LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 28.06.2017 - L 13 EG 46/15 NZB
Fundstelle
openJur 2019, 24036
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. S 36 EG 5/14
  • nachfolgend: Az. B 10 EG 1/17 S
Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16.11.2015 - S 36 EG 5/14 - wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind im Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten um Elterngeld nach dem Gesetz zum Elterngeld und zur Elternzeit (BEEG).

Die am 00.00.1971 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige mit kurdischer Abstammung. 1995 reiste sie mit ihrem Ehemann und ihrem ersten Kind C in die Bundesrepublik ein. Ihre Asylanträge wurden abgelehnt. Die Abschiebung wurde seit 1996 wiederholt ausgesetzt (sogenannte Duldung). 2005 wurden auch Anträge auf Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen nach § 25 Abs. 5 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) abgelehnt. Am 19.12.2007 erhielt die Klägerin eine Aufenthaltserlaubnis, befristet bis zum 01.07.2008, nach dem seit dem 28.08.2007 gültigen § 104a AufenthG. Am 19.06.2008 erhielt sie eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG, zunächst befristet bis zum 31.12.2009. Seit dem 21.03.2013 verfügt die Klägerin über eine unbefristete Niederlassungserlaubnis.

Jedenfalls ab 2006 bezog die Klägerin Sozialhilfe. Am 00.00.2007 wurde das vierte Kind der Klägerin, C1, geboren. Am 24.04.2007 stellte die Klägerin beim damaligen Versorgungsamt E einen Antrag auf Elterngeld für die ersten zwölf Lebensmonate des Kindes C1. Das damalige Versorgungsamt lehnte den Antrag ab. Die Klägerin verfüge über keinen der in § 1 Abs. 7 BEEG im Fall nicht freizügigkeitsberechtigter Ausländer für einen Leistungsbezug erforderlichen Aufenthaltstitel (Bescheid vom 08.05.2007). Die Klägerin legte am 21.05.2007 Widerspruch ein, den die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 19.10.2007 zurückwies.

Am 05.11.2007 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Düsseldorf erhoben, zunächst gegen das Land Nordrhein-Westfalen. Ihr stünden Leistungen spätestens ab Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zu. Der Leistungsausschluss für Ausländer mit Aufenthaltserlaubnissen nach § 104a AufenthG verstoße gegen die Verfassung. Dies ergebe sich aus dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Erziehungsgeld vom 06.07.2004 (1 BvR 2515/95) und dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu § 1 Abs. 7 Nr. 3b BEEG vom 10.07.2012 (1 BvL 2/10, 1 BvL 3/10, 1 BvL 4/10, 1 BvL 3/11). Mit Beschluss vom 04.12.2012 (1 BvL 4/12) habe das Bundesverfassungsgericht über eine Vorlage des Bundessozialgerichts zu § 1 Abs. 7 Nr. 2d BEEG nicht in der Sache entschieden, sondern die Vorlage lediglich als unzulässig angesehen. Außerdem ergebe sich aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes zum Kindergeld vom 04.05.1999 (C-262/96), dass sie als türkische Staatsangehörige Anspruch auf Elterngeld habe.

Die Klägerin hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 16.11.2015 beantragt,

den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 08.05.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.10.2007 zu verurteilen, ihr Elterngeld für das Kind C1 für die Zeit vom 10.01. bis 09.03.2008 in Höhe von je 300 EUR monatlich zu gewähren.

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat auf den Gesetzeswortlaut verwiesen und ausgeführt, die ausländerrechtlichen Entscheidungen hätten Tatbestandswirkung.

Das Sozialgericht hat nach der Kommunalisierung der Versorgungsverwaltung zum 01.01.2008 das Land NRW aus dem Verfahren entlassen und den S-Kreis als Beklagten aufgenommen. Es hat das Verfahren mit Zustimmung der Beteiligten vorübergehend im Hinblick auf ein Revisionsverfahren beim Bundessozialgericht (B 10 EG 9/09 R = B 10 EG 14/12 R) zum Ruhen gebracht.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom 16.11.2015 abgewiesen. Die Klägerin habe in den maßgeblichen ersten zwölf Lebensmonaten des Kindes zunächst keine und dann lediglich eine Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG gehabt. Letztere sei nach § 1 Abs. 7 Nr. 2d BEEG nicht ausreichend. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden nicht. Dies ergebe sich aus dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 10.07.2014 (B 10 EG 1/13 R). Die Berufung sei angesichts dieser Entscheidung nicht zuzulassen.

Die Klägerin hat gegen die Nichtzulassung der Berufung in dem ihr am 01.12.2015 zugestellten Urteil am 10.12.2015 Beschwerde eingelegt und erneut auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zum Kindergeld vom 04.05.1999 (C-262/96) verwiesen.

Der Beklagte hat vorgetragen, dieses Urteil sei zum einen nicht einschlägig, zum anderen ergebe sich aus dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 10.07.2014 (B 10 EG 1/13 R), dass keine Ungleichbehandlung vorliege.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten Bezug genommen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts bedarf nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) der Zulassung, da der Wert des Beschwerdegegenstandes - Elterngeld in Höhe von 300 EUR für den Zeitraum 10.01.2008 bis zum 09.03.2008, also 600 EUR - einen Betrag von 750 EUR nicht übersteigt. Das Sozialgericht hat die Berufung nicht zugelassen. Einer ausdrücklichen Ablehnung im Tenor bedurfte es nicht (vgl. Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl. 2017, § 160 Rn 24, § 144 Rn 41).

Die Berufung ist auch nicht auf die Beschwerde der Klägerin zuzulassen.

Nach § 144 Abs. 2 SGG ist eine Berufung zuzulassen, wenn

1. die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat

2. das Urteil von einer Entscheidung des Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgericht abweicht oder

3. ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.

Zulassungsgründe in diesem Sinn liegen nicht vor.

Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache im Sinne von § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG, wenn sie eine bisher ungeklärte Rechtsfrage aufwirft, deren Klärung im allgemeinen Interesse liegt, um die Rechtseinheit zu erhalten und die Weiterentwicklung des Rechts zu fördern. Ein Individualinteresse genügt nicht. Die Rechtsfrage muss klärungsbedürftig und klärungsfähig sein (vgl. Leitherer, a.a.O., § 144 Rn 28; BSG, Beschluss vom 25.10.2016 - B 10 ÜG 24/16 B, juris Rn 7; Beschluss vom 27.01.1999 - B 4 RA 131/98 B, juris Rn 9). Die Rechtsfrage darf sich nicht unmittelbar und ohne Weiteres aus dem Gesetz beantworten lassen oder bereits von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entschieden sein (Leitherer, a.a.O., § 160 Rn 8 ff.; BSG, Beschluss vom 07.09.2016 - B 10 LW 1/16 B, juris Rn 6).

Hier liegt eine Klärung durch das Urteil des Bundessozialgerichts vom 10.07.2014 (B 10 EG 1/13 R) vor. Seine früheren verfassungsrechtlichen Bedenken hat das Bundessozialgericht unter Einbeziehung der Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 04.12.2012 (1 BvL 4/12) nicht aufrecht erhalten. Es ist nicht ersichtlich, dass gegen die Entscheidung des Bundessozialgerichts im Schrifttum erhebliche Einwände vorgebracht worden sind.

Soweit die Klägerin auf frühere Entscheidungen europäischer Gerichte und des Bundesverfassungsgerichts zu verwandten Rechtsgebieten verweist, führt auch dies zu keiner grundsätzlichen Bedeutung (vgl. zur Möglichkeit der Annahme einer grundsätzlichen Bedeutung bei einer Abweichung von Entscheidungen anderer als den in § 140 Abs. 2 Nr. 2 SGG genannten Gerichte Leitherer, a.a.O., § 160 Rn 11). Denn weder die Entscheidung des Bundessozialgerichts, noch die des Sozialgerichts, das sich auf erstere bezieht, stehen im Widerspruch zu den vorgenannten Entscheidungen. Diese Entscheidungen betrafen andere Vorschriften. Die Annahme einer Ungleichbehandlung erfolgte jeweils vor dem Hintergrund des spezifischen Regelungszusammenhangs (vgl. etwa EGMR, Urteil vom 25.10.2005 - 59140/00 "Okpisz", juris Rn 71). Das Bundesverfassungsgericht, das auf die Vorlage des Bundessozialgerichts erst mit Beschluss vom 10.07.2012 (1 BvL 2/10, 1 BvL 3/10, 1 BvL 4/10, 1 BvL 3/11) die Verfassungswidrigkeit von § 1 Abs. 7 Nr. 3b BEEG festgestellt hatte, hielt in seinem Beschluss vom 04.12.2012 (1 BvL 4/12) die weitere Vorlage des Bundessozialgerichts zu dem hier maßgeblichen § 1 Abs. 7 Nr. 2d BEEG gerade deshalb für unzulässig, weil keine hinreichende Auseinandersetzung mit dem konkreten fachrechtlichen Regelungszusammenhang erfolgt sei (vgl. Rn 21 ff. des Beschlusses vom 04.12.2012). Das Bundessozialgericht hat diese Auseinandersetzung mit seinem Urteil vom 10.07.2014 (B 10 EG 1/13 R) nachgeholt und in seine Überlegungen auch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung einbezogen.

Ob die Klägerin einen Anspruch auf Elterngeld aus § 1 Abs. 1 BEEG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 3/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften auf die türkischen Arbeitnehmer und auf deren Familienangehörige (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Nr. C 110/69) hat, auf den sich der von der Klägerin zitierte Beschluss des Europäischen Gerichtshofes vom 04.05.1999 (C-262/96) bezieht, ist keine Frage von grundsätzlicher Bedeutung. Denn dass sich ein Leistungsanspruch nach dem vorgenannten Beschluss unabhängig von den Voraussetzungen von § 1 Abs. 7 BEEG ergeben kann (vgl. hierzu Grüner/Dalichau, BEEG, § 1 S. 69; Gutmann, Familienleistungen und Kinderbetreuung, ZESAR 2009, S. 221, 222), stellte das damalige Versorgungsamt nicht in Frage, verneinte aber, wie auch der Beklagte, dessen Voraussetzung der Arbeitnehmereigenschaft mangels Pflichtversicherung bzw. freiwilliger Versicherung in einem Zweig eines "Systems der sozialen Sicherheit für Arbeitnehmer" (vgl. Art. 1 lit. b) i) des Beschlusses Nr. 3/80). Die Klägerin hat lediglich auf den vorgenannten Beschluss des Europäischen Gerichtshofes verwiesen. Das Sozialgericht hat sich im angefochtenen Urteil hierzu nicht näher geäußert. Ob die Klägerin oder ihr Ehemann seinerzeit pflichtversichert in einem Zweig der Sozialversicherung waren, wofür im Übrigen Nichts spricht, ist weder eine Rechtsfrage, noch eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung.

Eine Divergenz setzt voraus, dass einerseits ein abstrakter Rechtssatz der anzufechtenden Entscheidung und andererseits ein der Entscheidung eines der in Abs. 2 Nr. 2 genannten Gerichte zu entnehmender Rechtssatz nicht übereinstimmen. Diese Abweichung muss zwar nicht bewusst erfolgen. Es muss aber ein die Entscheidung tragender Rechtssatz entwickelt worden sein (vgl. Leitherer, a.a.O., § 160 Rn 13, 14, 14a; BSG, Beschluss vom 25.10.2016 - B 10 ÜG 24/16 B, juris Rn 12; Beschluss vom 27.01.1999 - B 4 RA 131/98 B, juris Rn 10 ff.).

Eine solche Abweichung liegt hier nicht vor. Auf die Ausführungen zur fehlenden grundsätzlichen Bedeutung wird Bezug genommen.

Verfahrensmängel sind nicht gerügt (vgl. zur Erforderlichkeit einer entsprechenden Rüge Leitherer, a.a.O., § 140 Rn 36).

Mit der Ablehnung der Nichtzulassungsbeschwerde wird das Urteil rechtskräftig, § 145 Abs. 4 Satz 4 SGG.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.

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