LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.11.2015 - L 6 AS 1480/15 B ER und L 6 AS 1481/15 B
Fundstelle
openJur 2019, 24615
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. S 41 AS 2107/15 ER
Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Düsseldorf vom 07.08.2015 geändert und dem Antragsteller Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin T, L, bewilligt. Dem Antragsteller wird für das ER-Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin T, L, beigeordnet. Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten des Antragsstellers im ER-Beschwerdeverfahren. Kosten sind im PKH-Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe

I.

Die Beteiligten stritten im gerichtlichen Eilverfahren über die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit ab 11.06.2015.

Der 1986 geborene Antragsteller, seine 2007 und 2013 geborenen Kinder und seine Partnerin, die er im Verlauf des Beschwerdeverfahrens am 31.07.2015 geheiratet hat, sind bulgarische Staatsbürger. Er lebt nach eigenen Angaben seit ca. 2011 in Deutschland. Vom 01.04.2014 bis zum 30.09.2014 war er selbständig als Kurierdienstfahrer tätig. Seine Ehefrau übt seit Oktober 2014 eine geringfügige Beschäftigung aus. Für die Zeit von Oktober 2014 bis 31.03.2015 bezogen der Antragsteller und die Mitglieder seiner Familie Leistungen nach dem SGB II. Auf den Weiterbewilligungsantrag vom 31.03.2015 bewilligte der Antragsgegner Leistungen für die Ehefrau und die Kinder des Antragstellers und lehnte die Gewährung von Leistungen für den Antragsteller für die Zeit ab 01.05.2015 mit der Begründung ab, er sei nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Nach persönlicher Vorsprache des Antragstellers beim Antragsgegner beantragte die Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 03.06.2015 erneut ausdrücklich Leistungen auch für den Antragssteller. Nach telefonischer Rücksprache der Prozessbevollmächtigten mit dem Antragsgegner wurde vereinbart, dass zunächst nicht über den Antrag entschieden werden solle, da die Weisungslage für den Antragsgegner eindeutig sei. Es solle zunächst ein einstweiliges Rechtsschutzverfahren durchgeführt werden.

Am 11.06.2015 hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung und die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt.

Mit Beschluss vom 07.08.2015 hat das Sozialgericht Düsseldorf den Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt. Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt, eine hinreichende Erfolgsaussicht des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bestehe nicht. Zur Begründung hat sich das Sozialgericht auf seine Ausführungen zum einstweiligen Rechtsschutzverfahren bezogen.

Gegen den Beschluss hat der Antragsteller am 20.08.2015 Beschwerde erhoben.

Im gerichtlichen Eilverfahren hat der Antragsgegner - nachdem der Antragsteller seine Partnerin geheiratet hat - Leistungen für die Zeit ab 31.07.2015 rückwirkend bewilligt (Bescheid vom 25.08.2015). Daraufhin hat der Antragsteller das ER-Verfahren für erledigt erklärt und beantragt, dem Antragsgegner die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen. Diese haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

II.

Die zulässige Beschwerde gegen die Ablehnung der Gewährung von Prozesskostenhilfe ist begründet.

Nach § 73a Sozialgerichtsgesetz (SGG) in Verbindung mit §§ 114, 115 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichend Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Die von den Antragstellern eingeleitete Rechtsverfolgung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren hat erstinstanzlich hinreichende Erfolgsaussicht geboten.

Nach § 86b Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 S. 2 SGG). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung setzt grundsätzlich voraus, dass der Antragsteller das Bestehen eines zu sichernden Rechts (den so genannten Anordnungsanspruch) und die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung (den so genannten Anordnungsgrund) glaubhaft macht (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG, § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung - ZPO -).

Der Anordnungsanspruch war glaubhaft gemacht.

Die Voraussetzungen des Leistungsanspruchs zu Alter, Erwerbsfähigkeit, gewöhnlichem Aufenthalt und Hilfebedürftigkeit (§ 7 Abs. 1 S. 1 SGB II) sind glaubhaft gemacht. Es kann hier offen bleiben, ob die einfachgesetzlichen Voraussetzungen des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vorlagen und der Antragsteller sich nur zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhält oder ein anderer Aufenthaltsgrund nach dem FreizügigkeitsgesetzEU aufgrund der Partnerschaft und gemeinsamen Erziehung mit der Mutter seiner leiblichen Kinder vorlag.

Dem Antragsteller standen und stehen unabhängig davon Leistungen auch nach der Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in Sachen Alimanovic (EuGH, Urteil vom 15.09.2015, C-67/14) in der beantragten vorläufigen Form jedenfalls nach § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) zu.

Nach der über § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II anwendbaren Vorschrift des § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III kann über die Erbringung von Geldleistungen vorläufig entschieden werden, wenn eine entscheidungserhebliche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung Gegenstand eines Verfahrens beim Bundessozialgericht (BSG) ist.

Von entscheidungserheblicher Bedeutung ist die Frage, ob der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, so wie ihn der EuGH ausgelegt wissen will, gegen Verfassungsrecht verstößt. Auch nach der Entscheidung des EuGH vom 15.09.2015 behalten die mitgliedsstaatlichen Grundrechte trotz der Einschlägigkeit des Unionsrechts ihre eigenständige Funktion (vgl. Kingreen in NVwZ 2015,1503 (1506) unter Hinweis auf das Urteil des EuGH vom 11.11.2014 - C-333/13 - Dano, Rdnr. 84 ff; vgl auch BVerfG Urteil vom 24.04.2013 - 1 BvR 1215/07 - BverfGE 133, 277 (316)). Auf der Grundlage gerade auch der Rechtsprechung des BVerfG bestehen aber berechtigte Bedenken, ob die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in der geltenden Form verfassungsgemäß ist. Denn das BVerfG hat in seiner Entscheidung zum Asylbewerberleistungsgesetz (Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10,1 BvL 2/1) ausgeführt, Art. 1 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 1 GG begründe einen Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums als Menschenrecht, das deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zusteht. Insofern müsse ein Leistungsanspruch eingeräumt werden.

Soweit diesem Anspruch entgegen gehalten wird, es stehe dem Antragsteller frei, in sein Heimatland zurückzukehren (vgl etwa LSG BW Beschluss vom 29.06.2015 - L 1 AS 2338/15 ER-B; s. auch LSG NRW Beschluss vom 20.08.2015 - L 12 AS 1180/15 B ER -, Bay LSG Beschluss vom 01.010.2015 - L 7 AS 627/15 B ER -, LSG Hamburg Beschluss vom 15.10.2015 - L 4 AS 403/15 B ER), hat dieser Einwand seine sozialpolitische Bedeutung, aber keinen inhaltlichargumentativen Bezug zu den o.a. verfassungsrechtlichen Vorgaben. Denn der Gewährleistungspflicht aus Art. 1 Abs. 1 GG iVm Art. 20 Abs. 1 GG entspricht deshalb ein Leistungsanspruch des Grundrechts-/Menschenrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde des Einzelnen schützt und diese Würde in solchen Notlagen nur oder doch zumindest in erster Linie durch materielle Unterstützung gesichert werden kann (LSG NW Beschluss vom 04.05.2015 - L 7 AS 139/15 B ER). Der Einwand beantwortet schlicht die Frage nicht, auf welche Weise und in welchem Sicherungssystem das menschenwürdige Existenzminimum bis zur Ausreise sichergestellt wird, wenn der Betroffene nicht zur Ausreise verpflichtet ist - erst die (vollziehbare) Verpflichtung zur Ausreise hätte diese Ausländer dem Asylbewerberleistungsgesetz als Sicherungssystem zugewiesen (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG).

Wie weit der Leistungsausschluss reicht und ob bei - verfassungskonformer - Auslegung Leistungen nach dem SGB II oder auch Grundsicherungsleistungen nach dem SGB XII oder auch dem AsylbLG in Betracht kommen, ist in den beim BSG anhängigen Verfahren (vgl etwa B 14 AS 51/13 R, B 14 AS 15/15 R, B 14 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R, B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 9/13 R, B 4 AS 24/14 R) von vorgreiflicher Bedeutung. Je nach weichenstellendem Ergebnis wäre ggfs zu klären, ob Art. 1 Abs. 1 GG iVm Art 20 Abs. 1 GG doch als eigenständige Anspruchsgrundlage fungieren kann oder ob verfassungsrechtlich relevante Fragen über eine Vorlage nach Art. 100 BVerfG zu klären sind.

Angesichts der bereits im Vorfeld der Entscheidung des EuGH in Sa Alimanovic vorgetragenen und anschließend wiederholt geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl etwa SG Mainz Beschluss vom 02.09.2015 - S 3 AS 599/15 ER, Kingreen NVwZ 2015, 1503 ff; Kirchhof NZS 2015, 1; Wunder SGb 2015, 620, vgl auch BSG Urteil vom 25.06.2015 - B 14 AS 17/14; juris, Rn 23) steht zu erwarten, dass sich das BSG zu diesen vorgreiflichen Rechtsfragen äußern wird. Die Rechtsfrage, ob die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen Verfassungsrecht verstößt bzw. verfassungskonform einschränkend auszulegen ist, ist jedenfalls in den Verfahren B 14 AS 15/15 R, B 4 AS 59/13 R und B 14 AS 51/13 R auch entscheidungserheblich. Bei den in diesen Verfahren betroffenen alleinstehenden Klägern lässt sich ein Aufenthaltsrecht jedenfalls auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen in den angefochtenen Urteilen der Landessozialgerichte (LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19.03.2015 - L 31 AS 1258/14 -, Hessisches LSG, Urteil vom 20.09.2013 - L 7 AS 474/13 - und Bayerisches LSG, Urteil vom 19.06.2013 - L 16 AS 847/12 -) nur aus dem Zweck der Arbeitssuche herleiten. Die Klärung ist von grundsätzlicher Bedeutung, da sie über den zu entscheidenden Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit im allgemeinen Interesse erforderlich ist.

Die Ablehnung von Leistungen für die Zeit ab dem 01.04.2015 durch Bescheid vom 08.04.2015 steht der Bewilligung vorläufiger Leistungen nach § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III nicht entgegen.

Die ablehnende Entscheidung als solche lässt den Anspruch auf vorläufige Leistungen nach § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III nicht bereits aus rechtssystematischen Gründen entfallen. Einer entsprechenden in Literatur und Rechtsprechung vertretenen Auffassung (LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 20.03.2014 - L 29 AS 514/14 B ER - juris; vom 17.03.2014 - L 20 AS 502/14 B ER - juris; Aubel in jurisPK-SGB II, § 40 Rz. 61.1) schließt sich das Gericht nicht an.

Der Senat folgt der Rechtsprechung des BSG, wonach Leistungsbescheide über vorläufige Leistungen (vorläufige Leistungsbescheide) durch die endgültige Festsetzung (endgültige Leistungsbescheide) ersetzt werden und sich dann auf sonstige Weise im Sinne des § 39 Abs. 2 SGB X erledigen (BSG Urteil vom 10.05.2011 - B 4 AS 139/10 R - juris; vgl. auch LSG NRW Urteil vom 31.10.2012 - L 12 AS 691/11 - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 20.03.2014 - L 29 AS 514/14 B ER - juris; vom 17.03.2014 - L 20 AS 502/14 B ER - juris, Aubel in jurisPK-SGB II aaO). "Auf andere Weise erledigen" kann sich ein vorläufiger Leistungsbescheid in diesem Zusammenhang aber nur dann, wenn die Voraussetzungen für seinen Erlass nicht mehr vorliegen (vgl BSG Urteil vom 10.05.2011 - B 4 AS 139/10 R - juris; LSG NRW Urteil vom 31.10.2012 - L 12 AS 691/11 - juris). Dem folgend entfällt der Anspruch auf vorläufige Leistungen nach § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III bei Erlass eines Ablehnungsbescheides erst dann, wenn kein entsprechendes Verfahren beim BSG mehr anhängig ist. Denn § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III ermächtigt dazu, eine "Zwischenregelung" zu treffen, bis die Rechtsfragen, die zu Grund, Höhe und/oder Dauer des Anspruchs entscheidungserheblich sein müssen, geklärt sind (vgl etwa Düe in Brand SGB III 6. Aufl. § 328 Rdnrn 2, 12).

Gerade wenn der Leistungsträger nach einfachgesetzlicher Überprüfung zu dem Ergebnis gelangt ist, ein Anspruch bestehe nicht, nicht in dieser Höhe oder nicht in diesem zeitlichen Umfang, beginnt der Anwendungsbereich des § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III (s. auch Schmidt-De Caluwe in Mutschler/Schmidt-De Caluwe/Coseriu SGB III 5. Aufl. § 328 Rn 5). Denn der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift eine Handhabe bieten wollen, die Leistungen für den Berechtigten kurzfristig verfügbar zu machen und Härten zu vermeiden, die mit längeren Bearbeitungs- oder Zeiten der Unsicherheit über die Rechtslage verbunden sind (Düe aaO Rdnr 2, 5; Schmidt-De Caluwe aaO Rnr 4-9). Für die Dauer des Verfahrens beim BSG bleibt jedenfalls, solange der Ablehnungsbescheid nicht bestandskräftig geworden ist, Raum für eine Ermessensentscheidung, ob und ggfs in welcher Höhe dennoch Leistungen gewährt werden. Ungeachtet des Umstandes, dass der bestandskräftige Ablehnungsbescheid vom 08.04.2015 Gegenstand einer Überprüfung nach § 44 SGB X ist, ist auch über den weiteren Leistungsantrag des Antragstellers vom 03.06.2015 noch nicht entschieden. Im Unterschied zu § 42 SGB I setzt § 328 Abs. 1 Nr. 2 SGB III nicht voraus, dass der Anspruch (dem Grunde nach) besteht. Gerade der Umstand, dass in Revisionsverfahren Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung (hier zumal die Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht) zur Klärung anstehen, ist der Anknüpfungspunkt und zeitliche Anwendungsbereich der Vorschrift (vgl auch Schmidt-De Caluwe aaO Rn 5), der einer Erledigung nach § 39 Abs. 2 SGB X entgegen steht. Anwendungsbereich des und Anspruch aus/über § 328 Abs. 1 Nr. 2 SGB III werden nicht dadurch eingeschränkt, dass der Leistungsträger seine Auffassung durch einen Ablehnungsbescheid bereits verlautbart hat. Folgt man dieser Ansicht nicht, hätte der Leistungsträger es in der Hand, bei gleichgelagerter Bedarfs- und Interessenlage die Möglichkeit, vorläufige Leistungen in Anspruch zu nehmen, zu steuern im Sinne von verhindern.

Ist § 328 Abs. 1 bis 3 SGB III als eine Norm im Sinne des § 31 SGB I anzusehen, der den Leistungsträger zum Erlass einer Zwischenregelung ermächtigt, eine Ausnahme vom Verbot des vorzeitigen Verfahrensabschlusses enthält und auch der Verwaltungsvereinfachung dient, kann aus der Regelung ungeachtet ihrer grundsätzlichen Einordnung als (eher) verfahrensrechtliche oder materiellrechtliche Bestimmung zwanglos (auch) ein subjektiv-öffentliches Recht auf pflichtgemäße Ermessensausübung (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB I) abgeleitet werden (zur Zielsetzung der Norm und Doppelnatur des Anspruchs s auch Schmidt-De Caluwe aaO Rn 4-9).

Die über diesen Anspruch erstrebte Zwischenregelung hat über die Zuerkennung vorläufiger Leistungen am Ergebnis orientierte Gemeinsamkeiten mit einer Anordnung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren. Sie unterscheidet sich aber in den Voraussetzungen, im verfahrensrechtlichen Rahmen und im Beweismaßstab, so dass der Anspruch aus/über § 328 Abs. 1 S. Nrn. 1,2 SGB III und seine Durchsetzung durch die Möglichkeiten einer einstweiligen Anordnung im Eilverfahren nicht entbehrlich wird. Auch der Anspruch aus § 328 Abs. 1 SGB III kann Gegenstand eines Eilverfahrens sein.

Die Anwendbarkeit des § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III ist nicht auf die Fälle beschränkt, in denen leistungsbegründende, nicht aber - wie hier - leistungsausschließende Normen Gegenstand des Verfahrens sind (so aber SG Karlsruhe Beschluss vom 29.12.2014 - S 15 AS 4229/14 ER). Dies lässt sich über die allgemein üblichen Regeln zur Auslegung einer Norm nicht begründen. Selbst wenn es sich bei § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III nicht um eine eigenständige materiellrechtliche Anspruchsgrundlage, sondern (eher) um eine verfahrensrechtlich geprägte Vorschrift handeln sollte, sind weder dem Wortlaut noch der Systematik auch nur ansatzweise Anhaltspunkte für eine solche weitreichende Beschränkung zu entnehmen. Die Ermächtigung zum Erlass einer "Zwischen"-Regelung hat nicht nur den Leistungsträger, sondern - wie bereits oben ausgeführt - auch den Antragsteller im Blick. Er soll nicht (allein) die Nachteile tragen müssen, die mit längeren Bearbeitungszeiten in den von § 328 Abs. 1 Satz 1 Nrn 1 bis 3 SGB III genannten Fällen verbunden sind (Schmidt-De Caluwe aaO Rn 4). Die Klärung grundsätzlicher Rechtsfragen betrifft zweifellos auch leistungsausschließende Normen. Der Gesetzgeber der Vorgängerregelung zu § 328 SGB III (§ 147 AFG) hatte jedenfalls sämtliche Entscheidungen zu Grund und Höhe im Blick, über die dann auch vorläufig entschieden werden dürfe (Düe aaO Rn 5). Im Übrigen ist die Unterscheidung zwischen leistungsbegründenden und leistungsausschließenden Normen von vorneherein nicht sachgerecht, da dieser Unterschied sich selten in der gesetzestechnischen Ausgestaltung so klar abbildet, wie hier im Falle des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Wie etwa die Altersgrenzen in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB II zeigen, können leistungsausschließende Merkmale ohne weiteres auch in die leistungsbegründende Norm eingearbeitet werden.

Spätestens mit dem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vom 11.06.2015 hat der Antragsteller auch die Gewährung vorläufiger Leistungen beantragt. Er hat hinreichend deutlich gemacht, dass er sich in einer wirtschaftlichen Notsituation befindet, die eine unmittelbare Leistungsbewilligung erforderlich macht. Mit der Wahl des Eilverfahrens hat er unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er kurzfristig zumindest die Bewilligung vorläufiger Leistungen begehrt. Über diesen Antrag, der der Sache nach eine zeitnahe Entscheidung verlangt (vgl. auch §§ 42 Abs. 1 letzter Halbsatz, 43 Abs. 1 letzter Halbsatz SGB I), hat der Antragsgegner noch nicht entschieden, jedoch telefonisch gegenüber der Prozessbevollmächtigten deutlich gemacht, dass er sich zu einer Bewilligung der Leistungen für den Antragsteller nicht in der Lage sehe.

Bei dem hier in Rede stehenden Arbeitslosengeld II handelt es sich um eine (Geld-) Leistung, auf die bei zutreffender Beurteilung des Ermessens nach Maßgabe des § 328 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGB III ein Rechtsanspruch besteht.

Der Umstand, dass der Gesetzgeber den Tatbestand "Gegenstand eines Verfahrens beim Bundessozialgericht ist" in § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB III nicht mit der Rechtsfolge einer gebunden Entscheidung verknüpft hat, sondern der Behörde für diesen Fall eine Entscheidung nach pflichtgemäßen Ermessen eingeräumt hat, spricht nicht von vorneherein gegen eine Ermessensreduzierung auf "Null" (so aber anscheinend LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 10.12.2014 - L 20 AS 2697/14 B ER). Nach allgemein anerkannten Grundsätzen kann bei der zugewiesenen pflichtgemäßen Ausübung des Ermessens (§ 39 SGB I) im Einzelfall das Ermessen soweit eingeengt sein, dass nur (die) eine Entscheidung rechtmäßig ist und über diesen Weg eine bestimmte Entscheidung zu ergehen hat, auf die der Betroffene einen Rechtsanspruch hat. Mit dieser Begründung ließe sich ansonsten jegliche Ermessensreduzierung auf "Null" als nicht gewollt darstellen.

Unabhängig von der Zielrichtung der Geldleistungen dürfte es schon regelmäßig pflichtwidrig sein, bei Erfüllung der Voraussetzungen nach § 328 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 und 2 SGB III jegliche vorläufige Leistung abzulehnen (so auch Düe in Brand, SGB III, 6. Auflage 2012, § 328 Rn 18 mwN; vgl auch Schmidt-De Caluwe aaO Rnr 4 aE und 37). Bei der Berücksichtigung etwaiger Abschläge wurde auch vor Inkrafttreten des SGB II ein Unterschreiten der Grenzen nach dem SGB II/SGB XII als problematisch angesehen. Angesichts des existenzsichernden Charakters des Arbeitslosengeldes II sowohl in Gestalt der Regelleistung als auch der Kosten der Unterkunft und des aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleiteten Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfG Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 - juris Rn. 62) wird nach Überzeugung des Senats der Ermessensspielraum weiter eingeengt und im Ergebnis auf Null reduziert, so dass ein Anspruch auf die vorläufige Bewilligung des Arbeitslosengeldes II in voller Höhe besteht (vgl. Eicher aaO; s auch LSG Thüringen Beschluss vom 25.04.2014 - L 4 AS 306/14 B ER - juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 27.05.2014 - L 34 AS 1150/14 B ER - www.sozialgerichtsbarkeit.de; SG Halle/Saale Beschluss vom 30.05.2014 - S 17 AS. 2325/14 ER - juris, mwN jeweils zur Ermessensreduzierung auf Null bei existenzsichernden SGB II-Leistungen).

Für die Verpflichtung des Antragsgegners zur Erbringung der Leistungen bestand auch ein Anordnungsgrund. Ob der Antragsteller gegen den Bescheid vom 08.04.2015 Widerspruch eingelegt hat, kann hier dahinstehen. Jedenfalls hatte er durch persönliche Vorsprache und Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten spätestens am 11.06.2015 einen neuen Antrag auf zumindest vorläufige Leistungen gestellt. Der Antragsgegner hatte deutlich gemacht, dass er sich nicht in der Lage sehe, Leistungen zu bewilligen.

Dem Antragsteller drohten ohne eine einstweilige Anordnung schwerwiegende Nachteile, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr abgewendet werden konnten. Jedenfalls hinsichtlich des Regelbedarfs folgt dies für die in der Vergangenheit hingenommenen und für die in Zukunft abzuwendenden Beeinträchtigungen schon aus dem unmittelbaren Grundrechtseingriff (Art. 1 Abs. 1 GG), der durch die Verweigerung der zur Deckung des täglichen Lebensbedarfs erforderlichen Mittel entsteht.

Der Antragsteller ist ausweislich der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse bedürftig. Er verfügt daher über kein im Rahmen des § 115 ZPO einzusetzendes Einkommen oder Vermögen, so dass ihm (ratenfrei) Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Verfahren zu bewilligen gewesen ist. Die Beiordnung des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers ist auch erforderlich i.S.v. § 121 Abs. 2 ZPO, weil sich auch ein bemittelter Antragsteller vernünftigerweise eines Rechtsanwaltes bedient hätte.

Dem Antragsteller war entsprechend auch für das ER-Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen.

Der Antragsgegner hat die dem Antragsteller in beiden Rechtszügen im ER-Verfahren entstandenen Kosten zu erstatten. Da das Verfahren auf andere Weise als durch Beschluss beendet worden ist, hat das Gericht auf Antrag des Antragstellers eine Entscheidung durch Beschluss zu treffen, § 193 Abs. 1 Satz 3 SGG.

Die zu treffende Kostenentscheidung hat unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu ergehen. Für die Kostenentscheidung sind neben den Erfolgsaussichten des Antrags oder der Beschwerde auch die Gründe für die Antragstellung und die Erledigung zu prüfen (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig u.a., 11. Aufl. 2014 § 193 Rdnr. 13). Nach dem Streitstand zum Zeitpunkt der Erledigung des ER-Verfahrens hatte die Beschwerde vollumfänglich Aussicht auf Erfolg, so dass der Antragsgegner die Kosten zu tragen hat.

Die Kosten des PKH-Beschwerdeverfahrens sind nicht erstattungsfähig (§ 73a SGG i.V.m. § 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).

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