OLG Köln, Beschluss vom 27.12.2017 - III-1 RVs 304/17
Fundstelle
openJur 2019, 22049
  • Rkr:

§ 329 Abs. 6 2. Halbs. StPO ermächtigt die Berufungsstrafkammer nicht dazu, im Falle einer neuen Entscheidung über die Gesamtstrafe auch über die Aussetzungsfrage neu zu entscheiden. Die Bildung der neuen Gesamtstrafe kann daher dem Beschlussverfahren gemäß §§ 460, 462 StPO überlassen werden.

Tenor

I. Es wird klargestellt, dass der Angeklagte wegen Herbeiführens einer Sprengstoffexplosion in Tateinheit mit Diebstahl, wegen versuchten Diebstahls, wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln sowie wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit vorsätzlichem Führen eines Kraftfahrzeugs ohne Pflichtversicherung und Urkundenfälschung verurteilt ist.

II. Unter Verwerfung der weitergehenden Revision wird das angefochtene Urteil aufgehoben, soweit die Bildung einer neuen Gesamtstrafe unterblieben ist.

III. Die nachträgliche gerichtliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach §§ 460, 462 StPO ist durch das nach § 462a Abs. 3 StPO dafür zuständige Gericht zu treffen, das auch über die Kosten der Revision zu entscheiden hat.

Gründe

I.

Das Amtsgericht - Schöffengericht - Geilenkirchen hat den Angeklagten am 6. Dezember 2016 wegen "mittäterschaftlicher Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion in minder schwerem Fall in Tateinheit mit Diebstahl in besonders schwerem Fall (Einzelstrafe: 8 Monate) sowie wegen gemeinschaftlichen versuchten Diebstahls (Einzelstrafe: 7 Monate), gemeinschaftlicher unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln (Einzelstrafe: 2 Monate), unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in drei Fällen (Einzelstrafen: 60 Tagessätze, 3 Monate und 4 Monate Freiheitsstrafe) und Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Tateinheit mit Führens eines Kraftfahrzeugs ohne Pflichtversicherung und Urkundenfälschung (Einzelstrafe: 120 Tagessätze)" zu der unbedingten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte Berufung eingelegt.

Im Termin zur Berufungshauptverhandlung vom 24. August 2017 sind die drei Fälle des unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln gemäß § 154 Abs. 2 StPO behandelt worden. Im Fortsetzungstermin vom 31. August 2017 ist der Angeklagte ohne genügende Entschuldigung nicht erschienen und seine Berufung daher in Anwendung des § 329 Abs. 1 StPO verworfen worden.

Hiergegen richtet sich seine Revision, mit welcher er die Nichtanwendung des § 329 Abs. 6 StPO beanstandet und insbesondere die Auffassung vertritt, bei der Neubemessung der Gesamtstrafe sei auch über die Aussetzungsfrage neu zu befinden. Die Sache bedürfe daher der Durchführung einer Hauptverhandlung.

II.

Das Zulässigkeitsbedenken nicht unterliegende - nach Auffassung des Senats unbeschränkt eingelegte - Rechtsmittel führt zu dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen (vorläufigen) Teilerfolg.

1.

Der Senat hatte zunächst Veranlassung, den Urteilstenor wie geschehen gemäß § 329 Abs. 6 1. Halbs. StPO klarzustellen und insgesamt neu zu fassen. Dabei sind insbesondere die nicht zur "rechtlichen Bezeichnung der Tat" im Sinne von § 260 Abs. 4 S. 1 StPO gehörenden Adjektive und Zusätze in Fortfall gekommen (dazu vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 60. Auflage 2017, § 260 Rz. 25). Hinsichtlich des Fahrens ohne Fahrerlaubnis sowie des Führens eines Kraftfahrzeugs ohne Pflichtversicherung hat der Senat den Tenor um die sich aus den Gründen des amtsgerichtlichen Urteils ohne weiteres ergebende Schuldform ergänzt (dazu vgl. SenE v. 24.10.2000 - Ss 417/00 -).

2.

In der Sache selbst rügt die Revision mit Recht, dass die Berufungsstrafkammer § 329 Abs. 6 2. Halbs. StPO verletzt hat. Nach dieser Vorschrift (wortgleich § 329 Abs. 1 S. 3 StPO a. F.) kann das Berufungsgericht in dem - hier gegebenen - Fall, dass die Verurteilung wegen einzelner von mehreren Taten weggefallen ist, die verbleibenden Strafen auf eine neue Gesamtstrafe zurückführen. Hier sind von erkannten Einzelstrafen in einem Gesamtumfang von insgesamt 30 Monaten neun Monate durch Behandlung der zugrundeliegenden Taten gemäß § 154 Abs. 2 StPO in Fortfall gekommen. Dieser Umstand hätte der Berufungsstrafkammer Veranlassung geben müssen, über die Gesamtstrafe neu zu befinden.

3.

Gemäß § 354 Abs. 1 b StPO verbindet der Senat die Aufhebung mit dem Ausspruch, dass eine nachträgliche Entscheidung über die Gesamtstrafe nach §§ 460, 462 StPO zu treffen ist.

Nach der genannten Vorschrift kann eine Urteilsaufhebung nur wegen einer Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe mit der Maßgabe erfolgen, dass die nachträgliche gerichtliche Entscheidung hierüber dem Beschlussverfahren gemäß § 460 StPO überantwortet wird. Hier erfolgt eine Urteilsaufhebung nur wegen einer Gesetzesverletzung bei Bildung einer Gesamtstrafe, da das Berufungsgericht - wie gezeigt - § 329 Abs. 6 2. Halbs. verletzt hat. Entgegen der von der Verteidigung geäußerten Rechtsauffassung bedarf es zur Bemessung der neuen Gesamtstrafe nicht einer neuen tatrichterlichen Verhandlung. Namentlich ist über die Aussetzungsfrage nicht (aufgrund einer Hauptverhandlung) neu zu entscheiden (vgl. zur Teileinstellung im Revisionsverfahren BGH NJW 2005, 376).

Das Verwerfungsurteil ist ein reines Prozessurteil ohne materiellrechtlichen Gehalt (Senat NJW 2001, 1223 [1224]; OLG Stuttgart Justiz 1998, 572 - zitiert nach Juris Tz. 7 je m. N.). Dem Berufungsgericht ist grundsätzlich jede Änderung des angefochtenen Urteils untersagt; lediglich § 329 Abs.6 2. Halbs. StPO bildet insoweit eine Ausnahme (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 Rz. 32; Graf-Eschelbach, StPO, 2. Auflage 2012, § 329 Rz. 35; HK-StPO-Rautenberg, 5. Auflage 2012, § 329 Rz. 28). Die Auffassung, dass, wenn schon ausnahmsweise im Rahmen des Verwerfungsurteils eine Sachentscheidung ermöglicht wird, diese sich auch auf die der Gesamtstrafenbildung nachgelagerte Bewährungsfrage erstrecken sollte, vermag der Senat nicht zu teilen. Hierfür sprechen könnte freilich, dass Fälle - zu welchen der vorliegende gehören mag - vorstellbar sind, in welchen die Grenze zwischen § 56 Abs. 1 und § 56 Abs. 2 StGB berührt ist, die neu zu bildende Gesamtstrafe also in einen Bereich "absinken" kann, in dem es für eine (positive) Aussetzungsentscheidung ausschließlich auf die Sozialprognose, nicht hingegen auf das Vorliegen besonderer Umstände ankommt.

Nach Auffassung des Senats ermächtigt indessen § 329 Abs. 6 2. Halbs. StPO den Tatrichter nicht dazu, auch über die Bewährungsfrage neu zu befinden. Die Ausnahmeregelung kann nur soweit reichen, wie dies ihr Zweck, der nachträglich eingetretenen Änderung auch im Rahmen des Verwerfungsurteils Rechnung zu tragen (OLG Rostock NStZ 1994, 401; Löwe-Rosenberg-Gössel, StPO, 26. Auflage 2013, § 329 Rz. 67; Radtke/Hohmann-Beukelmann, StPO, § 329 Rz. 23; vgl. a. BT-Drs. 7/551 S. 87), gebietet. Zur Erreichung dieses Zwecks ist aber - trotz ggf. geänderten Maßstabs - eine neue Entscheidung auch über die Aussetzungsfrage nicht vonnöten, zumal der Angeklagte durch unentschuldigtes Nichterscheinen sein Desinteresse gerade auch hieran dokumentiert hat. Es tritt hinzu, dass die Aussetzungsentscheidung in Abwesenheit des Angeklagten - namentlich im Hinblick auf die Sozialprognose - regelmäßig keine ausreichende tatsächliche Basis hat. Das ist der Grund dafür, dass selbst eine Vertretung des abwesenden Angeklagten durch einen insoweit bevollmächtigten Verteidiger regelmäßig nicht möglich, seine Anwesenheit vielmehr "erforderlich" im Sinne von § 329 Abs. 2 StPO sein wird, wenn es um die Aussetzungsfrage geht (Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 329 Rz. 36; s. a. SK-StPO-Frisch, 5. Auflage 2016, § 329 Rz. 51c; weiter BT-Drs. 18/3562 S. 73). War aber im Falle der ursprünglich gebotenen Neuentscheidung über die Gesamtstrafe nach § 329 Abs. 6 2. Halbs. StPO nicht auch zugleich über die Aussetzungsfrage neu zu befinden, bestand also die ursprüngliche Gesetzesverletzung nicht in der unterbliebenen Entscheidung auch über diese Frage, bedarf es nunmehr zur Korrektur der Gesetzesverletzung bei der Gesamtstrafenbildung im Sinne von § 354 Abs. 1b StPO auch nicht der Durchführung einer Hauptverhandlung, diese kann vielmehr dem Beschlussverfahren gemäß §§ 460, 462 StPO überantwortet werden.