeitlich von drei bis fünf Metern auf 70 bis 80 Meter Tiefe abgesenkt.

Staatssekretariat für Migration SEM der Schweizerischen Eid-genossenschaft, Notiz Afghanistan: Alltag in Kabul - Referat von Thomas Ruttig (Afghanistan Analysts Network) am 12.04.2017, 20.06.2017, S. 7; Sam Hall, Urban Poverty Report - A study of poverty, food insecurity and resilience in Afghan Cities, November 2014, S. 49.

Die im Verhältnis zum realistischer Weise erzielbaren Einkommen aus (Hilfs-) Tätigkeiten immensen Unterbringungskosten bei gleichzeitig großem Zustrom neuer Einwohner erklären, dass etwa drei Viertel der Menschen in Slums lebt.

Dazu ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 16; dies., Überleben in Afghanistan? - Zur Lage von Rückehrenden und ihre Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 2017/3, S. 73 (76 f.).

cc) Verschärft wird die Lage - insbesondere auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt - in Kabul nicht zuletzt aufgrund der hohen Zahl an in die Stadt strömenden Menschen.

Für das gesamte Land Afghanistan ist eine erhebliche, zudem stetig ansteigende Anzahl an Migranten festzustellen. Es handelt sich sowohl um Binnenvertriebene (internally displaced persons - IDPs), Rückkehrer (insbesondere aus Iran und Pakistan sowie aus dem westlichen Ausland) und Wirtschaftsmigranten, von denen gerade Kabul einen unverhältnismäßig großen Anteil aufgenommen hat und aufnimmt.

EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 40.

Im Jahr 2015 haben sich diese Migrationsbewegungen für ganz Afghanistan in einer Größenordnung von mindestens 1,1 Millionen Binnenvertriebenen bewegt.

Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 19.10.2016 - Stand: September 2016, S. 21: zwischen 1,1 und 1,2 konfliktinduzierte Binnenflüchtlinge.

Schon im April 2016 war die Zahl intern Vertriebener auf 1,2 Millionen geschätzt worden.

Stahlmann, Überleben in Afghanistan? - Zur Lage von Rückkehrenden und ihre Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 2017/3, S. 73 (74 f.) m.w.N.: 1,2 Millionen bezogen auf den April 2016.a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 7.

Bis Jahresende wurden 2016 insgesamt 620.000 bis 650.000 Menschen als kriegsbedingt vertrieben ausdrücklich und aktenkundig registriert - das sind dreimal so viele wie 2014 und sechsmal so viele wie 2012. Im Zeitraum seit Anfang 2017 bis ca. Juli 2017 haben etwa 150.000 Personen auf Grund innerstaatlicher Konflikte ihren Wohnort verlassen. Sie suchen mehrheitlich innerhalb ihrer Provinz Zuflucht, es sind aber auch Fluchtbewegungen in die Provinz Kabul zu verzeichnen.

Stahlmann, Überleben in Afghanistan? - Zur Lage von Rückkehrenden und ihre Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 2017/3, S. 73 (74) m.w.N.: 623.345; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Verschlechterung bis ins Jahr 2017 mit Rekordzahlen neuer, konfliktbedingter Binnenvertreibung in Höhe von 651.751 Personen; vgl. auch Bericht des Auswärtigen Amts zur Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017 -, S. 10.

Daneben sind im Jahr 2016 etwa eine Million Menschen aus Iran und Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei als Rückkehrende auch jene gelten, deren Eltern schon im benachbarten Ausland geboren wurden. Hintergrund ist, dass der Iran vermehrt afghanische Staatsangehörige abschiebt und Pakistan im letzten Herbst 2016 entschieden hat, ab April 2017 keine afghanischen Personen mehr im Land zu dulden, wobei der Termin allerdings verschoben wurde. Zusätzlich zu den 1,6 Millionen afghanischen Staatsangehörigen, die in Pakistan bisher einen Flüchtlingsstatus hatten, betrifft diese Entscheidung nach Schätzungen der pakistanischen Regierung zumindest eine weitere Million illegal dort lebender afghanischer Personen.

UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 4 zum Rekordniveau von interner Flucht und Vertreibung für das Jahr 2016: ca. 372.000 + 242.000 Flüchtlinge aus Pakistan und 420.000 aus dem Iran sowie eine Prognose für das Jahr 2017 mit 650.000 zurückkehrenden Flüchtlingen; Stahlmann, Überleben in Afghanistan? - Zur Lage von Rückkehrenden und ihre Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 2017/3, S. 73 (74): 1.034.000 Rückkehrer aus Iran und Pakistan; a.i., Amnesty Report 2017 - Afghanistan (Berichtszeitraum 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2016): S. 1; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; ProAsyl, Afghanistan - No safe country for refugees, Mai 2017, S. 4: mehr als eine Million; General Assembly Security Council, The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security - report of the Secretary-General, 03.03.2017: S. 9 zur Rückkehr von 620.000 Flüchtlingen und nicht dokumentierten Afghanen aus Pakistan.

Hauptzielort der größten Rückkehrbewegung ist Kabul. Kabul ist zudem traditionell ein Zufluchtsgebiet der vom Konflikt betroffenen Binnenvertriebenen insbesondere aus der Zentralregion. Ein erheblicher Anteil der insgesamt mit 5,7 Millionen bezifferten Gruppe von Personen, die bereits aus dem Iran und Pakistan zurückgekehrt sind, und der genannten 1,2 Millionen Binnenvertriebenen hat sich in bzw. um Kabul niedergelassen. Zu diesen kommen noch weitere 56.600 Personen hinzu, die 2016 aus Pakistan zurückgekehrt sind. In Zusammenhang mit dieser Entwicklung wird auch die Verlautbarung eines Ministers der afghanischen Regierung (Balkhi) gebracht, Kabul könne nicht alle Personen aus gefährlichen Provinzen aufnehmen, verbunden mit der Bitte, Abschiebungen zu beenden.

Stahlmann, Überleben in Afghanistan? - Zur Lage von Rückkehrenden und ihre Chancen auf familiäre Unterstützung, Asylmagazin 2017/3, S. 73 (75); Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 18/Rn. 53; Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 16 f./Rn. 43; UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016. S. 5 zur starken Betroffenheit u.a. von Kabul von der hohen Anzahl an Rückkehrern sowie S. 7 zu Kabul als traditionellem Zufluchtsort.

Fast ein Viertel der 55.000 registrierten zurückkehrenden Familien und ein ähnlicher Anteil an nicht dokumentierten Rückkehrern aus Pakistan hat sich in den überfüllten informellen Siedlungen Kabuls niedergelassen. Deswegen bewertet auch der UNHCR - im Hinblick auf den Rückgang der wirtschaftlichen Entwicklung in Kabul als Folge des massiven Abzugs der internationalen Streitkräfte im Jahr 2014 - die Aufnahmekapazität der Stadt aufgrund begrenzter Möglichkeiten der Existenzsicherung, Marktliquidität, der fehlenden Verfügbarkeit angemessener Unterbringung sowie des mangelnden Zugangs zu grundlegenden Versorgungsleistungen insbesondere im Gesundheits- und Bildungswesen als äußerst eingeschränkt.

UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016. S, 7.

Zudem führte eine zweite Fluchtwelle aus Kunduz - infolge der temporären Übernahme von Kunduz durch nichtstaatliche bewaffnete Gruppen im Oktober 2016 - zu neuerlichen Ankünften von Binnenvertriebenen in Kabul, wobei die Mehrheit der Familien wahrscheinlich bereits wieder nach Kunduz zurückgekehrt ist.

UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 7.

Als Folge des großen Zustroms nach Kabul wird beschrieben, dass die Migranten in besonderem Maße benachteiligt seien und oft in den überfüllten informellen Siedlungen endeten, für die insbesondere für den Winter die Zustände als schrecklich geschildert werden. Die Siedlungen in Kabul, deren Anzahl für das Jahr 2013 mit um die 55 für angegeben wird, bestehen großteils aus behelfsmäßigen Zelten oder Lehmhütten ohne geeigneten Schutz vor Kälte und mit beschränktem Zugang zu sauberem Wasser und medizinischer Versorgung. Im Winter 2012 sollen Dutzende Binnenvertriebene erfroren sein. Auch 2017 wurde berichtet, es seien Kinder und ältere Personen auf Grund der eiskalten Temperaturen verstorben. Zudem führe der immense Zuzug auch dazu, dass die existenziellen Ressourcen noch stärker umkämpft seien und die Arbeitslosigkeit und auch die Alltagskriminalität zunähmen.

EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S.40; Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 15 f.; zu den Zuständen in den informellen Siedlungen auch EASO, Country of Origin Information Query - Query concerning the situations of returnees to Afghanistan, 22.06.2015, S. 5 f. m.w.N.; a.i., My children will die this winter - Afghanistan´s broken promise to the displaced, 31.05.2016, S. 17.

dd) Schließlich ist bei der Beurteilung der Zumutbarkeit des internen Schutzortes die Prüfung nicht abstrakt auf die allgemeine Wirtschafts- und Versorgungslage sowie die humanitären Umstände beschränkt, sondern diese wird auch durch die Sicherheitslage im betreffenden Bereich beeinflusst. Denn unabhängig davon, ob es an der Zumutbarkeit einer vorgeschlagenen internen Schutzalternative allein auf Grund der dortigen Sicherheitslage fehlen kann, weil für den Zurückkehrenden - orientiert am Verhältnis ziviler Opfer zur Gesamtbevölkerung im betroffenen Bereich - die Gefahr besteht, dort Opfer eines Anschlags zu werden

- so der Ansatz des OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 (dort für Kabul verneint)-,

kommt ihr auf Grund ihrer Aus- und Wechselwirkung mit der Wirtschafts- und Versorgungslage eine erhebliche Bedeutung zu. Denn auch dann, wenn der Gefährdungsgrad noch nicht den der konkreten, beachtlich wahrscheinlichen Beeinträchtigung von Leib oder Leben erreicht, schafft eine kritische Sicherheitslage mit einer Vielzahl von Toten und Verletzten bei variierenden, keinem vorhersehbaren Muster folgenden sicherheitsrelevanten Vorfällen einen Zustand der Angst und Verunsicherung, der in der Gesamtbetrachtung die Annahme der Unzumutbarkeit rechtfertigen kann.

Die Sicherheitslage war bereits in den vergangenen Jahren geprägt von zahlreichen Anschlägen, insbesondere auf medienwirksame Ziele ausländischer Streitkräfte und Organisationen sowie Regierungseinrichtungen.

Dazu die ausführliche Darstellung bei Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 21 ff./Rn. 59 ff. und dies. Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 7/Rn. 18 sowie auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 6. Juni 2016: Sicherheitslage in der Stadt Kabul, 06.06.2016; vgl. auch die genannte Entscheidung OVG NRW, Urteil vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11 Rn. 207 bis 230 zur damaligen - vor Abzug internationalen der Streitkräfte liegenden - Sicherheitslage (Rn. 217: "aktuell als stabil eingeschätzt") und der diesbezüglichen Rolle der Taliban.

In jüngerer Zeit erweist sich die Sicherheitslage weiter als volatil. UNAMA hat für das Jahr 2016 für die gesamte Provinz Kabul 1.758 zivile Opfer registriert (376 Tote und 1.382 Verletzte). Kabul war damit die Provinz mit der höchsten Anzahl ziviler Opfer. Zur ersten Hälfte des Jahres 2017 berichtete UNAMA, die Provinz Kabul weise weiterhin die höchste Zahl an zivilen Opfern auf, vorwiegend in Kabul City. Von den 1.048 zivilen Opfern (219 Tote und 829 Verletzte) in der Provinz Kabul waren 94 % das Resultat von Selbstmordattentaten und komplexen Angriffen in Kabul City durch regierungsfeindliche Kräfte.

UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 5, dort auch Fn. 11 zur Stadt Kabul: 986 zivile Opfer in den ersten sechs Monaten des Jahres (209 Todesopfer und 777 Verletzte) EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Key socio-economic indicators, state protection, and mobility in Kabul City, Mazar-e Sharif, and Herat City (August 2017), S. 83; UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24.

Vom Dezember 2016 bis zum 31. Mai 2017 gab es insgesamt acht öffentlichkeitswirksame Angriffe in Kabul und 42 an anderen Orten in Afghanistan. So waren beispielsweise bereits bei einem Angriff durch Aufständische auf einen Stützpunkt der Afghanischen Nationalarmee 144 Mitarbeiter getötet und 65 weitere Personen verletzt worden. Der Vorfall, der bei Weitem die schwersten Folgen hatte und gleichzeitig die meiste Aufmerksamkeit in den Medien erfuhr, war allerdings der Anschlag vom 31. Mai 2017 (dazu im Weiteren noch ausführlicher).

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 24 f.

Im Unterschied zu den vergangen Jahren kommt es nun allerdings auch zu einer Zunahme ziviler Opfer. Dieser Anstieg ist auf zahlreiche Selbstmordattentate und komplexe Angriffe in Kabul zurückzuführen. Anders als früher häufen sich nun auch Anschläge, die sich gezielt gegen Zivilpersonen richten. So beklagt UNAMA, dass sich zwischen dem 1. Januar und dem 30. Juni 2017 mindestens 40 % der von UNAMA dokumentierten zivilen, regierungsfeindlichen Elementen zuzuschreibenden Opfer (und 26 % der Gesamtzahl der zivilen Opfer) das Ergebnis von Angriffen oder Vorfällen sind, die sich gezielt gegen Zivilisten richteten.

UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 44; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3; dort auch der Hinweis auf die drei schweren Anschläge vom 23. Juli 2016, vom 11. Oktober 2016 und vom 21. November 2016, dazu sogleich; vgl. zur vermehrt gezielt auf die Zivilbevölkerung gerichtete Anschläge, insbesondere der ISKP : Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 10.

Aber auch durch Anschläge, die erklärtermaßen gegen Regierungsinstitutionen, internationale Organisationen und Einrichtungen der afghanischen Armee und Polizei gerichtet waren, wurden viele Angehörige der afghanischen Zivilbevölkerung (u.a. Passanten, Kinder usw.) verletzt und getötet.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 3 m.w.N.

Dies illustrieren die größten Anschläge in Kabul seit Mitte 2016:

- Am 23. Juli 2016 wurden bei einem Selbstmordattentat - dem bis dahin größten einzelnen Vorfall in der Stadt seit dem Jahr 2001 - im Rahmen der Demonstration der schiitischen Hazara-Minderheit mindestens 80 Menschen getötet.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25: 81 Todesopfer Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 4, 5 und 14 m.w.N.: mindestens 80 Todesopfer; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 11: mindestens 80 Tote und 231 Verletzte.

- Bei einem Anschlag der Taliban durch die Explosion eines Sprengsatzes auf einem Lastwagen vor einem von internationalen zivilen und militärischen Organisationen genutzten Hotel wurden am 1. August 2016 ein Polizeioffizier getötet und weitere vier verwundet.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 10 und 14 m.w.N. Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 11.

- Am 24./25. August 2016 wurde eine Fahrzeugbombe vor dem Campus der amerikanischen Universität in Kabul gezündet und Bewaffnete drangen dort ein. Sieben Studentinnen und Studenten, drei Vertreter der Sicherheitskräfte, zwei Wachleute und ein Professor wurden getötet.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 10 und 15 m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 11.

- Am 5. September 2016 töteten koordinierte Explosionen mindestens 24 Menschen vor dem afghanischen Verteidigungsministerium. Infolge abgestufter Detonationen betraf dies insbesondere auch Ersthelfer.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25: 30 Tote; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 11 und 15 m.w.N.: 24 Tote und 91 Verletzte Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 11: 41 Tote, 110 Verletzte.

- Ebenfalls am 5. sowie am 6. September 2016 erfolgte im Zentrum von Kabul ein komplexer Angriff, der mittels eines mit Sprengstoff beladenen Fahrzeugs begonnen und einer anschließenden elfstündigen Belagerung eines von einer Nichtregierungsorganisation genutzten Gebäudes fortgesetzt wurde, bis Sicherheitskräfte das Gebäude räumen konnten. Eine Person wurde getötet, sechs weitere wurden verletzt.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25 Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 11 und 15 f. m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 11: sechs Verletzte.

- Am 11. Oktober 2016 griffen Mitglieder des IS während einer Gedenkfeier zum Aschura-Fest einen schiitischen Schrein in Kabul an. Dabei wurden mindestens 13 Zivilisten getötet und weitere wurden - wie auch afghanische Polizeibeamte - verletzt.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25: 13 getötete Zivilisten und weitere Verletzte; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 5, 11 und 16 m.w.N.: 18 Tote und mehr als 50 bzw. 54 Verletzte; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10: 18 Tote, 54 Verletzte.

- Ebenfalls am 11. Oktober 2016 wurden in einem anderen Teil Kabuls zwei Selbstmordattentäter durch afghanische Kräfte bei der Azrat Moschee getötet, wo sich schiitische Zivilisten versammelt hatten. Welche Gruppe für den zweiten Angriff verantwortlich ist, ist nicht bekannt.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25.

- Am 16. November 2016 griff ein Selbstmordattentäter einen Bus des Nationalen Verteidigungssekretariats (NDS) an, der Mitarbeiter transportierte.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25.

- Am 21. November 2016 erfolgte ein Angriff auf die schiitische Baqir-Ul-Olum Moschee in Kabul, bei dem 27 Zivilisten getötet und mindestens 30 verletzt wurden. Zu dem Anschlag bekannte sich der IS.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25: 27 Tote, 30 Verletzte; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 5 f., 11 und 17 m.w.N.: 27 Tote, nach anderen Quellen - UNAMA - 32 Tote und mehr als 50 Verletzte Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10: 27 Tote.

- Am 21. Dezember 2016 verübte eine größere Anzahl von Angreifern einen komplexen Angriff auf den Wohnsitz eines Parlamentsabgeordneten aus Helmand. Es gab zehn oder elf Todesopfer (einschließlich dreier Angreifer). Sechs Personen, darunter der Parlamentarier und seine Frau, wurden verletzt. Die Taliban bekannten sich zu dem Anschlag.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 11 und 17 m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017: acht Tote, sechs Verletzte.

- Am 28. Dezember 2016 wurden beim einem Angriff auf das Fahrzeug eines Parlamentsabgeordneten mit einem Sprengkörper drei Personen - einschließlich des Abgeordneten - verletzt und ein anderer Passagier getötet.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 11 und 17 f. m.w.N.; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017. S. 10.

- Am 10. Januar 2017 gab es nahe der Parlamentsgebäude in Kabul zwei Explosionen. Es wird vermutet, dass es sich bei der ersten um ein Selbstmordattentat handelte, dem kurz danach eine Autobombe folgte. Der Angriff erfolgte zur Stoßzeit und mindestens 38 - möglicherweise auch 50 - Menschen wurden getötet. Über 70 - eventuell auch über 100 - Personen wurden verletzt. Unter den Opfern waren auch Zivilisten.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 25: ungefähr 50 Tote, über 100 Verletzte; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 6, 11 und 18 m.w.N.: wechselnde Angaben mit 38 Toten und mehr als 70 Verletzten; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10: 38 Tote.

- Am 7. Februar 2017 wurden bei einem Selbstmordanschlag auf dem Gelände des Afghanischen Obersten Gerichtshofs rund 20 Menschen getötet und mindestens 41 verletzt.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 26: 20 Tote, über 45 Verletzte; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 7, 12 und 19 m.w.N.: 20 (nach anderen Quellen 22) Tote, 41 (bzw. 44) Verletzte; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10: 20 Tote, 41 Verletzte.

- Bei einem komplexen Anschlag vom 1. März 2017, an dem mehrere Angreifer beteiligt waren, wurden mindestens fünf, möglicherweise auch 16 oder 23 Zivilisten und fünf Aufständische getötet. Es gab 44 oder auch 65 Verletzte.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 26: fünf getötete Zivilisten und fünf Aufständische; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 12 m.w.N.: 16 tote Zivilisten, 44 Verletzte; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 7: 23 Tote, 65 Verletzte; Ecoi.net, Themendossier: Allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan und Chronologie für Kabul, 11.04.2017, S. 10: 16 Tote, 44 Verletzte.

- Die IS-/Daesh-Splittergruppe ISKP (Islamic State Khorasan Province) tötete am 8. März 2017 rund 50 Menschen bei einem Angriff auf das Sardar Daud Militärkrankenhaus in Kabul. Mindestens 63 Menschen wurden verletzt.

Vgl. dazu bereits die Ausführungen zum Gesundheitssystem; außerdem: UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 26: rund 50 Menschen; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 12 und 19 m.w.N.: 49 Tote, mindestens 63 Verletzte; Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 7: rund 50 Tote, davon etwa die Hälfte Militär sowie 88 Verletzte, davon 66 Militär.

- Am 31. Mai 2017 kam es schließlich zum wohl folgenschwersten Anschlag seit dem Jahr 2001.

UK Home Office, Country Policy and Information Note - Afghanistan: Security and humanitarian situation, August 2017, S. 26; zur Einordnung als womöglich tödlichsten Anschlag dieser Art seit 2001: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 4 m.w.N.: UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 4, 33, 34: "the deadliest incident documented by UNAMA since 2001”.

Der Anschlag ereignete sich gegen 8:20 Uhr Ortszeit. An einer Straßenkreuzung explodierte ein mit mehreren Tonnen Sprengstoff präparierter Abwassertankwagen. An der Kreuzung befand sich ein durch afghanische Sicherheitsbeamte besetzter Kontrollpunkt mit Schranke zur Einfahrt in die sog. "Grüne Zone", in der zahlreiche Regierungsgebäude und Botschaften angesiedelt sind. Unmittelbar an die Kreuzung grenzt das Gelände der deutschen Botschaft sowie ein von den USA genutztes Militärgelände an. Nachdem der Fahrer des Lastwagens zuvor erfolglos versucht hatte, sich Zufahrt zum Gelände der Deutschen Botschaft zu verschaffen, wurde der im Tankwagen verborgene Sprengsatz vor dem Kontrollpunkt gezündet. Der oder die Täter sind nicht identifiziert. Keine Gruppe hat sich glaubhaft zu der Tat bekannt. Ein Talibansprecher verlautbarte, sie seien nicht für den Vorfall verantwortlich. Es existiert ein Bekenntnis des Islamischen Staats. Möglicherweise ist das Haqqani-Netzwerk verantwortlich. Es gilt als wahrscheinlich, dass der Anschlag die Deutsche Botschaft treffen sollte.

Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017); S. 8 f.

Die Angabe zur Zahl der Toten und Verletzten schwankt stark. So wird die Anzahl der Todesopfer mit zwischen 80 und 150 Personen angegeben, die der Verletzten mit 300 bis 490. Der überwiegende Anteil der Opfer waren Zivilisten.

Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 2: 92 Tote, 490 Verletzte; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 4, 8 ff. und 21 ff. m.w.N.: wechselnde Angaben mit - je nach Quelle - 80 bzw. 150 Toten und 300/350 Verletzten; UNAMA, Midyear Report 2017: Afghanistan - protection of civilians in armed conflict, Juli 2017, S. 4 mindestens 92 Tote.

- Bei einer Trauerfeier für den Sohn eines Politikers töteten Selbstmordattentäter am 3. Juni 2017 mindestens zwölf Personen.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 4 m.w.N.

- Anfang Juni 2017 explodierte eine Bombe beim Haupteingang einer historischen Moschee. Bei dem Vorfall wurden mindestens sieben Menschen getötet und weitere 15 verletzt. Es hat sich keine der Terrorgruppen zu dem Anschlag bekannt.

Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017); S. 10.

- Am 20. Juli 2017 wurde 23 Menschen bei einer Reihe von Anschlägen getötet, darunter Sicherheitsleute aus Nepal. Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff auf die 14 Getöteten aus Nepal, die für die kanadische Botschaft in Kabul gearbeitet hatten.

Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 19. Juni 2017 zu Afghanistan: Sicherheitslage in Kabul, 19.06.2017, S. 13 m.w.N.

Folge dieser sich verschlechternden Sicherheitslage ist nicht nur, dass Investitionen in Frage gestellt werden. Sie belastet auch die für die Wirtschaft unabdingbaren Vertrauensverhältnisse, was wiederum die Bedeutung von Vertrautheit und sozialer Abhängigkeit in Arbeitsverhältnissen und wirtschaftlichen Beziehungen erhöht und Qualifikation noch unwichtiger werden lässt. Der Angestellte, der zum Angreifer wird, weil er auch für die Taliban arbeitet oder der, der aus gelerntem Hass bereit ist, die Kollegen an eine kriminelle Bande zu verraten, sind das größere Risiko als mangelnde Professionalität.

Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017 S. 15.

Zusammenfassend ist hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage in Kabul festzuhalten, dass sich nicht nur die Anzahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle gehäuft hat, sondern - wohl maßgeblich auch wegen "neuen" regierungsfeindlichen Kräften (IS/Daesh/ISKP) - als weitere Tendenz festzustellen ist, dass bei Anschlägen nun vermehrt zivile Opfer in Kauf genommen werden und diese sogar gerade gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sind.

Vgl. zum Argument, Angriffe auf die Zivilbevölkerung lägen nicht im Fokus bzw. im Interesse der Taliban, noch das Urteil des OVG NRW vom 26.08.2014 - 13 A 2998/11.A -, NVwZ-RR 2014, 939, bei dem es sich um das jüngste obergerichtliche Urteil zur Frage, ob Kabul eine interne Schutzalternative darstellen kann, handelt.

Die gravierendsten Beispiele sind der Anschlag auf die Hazara-Demonstration vom 23. Juli 2016 und sowie der vom 31. Mai 2017, bei dem ebenfalls der überwiegende Anteil der Opfer Zivilisten waren.

ee) Neben diesen allgemeinen Sicherheitsproblemen sehen sich Rückkehrer aus dem westlichen Ausland - freiwillig Zurückgekehrte aber insbesondere auch Abgeschobene - zusätzlichen Risiken ausgesetzt. Sie sehen sich dem generellen Verdacht gegenüber, ihr Land und ihre religiöse Pflicht verraten zu haben.

Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 2017/5-6, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4, je m.w.N.; UNCHR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 97, insb. Rn. 545.

Ein Aufenthalt im westlichen Ausland wird vermehrt dahin wahrgenommen, der Zurückkehrende habe sich der europäischen Kultur und dem Lebensstil angepasst. Es herrscht die Erwartung, der Betroffene werde entsprechendes (Fehl-) Verhalten auch in Afghanistan weiter an den Tag legen, etwa außereheliche Beziehungen, Alkohol- und Drogenkonsum und alle möglichen Varianten von Apostasie. Schon entsprechende Gerüchte können ausreichen, um staatliche Verfolgung, jedenfalls aber Selbstjustiz - auch durch Angehörige - wegen des vermeintlichen Bruchs kultureller und religiöser Normen bis hin zur Bestrafung mit dem Tod auszulösen.

Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 7 ff. m.w.N., u.a. auch Berichte von Einzelerfahrungen sowie zur Illustration des gesellschaftlichen Gewaltpotentials bei entsprechendem Verdacht auch der Verweis auf den Fall Farkhunda: Die junge Studentin islamischer Theologie war wegen des (jeder Grundlage entbehrenden) Vorwurfs der Islamfeindlichkeit/Koranverbrennung/Verwestlichung Opfer eines von staatlichen Kräften geduldeten und später sogar teils gelobten Lynchmordes geworden, vgl. dazu auch Stahlmann, Bedrohung im sozialen Alltag Afghanistans - Der fehlende Schutz bei Verfolgung und Gewalt durch private Akteure, Asylmagazin 2017/3, 82 (83); zum Fall Farkhunda außerdem auch: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Januar 2016 zu Afghanistan: Situation einer ledigen Mutter der Hazara-Ethnie in Kabul, 22.01.2016, S. 9 f. sowie auch US Department of State, Afghanistan 2016 Human Rights Report, 17.03.2017, S. 11; zum Risiko der vermeintlichen "Kontamination" durch die westliche Lebensweise: Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. S. 4 f./Rn. 13und dies., Risks on return to Kabul, 12.08.2016,S. 19/Rn. 49; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 29 ff. m.w.N.; zur Problematik der vermeintlichen "Verwestlichung" bei Frauen ausführlich auch Giesler/Wohnig, Uneinheitliche Entscheidungspraxis zu Afghanistan - Eine Untersuchung zur aktuellen Afghanistan-Entscheidungspraxis des BAMF und der Gerichte (Ergänzte Fassung zur Kurzfassung aus Asylmagazin 2017/6, 223) (asyl.net), S. 13 f. m.w.N.

Die Unterstützung durch Angehörige und Familie - soweit vorhanden - ist darüber hinaus des Öfteren eingeschränkt, weil die Rückkehr nach Afghanistan als Ausdruck des Versagens trotz des vermeintlich leichten Lebens im Westen verstanden wird und gleichzeitig der Verdacht schwelt, der Zurückkehrende habe womöglich eine schwere Straftat in Europa begangen. Denn nach einer in Afghanistan verbreiteten Auffassung schiebt Europa nur Straftäter ab. Im vermeintlich regellosen Europa müsse der Abgeschobene also ein schweres Verbrechen verübt haben.

Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 9; zum Stigma des Versagens auch Naber, Afghanistan: Gründe der Flucht und Sorgen jugendlicher Rückkehrer - Eine Auswertung aktueller Studien zur Lage von Kindern und Jugendlichen in Afghanistan, Asylmagazin 1-2/2016, 3 (7) und auch Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 35 sowie S. 36 zur Assoziation der Rückkehr mit Kriminalität, je m.w.N.

Außerdem kann einer Unterstützung durch die Familie auch entgegenstehen, dass diese erhebliche Mittel aufgewendet oder sogar Geld geliehen hat, um die Reise zu finanzieren. Neben dem Vorwurf, der Zurückkehrende habe die erwartete (Versorgungs-) Leistung nicht erbracht, droht auch die Rückforderung durch die Kreditgeber, mit der Folge, dass der Rückkehrer seiner Familie nicht willkommen, sondern "bestenfalls" nur eine Belastung für diese ist.

Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 38 und 41.

Des Weiteren wird als Gefahr beschrieben, dass die Taliban die Flucht als ein Verhalten werten, mit dem man sich ihrem Machtanspruch entziehen will. Nachvollziehbar erscheint angesichts dessen, dass von Seiten der Taliban das Interesse bestehen soll, zur allgemeinen Abschreckung diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die sich ihnen entzogen haben.

Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 2017/5-6, 189 (196); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 4 ff., je m.w.N.; UNCHR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 41 f.; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 33 f. m.w.N.

Entsprechend wird die ohnehin allgemein übliche Überprüfung der Biographie der Rückkehrer durch das neue soziale Umfeld noch sorgfältiger als üblich vorgenommen, da sie wegen ihrer Flucht grundsätzlich verdächtigt werden, sich persönlicher Verfolgung entzogen zu haben - sei es durch militante Gruppierungen oder Privatpersonen.

Stahlmann, Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 5, m.w.N.; ähnlich Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 40 und 43 m.w.N. vgl. auch S. 35 m.w.N. zur Problematik der Diskriminierung/Entlassung bei Bekanntwerden eines vorangegangenen Aufenthalts im westlichen Ausland.

Zudem wird angesichts des - grob verzerrt und übersteigert wahrgenommenen - Reichtums in Europa ("Jeder Europäer ist (Euro-)Millionär") in Afghanistan oft davon ausgegangen, dass Rückkehrer von dort während ihrer Zeit im Westen zu Wohlstand gekommen sind. Sowohl sie selbst als auch ihre Familien laufen daher Gefahr, Opfer von Entführungen zu werden, die lebensbedrohlich sein können, insbesondere wenn nicht gezahlt wird oder werden kann. Das gleiche gilt für bekanntgewordenen Kontakt mit Ausländern.

Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 2017/5-6, 189 (198); dies., Landeskundliche Stellungnahme Afghanistan vom 30.05.2017, S. 10 f., je m.w.N.; Schuster, Report for the Upper Tribunal in the case of XXXX YYYY, 08.11.2016, S. 6 f./Rn. 18 sowie Schuster, Risks on return to Kabul, 12.08.2016, S. 20/Rn. 52; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 29 f. und S. 40, je m.w.N.

Auch soll bei Rückkehrern schon vermutet worden sein, es müsse sich um westliche Spione handeln.

Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 2017/5-6, 189 (196) m.w.N.; UNCHR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, S. 47, insb. Rn. 256; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 36 m.w.N.

Schließlich berichten Rückkehrer von Problemen mit Behörden oder Sicherheitskräften, insbesondere weil sie als anders aussehend wahrgenommen werden, weil sie keine Tazkira haben, aber auch, weil sie als Sicherheitsrisiko empfunden werden, da sie mangels Ausbildung und mangels Chancen auf Arbeit als potentielle Drogenhändler oder durch bewaffnete regierungsfeindliche Kräfte leicht zu rekrutierende Personen gesehen werden.

Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 18.

ff) Andererseits können Rückkehrer - anders als die übrige Bevölkerung Kabuls - von Unterstützungsmaßnahmen profitieren.

Zusammenfassend hierzu: Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 6 f. und Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 19 bis 29.

Insbesondere gibt es finanzielle Unterstützung für freiwillige, aber auch abgeschobene Rückkehrer. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) bietet in Deutschland verschiedene Rückkehrhilfen an. Unterstützung in Gestalt von Geldzahlungen können afghanische Rückkehrer, die sich freiwillig in ihr Heimatland zurückbegeben, über zwei Programme des IOM erlangen.

Das REAG/GARP-Programm 2017 ("Reintegration and Emigration Program for Asylum-Seekers in Germany"/"Government Assisted Repatriation Program") gewährt eine Reisebeihilfe (etwa die Übernahme der Beförderungskosten) sowie eine Starthilfe. Die Starthilfe für Erwachsene und Jugendliche beträgt 500 EUR, für ein Kind unter zwölf Jahren werden 250 EUR gezahlt. Anträge können über eine kommunale bzw. Landesbehörde (z.B. Sozialamt, Ausländerbehörde), Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, Zentrale Rückkehrberatungsstellen oder über den UNHCR gestellt werden.

IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Informationsblatt Projekt "Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen" (Juli 2017), S. 1; IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt "Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen", Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Juli 2017), S. 5); IOM, REAG/GARP-Programm 2017, Projekt "Bundesweite finanzielle Unterstützung freiwilliger Rückkehrer/Innen", Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Januar 2017), S. 5.

Im Jahr 2017 hat der Bund außerdem ein weiteres Programm initiiert: Das StarthilfePlus-Programm 2017 gewährt Personen, die freiwillig in ihr Heimatland zurückkehren, eine (zum REAG/GARP-Programm zusätzliche) finanzielle Unterstützung. Das Programm ist nach einem Stufenmodell aufgebaut: Bei Entscheidung zur Ausreise und Rücknahme des Asylantrags vor Abschluss des Asylverfahrens werden 1.200 EUR geleistet (für Kinder unter 12 Jahren 600 EUR pro Kind). Nach der Zustellung eines negativen Asylerstbescheids werden 800 EUR (für Kinder 400 EUR) gewährt, wenn die verbindliche Entscheidung zur freiwilligen Ausreise innerhalb der im Bescheid gesetzten Ausreisefrist erfolgt und keine Rechtsbehelfe bzw. Rechtsmittel eingelegt bzw. bereits eingelegte zurückgenommen werden. Eine dritte Stufe (Übergangsstufe) sieht Leistungen ebenfalls im Umfang 800 EUR (bzw. 400 EUR pro Kind) vor. Sie betrifft Rückkehrwillige, die entweder vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist, oder solche, die eine Duldung nach § 60a AufenthG besitzen oder einen Folgeantrag nach § 71 AsylG oder einen Zweitantrag nach § 71a AsylG gestellt haben. Voraussetzung für Leistungen aus der Übergangsstufe ist allerdings, dass der Rückkehrwillige vor dem 1. Februar 2017 in Deutschland registriert worden ist und sich innerhalb der ersten sechs Monate nach Inkrafttreten des Programms (also zwischen dem 1. Februar und dem 31. Juli 2017) verbindlich dazu entscheidet, freiwillig aus Deutschland auszureisen, und ggf. gestellte Anträge, Rechtsbehelfe oder Rechtsmittel, die auf Gewährung von Asyl, Sicherung des Verbleibs in Deutschland oder eine Einreise nach Deutschland gerichtet sind, zurücknimmt.

BAMF/IOM, StarthilfePlus-Programm 2017, Merkblatt für deutsche Behörden, Mitglieder der Wohlfahrtsverbände, Fachberatungsstellen, zentrale Rückkehrberatungsstellen, Ausländerbeauftragte und den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCHR) (Februar 2017), S. 2; BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017:Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017.

Angesichts der letztgenannten Voraussetzung käme das StarthilfePlus-Programm im Falle des Klägers nicht zum Tragen, da der 31. Juli 2017 verstrichen ist.

Die Auszahlung der Gelder aus dem Programm REAG/GARP erfolgt noch in Deutschland, die der StarthilfePlus je zur Hälfte am Abflughafen und zur Hälfte in Afghanistan nach etwa sechs bis acht Monaten. Ansonsten erfolgen Bargeldzahlungen durch die IOM üblicherweise unmittelbar nach der Ankunft am Flughafen oder in einem der IOM-Büros vor Ort.

IOM/ZIRF, Mitteilung vom 14.08.2017 zu den Programmen des IOM für freiwillige Rückkehrer (StarthilfePlus, REAG/GARP) auf eine Anfrage des VGH Bad.-Württ. vom 10.07.2017 (A 11 S 512/17); BAMF/IOM, Übersichtsblatt zur StarthilfePlus 2017: Zusätzliche finanzielle Unterstützung bei der freiwilligen Rückkehr, Februar 2017; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 13, 17 und 25 m.w.N.

Darüber hinaus bietet die IOM über das European Reintegration Network (ERIN) das Unterstützungsprogramm ERIN Specific Action für Rückkehrer nach Afghanistan an. Dieses hat allerdings - anders als die vorgenannten Programme - keine Geldleistungen zum Gegenstand. Das ERIN Specific Action Program gewährt Unterstützung nach der Ankunft und bei der Reintegration in Afghanistan, wobei freiwillige Rückkehrer größere Unterstützung ("larger re-integration packages”) erhalten als diejenigen, die nicht freiwillig zurückgekehrt sind. Die Inanspruchnahme des ERIN Specific Action Program setzt eine Bewerbung vor der Rückkehr voraus. Angeboten werden ein Empfangs- und Orientierungsservice bei der Ankunft am Flughafen, Unterstützung beim Weitertransport, Empfehlungen zur Sicherstellung der durchgehenden Versorgung mit dringender ärztlicher Behandlung und eine Notfallunterbringung von mindestens einer Woche. Zur weiteren Wiedereingliederung kann die Beratung durch einen IOM-Mitarbeiter in Anspruch genommen werden, der den Rückkehrern und ihren Familien etwa bei der Planung einer Strategie zur Reintegration helfen kann und auch dazu, wie sie die ihnen gewährten nationalen Zuschüsse sinnvoll verwenden können. Möglich sind Hilfestellungen bei Existenzgründungen, die Beratung bei der Suche und Vermittlung von Arbeitsstellen, die Vermittlung in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen, Unterstützung in sozialen, medizinischen und rechtlichen Angelegenheit oder die Unterstützung bei der Wohnraumbeschaffung. Die Unterstützungsleistungen werden nicht durch Direktzahlungen erbracht, sondern durch Beratungs- und Sachleistungen. Bei rückgeführten Personen können diese höchstens einen Wert von 700 EUR haben. Berücksichtigungsfähige Kriterien bei der Prüfung sind existenzsichernde Maßnahmen, individueller medizinischer Bedarf, die Rückkehr weiterer Familienangehöriger, die Dauer des Aufenthalts in Deutschland bzw. der Abwesenheit im Heimatland sowie die Vulnerabilität des Betroffenen. Die Reintegrationsmaßnahmen legen der Rückkehrer und der Mitarbeiter vor Ort individuell fest. Die Unterstützung soll nach drei bis sechs Monaten weitgehend abgeschlossen sein.

Siehe insgesamt: BAMF/ERIN, Programmsteckbrief ERIN - European Reintegration Network, Rückkehrerhilfen (Projektdauer Juni 2016 bis Dezember 2021), 14.08.2017 IOM/ ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Briefing Note, 13.03.2017; ERIN/IOM, ERIN - European Reintegration Network, Specific Action Program, Afghanistan Leaflet, 13.03.2017.

Der tatsächliche Abruf der IOM-Programme ist allerdings begrenzt. Dies scheint vor allem an technischen und bürokratischen Hürden zu liegen. Im Falle abgeschobener Personen kann hinzukommen, dass diese die Ankunft und Rückkehr am Flughafen in Kabul als demütigend empfinden, deswegen nicht das Bedürfnis verspüren, dort zu verweilen und entsprechend auch nicht den Kontakt zu dem dortigen IOM-Mitarbeiter suchen. Wenn der Umstand der Rückkehr als erdrückend empfunden wird, hat dies unter Umständen zur Folge, dass sie ihre Zeit mit dem Versuch verbringen, sich anzupassen, dass sie auf Grund von Depressionen nicht die Kraft für Verwaltungsaufgaben aufbringen, dass sie die Weitergabe von Informationen an die Behörden fürchten oder dass es ihnen an einem Telefon oder dem Geld für die Reise zu einem der IOM-Büros mangelt. Als maßgeblicher Grund wird auch vermutet, dass die Betroffenen nicht auf die Notwendigkeit der Kontaktaufnahme zu dem IOM-Mitarbeiter hingewiesen werden.

Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9 f., Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 26 f. m.w.N.; dort auch auf S. 48 zur Problematik, dass von Teilnehmern des IOM-Programms bemängelt worden sei, keine individualisierte Beratung statt, sondern die Beratung zur Planung eines Geschäftsbetriebs sei immer gleich ("one-size-fits-all").

Auch von Seiten der afghanischen Regierung gibt es Unterstützungsprogramme für Rückkehrer aus Europa.

Im April 2015 hat die afghanische Regierung zunächst eine Hohe Kommission für Migration gegründet, im November 2016 dann ein gesondert auf die Belange von Rückkehrern gerichtetes Komitee (Displacement and Returnees Executive Committee). Dessen Funktion ist es, eine Strategie zur Koordination von humanitären und Entwicklungsprogrammen festzulegen sowie die Entwicklung von Richtlinien zur Unterstützung (u.a.) von Rückkehrern. Dabei geht es nicht nur um die finanzielle Unterstützung des Einzelnen; damit die Rückkehrer nicht als gescheitert und unfähig zur Leistung des von ihnen erwarteten Beitrags erscheinen, ist auch die finanzielle Unterstützung der Gemeinschaft angedacht. Der Ansatz ist allerdings kritisiert worden, etwa weil er die örtliche Korruption nicht berücksichtige.

Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 28.

Die derzeit von Seiten der afghanischen Regierung gewährten Hilfen bewegen sich im Bereich der Arbeit bzw. Arbeitsvermittlung, des rechtlichen Beistands sowie Fragen von Grund und Boden sowie Obdach. Die Unterstützung wird dabei nicht von einer einzelnen Institution gewährt. Vielmehr muss der Rückkehrer selbst die Initiative ergreifen und sich an die jeweils zuständige Stelle wenden - etwa an das Arbeitsministerium, wenn er Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten will. Allerdings berichten Rückkehrer aus Europa, dass nur wenige tatsächlich Unterstützung in irgendeiner Art erhalten hätten, mit Ausnahme einer zweiwöchigen Unterbringung durch die Regierung.

Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 28.

Schließlich gibt es auch lokale nichtstaatliche Organisationen, die freiwillige und abgeschobene Rückkehrer unterstützen, etwa IPSO (International Psychosocial Organisation) und AMASO (Afghanistan Migrants Advice & Support Organisation). IPSO ist eine in Deutschland ansässige Organisation mit psychosozialen Unterstützungsangeboten (Selbsterfahrungsgruppen, Übungen zum Leben in Afghanistan, Eins-zu-Eins-Beratung, Malen und Handarbeit). AMASO gewährt Rückkehrern - vorwiegend aus nordischen Ländern - die Möglichkeit einer Unterkunft für mehr als zwei Wochen. Außerdem bietet eine örtliche Anwaltskanzlei (freiwilligen) Rückkehrern aus Norwegen ihre Dienstleistungen an. Etablierte Koordinationsmechanismen zur Sicherstellung der benötigten Unterstützung für alle Rückkehrer oder zu deren Gleichbehandlung scheint es allerdings insgesamt nicht zu geben.

Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 7, dort auch S. 10 zu AMASO und IPSO; Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 28 f., dort auf S. 53 auch ausführlicher zu IPSO sowie auf S. 64 ausführlicher zur AMASO, dort auch zur Betreuung eines aus Deutschland abgeschobenen, bei einem Bombenanschlag verletzten Rückkehrers.

Eine weitere Unterstützungsleistung können Rückkehrer zudem in Form einer kurzfristigen Unterbringung erlangen. Die IOM bietet in einem sogenannten Empfangszentrum (Jangalak reception centre) eine vorübergehende Unterkunft für höchstens zwei Wochen. Es handelt sich um ein Gebäude auf dem Gelände des Ministeriums für Flüchtlinge und Neuverteilung auf dem Gelände der früheren Jangalak-Fabrik. Dort gibt es 24 Zimmer mit je zwei bis drei Betten. Sowohl freiwillige als auch abgeschobene Rückkehrer können dort unterkommen. Zwölf Mitarbeiter betreuen die Rückkehrer. 2016 nutzten 43 Personen das Angebot. Sie blieben durchschnittlich für sieben Nächte.

Afghanistan Analysts Network - voluntary and forced returns to Afghanistan in 2016/17: trends, statistics and experiences, 19.05.2017, S. 9.

Im Rahmen einer entsprechenden Befragung erklärten mehrere Rückkehrer, sie wollten auf das Angebot nicht zurückgreifen, weil sie glaubten, der Aufenthalt dort berge das Risiko, dass sie als Rückkehrer identifiziert würden.

Asylos - research for asylum, Afghanistan: Situation of young male "Westernised" returnees to Kabul, August 2017, S. 63.

c) Unter Berücksichtigung dieser aktuell in Kabul herrschenden Umstände kann vom Kläger und seiner Frau mit den beiden minderjährigen Kindern nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich dort niederzulassen.

Denn der Kläger wird angesichts der Verhältnisse in Kabul nicht in der Lage sein, dort den Lebensunterhalt für sich und seine Familie zu sichern und auch nur einfache Lebensbedingungen zu erreichen.

Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ist der Kläger bei dieser Wertungsfrage nicht als alleinstehender Mann zu behandeln. Diese Auffassung übergeht die familiären Bindungen, aus denen sich - selbstredend auch in Afghanistan - das Recht ergibt, als Familie zusammenzuleben und die Pflicht, füreinander im Rahmen des Möglichen, auch finanziell, einzustehen.

Vgl. Rastin-Tehrani/ Yassari, Max Planck Manual on Family Law in Afghanistan, 2nd edt., S. 55 ff., 100 ff.; im Übrigen zur entsprechenden Wertung auch über Afghanistan hinaus: Art. 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie Art. 23 RL 2011/95/EU, Art. 7 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - GRCh -, Art. 6 GG und Art. 8 EMRK.

Die Annahme des Verwaltungsgerichts, der Kläger und dessen Frau sowie die gemeinsamen minderjährigen Kinder könnten auf eine "Fernbeziehung" verwiesen werden, ist umso fernliegender, als die Trennung offensichtlich nicht auf einem autonomen Entschluss der Familienmitglieder beruht, sondern gerade Folge der Verfolgung des Klägers ist. Der Verweis darauf, dass der Kläger während der Zeit seines Militärdienstes schon von seiner Familie getrennt gewesen sei, ist hier daher entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts ohne jede Bedeutung. Vom Kläger und seiner Familie kann nicht verlangt werden, die zwischenzeitlich fluchtbedingt eingetretene Trennung auf (angesichts der nicht absehbaren Dauer der Verfolgungslage) ungewisse Zeit aufrecht zu erhalten, indem er sich in Kabul niederlässt, während seine Ehefrau und seine Kinder in der Provinz Laghman bei den Schwiegereltern des Klägers verbleiben. Die damit einhergehende, einzig denkbare Möglichkeit zum Kontakt der Familienmitglieder untereinander wäre der Besuch von Frau und Kindern in Kabul oder das Zusammentreffen an einem anderen "sicheren" Ort, was aber für eine unbegleitete Frau mit Kindern nicht vorstellbar ist und (allein im Hinblick auf den Reiseweg) mit vielfältigen Gefährdungen einherginge.

Wie vorstehend ausgeführt, sind mit einem Leben in Kabul erhebliche Aufwendungen verbunden, die den Kläger und seine Familie erwarten würden. Dies beginnt mit den allgemeinen Lebenshaltungskosten, die für Familien mit 250 bis 600 EUR pro Monat bemessen werden.

S.o. die Ausführungen für eine Familie bestehend aus dem Vater und drei Kindern.

Hinzu kämen die Kosten für die Unterkunft, da der Kläger selbst allenfalls mit einer Unterbringung unmittelbar nach der Ankunft für die Dauer von zwei Wochen (etwa im Jangalak-Zentrum) rechnen könnte. Sollte der Kläger auf dem "freien Wohnungsmarkt" (was angesichts des Erfordernisses von Beziehungen und Netzwerken bereits fraglich ist) mit Hilfe eines Maklers eine Unterkunft finden, müsste er neben den monatlichen Mietkosten

- hierzu s.o.: schon bei einem alleinstehenden Mann wäre eine Spanne von 88 US$ (umgerechnet ca. 75 EUR) und 300 US$ (umgerechnet ca. 255 EUR) sowie Nebenkosten mit ca. 20 bis 25 EUR zu erwarten, bei einer Dreizimmerwohnung in Kabul wären es sogar ca. 300 EUR/Monat zuzüglich Nebenkosten von ca. 30 EUR -,

von denen nach den vorliegenden Erkenntnismitteln bis zu sechs Monate im Voraus an den Vermieter zu leisten wären, auch eine Monatsmiete an den Makler zahlen.

Die 500 EUR, die der Kläger bei einer Entscheidung zur freiwilligen Rückkehr über das REAG/GARP-Programm erhalten würde, würden somit bei sparsamer Lebensweise schon den allgemeinen Lebensunterhalt der Familie in den ersten zwei Monaten nicht abdecken, geschweige denn die schon im Vorfeld einer Wohnungsanmietung anfallenden Mietvorauszahlungen, zu denen ggf. auch die Kosten einer professionellen Vermittlung der Wohnung hinzukommen können.

Im Falle des Klägers kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass er verlässlich in der Lage sein wird, das für einen auch nur einigermaßen angemessenen Lebensunterhalt Erforderliche durch Erwerbstätigkeit zu erlangen.

Wie sich aus den vorstehenden Darstellungen ergibt, ist der Arbeitsmarkt in Kabul mehr als nur angespannt. Wie der Kläger, der über keine Netzwerke verfügt, über die er in Kabul eine Arbeitsstelle erlangen könnte, Arbeit finden soll, ist nicht ersichtlich. So ist der Kläger auch kein gesunder Mann. Wie sich aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen, an denen der Senat keinen Anlass zu Zweifeln hat, ergibt, ist die Beweglichkeit der linken Hand des Klägers (dies betrifft insbesondere Daumen und Zeigefinger und die Möglichkeit, die Hand zu schließen) eingeschränkt. Mehr noch als diese objektive bestehende gesundheitliche Beeinträchtigung, die nach den glaubhaften Angaben des Klägers schon in der Vergangenheit (in der Türkei) dazu geführt hat, dass er von Tagelöhnertätigkeiten weggeschickt worden war, steht den Erwerbschancen des Klägers entgegen, dass diese Beeinträchtigung angesichts der zurückgebliebenen Narben insbesondere auch im Bereich des Unterarms deutlich sichtbar ist. Dass sich ein Arbeitgeber auf der Suche nach einem Tagelöhner aus dem zwischenzeitlich fast uferlosen Pool an Kräften gerade den sichtlich beeinträchtigten Kläger aussuchen sollte, bei dem im Hinblick auf Art und Umfang seiner Narben auch der Verdacht naheliegt, er habe aktiv - auf welcher Seite auch immer - an Kampfhandlungen teilgenommen, ist mehr als nur unwahrscheinlich. Umgekehrt müsste der Kläger stets mit der Sorge leben, dass Personen, die ihn wider Erwarten doch als Tagelöhner mit sich nehmen wollten, dies tatsächlich nur anbieten, weil sie ihn infolge seiner sichtbaren Narben als feindlichen Kämpfer einschätzen und deswegen zur Rechenschaft ziehen wollen.

Der Senat geht dabei auch davon aus, dass weder die in Deutschland begonnene Ausbildung des Klägers noch seine - auch in der mündlichen Verhandlung wiederholt bewiesenen - deutschen Sprachkenntnisse zu einem Vorteil bei der Arbeitssuche in Kabul führen. Abgesehen davon, dass - wie ausgeführt - eine fachliche Qualifikation bei der Vergabe eines Arbeitsplatzes in Afghanistan bestenfalls zweitrangig hinter dem viel wichtigeren Umstand persönlicher Beziehungen steht, hat der Senat Zweifel, ob ein Zeugnis oder eine Bestätigung aus Deutschland über eine Tätigkeit oder eine (ohnehin noch nicht abgeschlossene) Ausbildung in der Gastronomie in Afghanistan Anerkennung erfährt. Vielmehr setzte sich der Kläger, der durch Vorlage solcher Unterlagen seinen Aufenthalt in Deutschland offenbaren würde, den beschriebenen Gefahren für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland aus, die sich im günstigsten Fall auf kritische Rück- und Nachfragen bei ihm selbst und auch bei Dritten bis in seine Heimatregion erstrecken könnten. Gleiches gilt für die deutschen Sprachkenntnisse des Klägers, wobei im Übrigen auch nicht ersichtlich ist, welche (Tagelöhner- oder sonstige) Tätigkeit in Kabul solche erfordern könnte.

Schließlich steht dem (ausgemusterten) Kläger schon auf Grund seines gesundheitlichen Zustandes nicht mehr die Möglichkeit offen, den Lebensunterhalt für die Familie - wie im angegriffenen Urteil ohne nachvollziehbare Begründung vorgeschlagen - erneut als Soldat der afghanischen Armee zu erwirtschaften.

Davon, dass der Kläger trotz seiner Flucht aus seiner Heimatregion noch über realisierbare Vermögenswerte dort verfügen könnte, kann nicht ausgegangen werden.

Ferner ist angesichts der geschilderten Umstände auf dem afghanischen Arbeitsmarkt und der gesellschaftlichen Verhältnisse auch nicht zu erwarten, dass die Ehefrau des Klägers in der Lage sein wird, den Lebensunterhalt für die vierköpfige Familie in Kabul zu erbringen oder auch nur einen nennenswerten Beitrag beizusteuern.

Daher kann vom Kläger schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht vernünftigerweise erwartet werden, sich in Kabul niederzulassen. Denn es ist bereits nicht gewährleistet, dass der Lebensunterhalt der Familie - auch nicht auf niedrigem Niveau - sowie eine (auch nur schlichte) Unterkunft für die Familie gesichert wäre.

Es kommt daher auch nicht mehr darauf an, ob nicht auch die dargestellte prekäre Sicherheitslage bereits für sich - soweit sie sich noch nicht zu einem realen und habhaften Risiko, mit hoher Wahrscheinlichkeit Opfer eines Anschlags zu werden, verdichtet hat (ggf. sogar im Grad des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG) - gegen die Zumutbarkeit internen Schutzes spricht. Gleiches gilt im Übrigen auch bezüglich der Gefahr, dass der Kläger sich bei der womöglich erforderlichen Arbeitssuche als Tagelöhner gleichsam am Straßenrand der Gefahr aussetzen müsste, von seinen Verfolgern oder ihnen nahestehenden Personen erkannt zu werden - mit der Folge, dass neben den Voraussetzungen des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG auch die des § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG nicht erfüllt wären.

Schließlich bedarf es angesichts vorstehender Ausführungen keiner weiteren Erörterung zum Zustand der medizinischen Versorgung in Afghanistan.

d) Der Senat hat auch keine Anhaltspunkte dahin, dass der Kläger an einem anderen Ort in Afghanistan internen Schutz erlangen könnte.

Die Beklagte hat auf Nachfrage des Senats zu den ihrer Auffassung nach bestehenden Möglichkeiten, in Afghanistan internen Schutz im Sinne des § 3e AsylG zu erlangen, allein auf Kabul und die dortige Lage verwiesen, was insbesondere auch im Hinblick auf die Problematik der Erreichbarkeit anderer Landesteile nachvollziehbar ist. Denn es ist bereits eine tatsächliche, zumutbare Erreichbarkeit anderer Landesteile gemäß § 3e Abs. 1 Nr. 2 Var. 1 AsylG

- dazu ausführlicher auch Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 11. Aufl. 2016, § 3e AsylG Rn. 3, dort auch zum Erfordernis der auf verlässliche Tatsachenfeststellungen gestützten Prognose der tatsächlichen Erreichbarkeit sowie auch Kluth, in: BeckOK AuslR, 15. Edition Stand 01.08.2017, § 3e AsylG Rn. 3 zum Erfordernis praktisch und sicher nutzbarer Verkehrsverbindungen -

angesichts der Lage der landesweiten Verbindungsstraßen Afghanistans nicht ersichtlich. Seit dem Jahr 2013 sind regierungsfeindliche Elemente immer erfolgreicher beim Abschneiden der Hauptverkehrsstraßen geworden. Seit Anfang 2014 haben sie zunehmend die Kontrolle über die Haupttransport- und -zufahrtsstraßen. Im Oktober 2016 blockierten die Taliban die Straße von Kabul nach Mazar-e Sharif, behielten sie unter ihrer Kontrolle und suchten systematisch nach Regierungsbeamten oder - sympathisanten. Auch die Bewohner der Dschuzdschan (auch Jawzjan) Provinz haben ihre Besorgnis über die wachsenden Bedrohungen auf der Shiberghan-Sar-e Pol-Autobahn ausgedrückt. Nur ein kurzer Teil zwischen Kabul und der Wardak-Provinz kann normal passiert werden. Im August 2016 hatten die Taliban die Autobahn zwischen Helmand und Kandahar für mehrere Wochen blockiert. Auch kleinere Straßen in ländlichen Gebieten werden regelmäßig von den Taliban blockiert oder geschlossen. Außerdem sind Entführungen, Geiselnahmen und Hinrichtungen von Zivilisten im Schnellverfahren auf den Straßen eine ernste und wachsende Bedrohung. So wurden am 30. Mai 2016 in der Provinz Kunduz fast 200 Männer, Frauen und Kinder zum Verlassen dreier ziviler Busse gezwungen und einige von ihnen wurden hingerichtet. Bei einem weiteren Vorfall am 1. Juni 2016 entführten bewaffnete Angreifer 25 Zivilisten - Männer und Frauen -, die in zwei Bussen in Sar-e Pol reisten. Die beiden Verbindungsstraßen von der Zentralregion gelegenen Provinz Bamiyan - der überwiegend von Hazara bewohnten Provinz - werden wegen der vielen Entführungen und Enthauptungen dort nicht nur von NGO- und Regierungsmitarbeitern, sondern auch von Bauern, Busfahrern, Frauen und Kindern als "Straßen des Todes” bezeichnet. Darüber hinaus sind auch improvisierte Sprengfallen und Landminen ernsthafte Probleme auf afghanischen Straßen.

EASO, Country of Origin Information Report Afghanistan - Security Situation (November 2016), S. 37 f.; Stahlmann, Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, ZAR 2017/5-6, 189 (194); siehe auch UNHCR, Anmerkungen zur Situation in Afghanistan auf Anfrage des deutschen Bundesministerium des Inneren - Dezember 2016, S. 6; zu den Straßenverbindungen sowie zum Verkehrswesen insgesamt ergänzend auch: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Afghanistan (Gesamtaktualisierung vom 02.03.2017, letzte Kurzinformation eingefügt am 27.06.2017), S. 109 bis 122; zur Blockade von Überlandstraßen durch die Taliban auch Auswärtiges Amt, Zwischenbericht: Lagebeurteilung für Afghanistan nach dem Anschlag am 31. Mai 2017 - Stand Juli 2017, S. 6.

Darüber hinaus ist auch nicht ersichtlich, in welcher der 34 Provinzen Afghanistans bzw. an welchem Ort in Afghanistan die Verhältnisse zum einen betreffend die Sicherheitslage und zum anderen hinsichtlich der Möglichkeit der Existenzsicherung derart sind, dass dem Kläger eine Niederlassung dort - anders als in Kabul - zumutbar wäre.

Denn die zuvor als in etlichen Bereichen als Grundvoraussetzung des täglichen Lebens beschriebenen Netzwerke kämen im Falle des Klägers nur in Bezug auf die Provinz Laghman in Betracht. So hat er persönliche (Ver-) Bindungen und Beziehungen nur dorthin, insbesondere in das Dorf A., wo sich seine Frau und seine Kinder bei seinen Schwiegereltern aufhalten. Dort ist allerdings bereits nicht gewährleistet, dass der Kläger sicher vor Verfolgung leben kann. Denn der Ort befindet sich in unmittelbarer räumlicher Nähe zum Dorf T. im Distrikt Alishing, nämlich in einer Entfernung von drei Stunden Fußmarsch. Eben dort war der Kläger aber flüchtlingsrechtlich relevanter Vorverfolgung ausgesetzt, bezüglich derer die Vermutung erneuter Verfolgung nicht widerlegt ist (s.o.).

4. Insgesamt hat der Kläger daher einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weswegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe vom 21. November 2016 zu ändern und der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 12. Januar 2016 - mit Ausnahme der bestandskräftig gewordenen Ablehnung der Ankerkennung des Klägers als Asylberechtigter (Ziffer 2 des Bescheids) - aufzuheben ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit aus § 83b AsylG. Gründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO, die Revision zuzulassen, liegen im Hinblick auf den wegen der gesundheitlichen und familiären Situation des Klägers gegebenen Einzelfallcharakter der Entscheidung nicht vor.