Niedersächsisches OVG, Beschluss vom 30.03.2004 - 9 LB 5/03
Fundstelle
openJur 2012, 41209
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Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein ist der früheren Verfolgungssituation im Irak der Boden entzogen. Der - früher bedeutsamen - Asylantragstellung und dem langjährigen Auslandsaufenthalt kommt grundsätzlich keine asylrelevante Bedeutung mehr zu. Die Gefährdung durch terroristische Anschläge ist regelmäßig nur allgemeiner Natur.

Gründe

I. Der am 25. August 1959 in B. geborene Kläger ist irakischer Staatsangehöriger arabischer Volkszugehörigkeit moslemischen Glaubens. Nach seiner Anhörung am 3. Juli 2002 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 30. Juli 2002 den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigten ab und stellte fest, dass sowohl die Voraussetzungen des§ 51 Abs. 1 AuslGals auch Abschiebungshindernisse nach§ 53 AuslGnicht vorlägen.Die dagegen erhobene Klage hat das Verwaltungsgericht nach Anhörung des Klägers in der mündlichen Verhandlung mit Urteil vom 21. Oktober 2002 im Wesentlichen unter Wiedergabe der Urteilsgründe des OVG Münster in seinen Urteilen vom 5. Mai 1999 – 9 A 4671/98.A und vom 8. März 2001 – 9 A 2993/98.A – abgewiesen. Wegen der verwaltungsgerichtlichen Ausführungen wird auf sein Urteil vom 21. Oktober 2002 Bezug genommen.

Auf den Antrag des Klägers hat der Senat mit Beschluss vom 3. Januar 2003 (9 LA 519/02) dagegen die Berufung zugelassen. Er hat auf seine entgegenstehende ständige Rechtsprechung seit 1998 verwiesen. Irakern aus den von Saddam Hussein beherrschten Landesteilen stehe in den nordöstlichen irakischen Kurdengebieten dann keine inländische Fluchtalternative zur Verfügung, wenn sie dort nicht über verwandtschaftliche oder persönliche Beziehungen verfügten. In seinen Urteilen vom 21. Juni 2002 – 9 LB 155/02 und 9 LB 3662/01 – hat der Senat allerdings den Kreis der Personen, die im Nordirak eine inländische Fluchtalternative finden, um den der männlichen, ledigen und arbeitsfähigen Kurden erweitert. Zu diesem Personenkreis zähle der Kläger aber nicht, weil er arabischer Volkszugehörigkeit moslemischen Glaubens sei.

Mit dem zugelassenen Berufungsverfahren verfolgt der Kläger seine auf Art. 16a GG bzw. §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG gestützten Ansprüche weiter.

Mit dem Anhörungsschreiben vom 20. Januar 2004 hat der Senat die Beteiligten von seiner Absicht unterrichtet, das Berufungsverfahren nach § 130 a VwGO durch Beschluss zu entscheiden. Er hat darauf hingewiesen, dass nach den vorliegenden Erkenntnismitteln, insbesondere dem letzten Ad-hoc-Bericht des Auswärtigen Amtes vom 6. November 2003, sich die politische Situation im Irak so grundlegend geändert habe, dass an der früheren, insbesondere an die Asylantragstellung und an den Auslandsaufenthalt des Asylbewerbers anknüpfenden Rechtsprechung nicht mehr festgehalten werden könne.

In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 9. Februar 2004 hat der Kläger darauf hingewiesen, dass er im Irak keinen weiteren familiären Rückhalt habe. Seine Geschwister könnten ihn nicht aufnehmen; seine Eltern seien beide über 70 Jahre alt. Unabhängig davon lägen in seiner Person Abschiebungshindernisse gemäß § 53 AuslG vor. Gerade aus seiner Heimatstadt würden immer wieder Bombenattentate gemeldet.

Die Beklagte und der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten haben sich zu der seit dem Frühjahr 2003 grundlegend veränderten politischen Lage im Irak nicht ergänzend geäußert.

II. Der Senat entscheidet über die zugelassene Berufung nach Anhörung der Beteiligten durch Beschluss, weil er die Berufung einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 130 a VwGO).

Dem Kläger steht weder ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigten (Art. 16a GG) noch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen der §§ 51 Abs. 1, 53 Abs. 6 AuslG zu. Das angegriffene Urteil des Verwaltungsgerichts erweist sich nach den grundlegend veränderten politischen Verhältnissen und Gegebenheiten im Irak, die gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG Grundlage für die Entscheidung des Senats sind, im Ergebnis als zutreffend. Die vom Senat zugelassene Berufung des Klägers ist daher zurückzuweisen.

Der aktuelle Lagebericht des auswärtigen Amtes vom 6. 11. 2003 macht deutlich, dass sich nach dem Sturz von Saddam Hussein die politische Lage grundlegend geändert hat. Der Irak steht unter Besatzungsrecht und wird von einer Zivilverwaltung und einem Interims-Kabinett regiert.

Dem Kläger droht bei seiner Rückkehr in den Irak weder derzeit noch in absehbarer Zeit eine im Rahmen von Art. 16 a GG bzw. des § 51 Abs. 1 AuslG beachtliche politische Verfolgung. Dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 6. November 2003 ist mit großer, ja mit völliger Eindeutigkeit zu entnehmen, dass sich die politische Lage im Irak durch die am 20. März 2003 begonnene und am 1. Mai 2003 durch die Erklärung des US-Präsidenten Bush als beendet erklärte Militäraktion grundlegend verändert hat. Die Baath-Regierung unter der Führung Saddam Husseins hat, namentlich nach der Festnahme von Saddam Hussein im Dezember 2003, ihre politische und militärische Herrschaft über den Irak vollständig verloren. Der Irak steht nunmehr unter Besatzungsrecht und wird derzeit von einer "Zivilverwaltung" der Koalition ("Coalition Provisional Authority"- CPA) unter dem Sondergesandten des US-Präsidenten, Paul Bremer, sowie einem provisorischen Regierungsrat ("Governing Council") und einem Interims-Kabinett regiert. Der Sturz des Regimes von Saddam Hussein ist nach allen vorliegenden Erkenntnissen eindeutig und unumkehrbar, und zwar trotz der nach wie vor problematischen Sicherheitslage im Irak, insbesondere im Hinblick auf terroristische Anschläge. Eine Rückkehr der Baath-Regierung kann nach den derzeit gegebenen Machtverhältnissen und der Offenkundigkeit der veränderten politischen Gegebenheiten als ausgeschlossen bewertet werden.

Die Umstände, die vor dem Sturz von Saddam Hussein, eine politische Verfolgung begründen konnten, haben ihre Bedeutung verloren, weil sie ihre Grundlage allein im Unrechtsregime Saddam Husseins hatten.

Mit den veränderten politischen Gegebenheiten hat sich die Verfolgungssituation des Klägers von Grund auf geändert. Der - in der Vergangenheit in der überwiegenden Anzahl der asylrechtlichen Schicksale vorgenommenen - Anknüpfung an die Asylantragstellung und den langjährigen Auslandsaufenthalt ist mit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein der Boden entzogen. Die – frühere – Verfolgungssituation gerade durch diese asylbegründenden Umstände ist vielmehr in ihr Gegenteil verkehrt worden. Die bei der Anhörung des Klägers zum Ausdruck gebrachte Gegnerschaft zum Regime Saddam Hussein würde den Kläger nunmehr eher gegenteilig sogar gerade zum Träger bzw. zum Freund der jetzigen und das aktuelle Tagesgeschehen bestimmenden politischen Kräfte machen. Die zuvor eine politische Verfolgung begründenden Umstände haben ihre asylrelevante Bedeutung verloren, weil sie ihre Grundlage allein im Unrechtsregime von Saddam Hussein hatten. Dieser Einsicht ist – soweit ersichtlich – auch die inzwischen die veränderten politischen Gegebenheiten im Irak aufnehmende und bewertende obergerichtliche Rechtsprechung gefolgt (in jüngster Zeit insbesondere BVerwG, Urt. v. 11.2.2004 – 1 C 23.02 – zum Urt. d. Sen. v. 21.6.2002 – 9 LB 155/02 – und Urt. v. 24.2.2004 – 1 C 24.02 – zum Urt. d. Sen. v. 21.6.2002 – 9 LB 3662/01 -; ferner BayVGH, Urt. v. 13.11.2003 – 15 B 02.31751 und 15 B 01.30114 –; SächsOVG, Beschl. v. 28.8.2003 – A 4 B 573/02 – AuAS 2003, 250; Schleswig-Holsteinisches OVG, Beschl. v. 30.10.2003 – 1 LB 39/03 – und vom 28.10.2003 – 1 LB 41/03 -; OVG Münster, Urt. v. 14.8.2003 – 20 A 430/02.A – Asylmagazin 1-2/2004, 17; weiterhin VG Aachen, Urt. v. 11.9.2003 - 4 K 2360/01.A -).

Der Abschiebungsschutz gemäß § 53 Abs. 6 AuslG, setzt eine konkrete Gefahr voraus, ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zuzurechnen ist. Allein die theoretische Möglichkeit, Opfer von Übergriffen zu werden, reicht nicht aus, die Gefahr in diesem Sinne zu begründen.

Der Kläger kann auch keinen Abschiebungsschutz im Rahmen des § 53 Abs. 6 AuslG – nur die Frage stellt sich hier – beanspruchen. Diese Vorschrift setzt das Bestehen einer konkreten Gefahr voraus, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob sie vom Staat ausgeht oder ihm zuzurechnen ist (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 – 9 C 9.95BVerwGE 99, 324). Dabei reicht allerdings allein die theoretische Möglichkeit, Opfer von Eingriffen in die genannten Rechtsgüter zu werden, nicht aus, um eine Gefahr in diesem Sinne zu begründen. Vielmehr ist erforderlich, dass eine einzelfallbezogene, individuell bestimmte und erhebliche Gefährdungssituation mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit besteht (BVerwG, Urt. v. 17.10.1995 – aaO; BVerwG, Urt. v. 15.4.1997 – 9 C 38.96BVerwGE 104, 265). Eine dem Kläger drohende konkrete Gefahr in diesem Sinne ist derzeit nicht ersichtlich.

Soweit nahezu im gesamten Irak noch eine mehr oder weniger instabile Sicherheitslage (S. 8 ff. d. Lageberichtes des Auswärtigen Amtes v. 6. November 2003) festzustellen ist, insbesondere mit der Gefahr terroristischer Anschläge zu rechnen ist, sind dadurch bedingte Gefahren nur allgemeiner Natur. Dies gilt nicht nur für den Bereich des früheren Zentralstaates, sondern gerade auch für Bagdad, dem Heimatort des Klägers. Zunächst ist zwar festzustellen, dass die innere Sicherheit im Irak durch Terroranschläge, Sabotageakte und Banditenüberfälle – mit Schwerpunkt im arabisch sunnitischen Kerngebiet nördlich und westlich von Bagdad – belastet ist. Weiter hat die Gewaltkriminalität in den Städten zugenommen, weil noch keine effektive Polizeigewalt aufgebaut werden konnte und die Soldaten der internationalen Militärkoalition sich aus Selbstschutzgründen dieser Aufgabe nur zurückhaltend annehmen. Andererseits ist ein landesweiter militärischer und insbesondere organisierter Widerstand gegen die internationale Militärkoalition oder die CPA bislang nicht erkennbar. Einzelne Gewalt- und Terroraktionen – soweit sie überhaupt "politisch" einzuordnen sind – beschränken sich eher auf lokale Bereiche bzw. sind als - wenn auch tragische – Einzeltaten zu bewerten. Gefährdet sind vor allem Polizei- und Sicherheitskräfte. Andererseits gelten Teilregionen im kurdisch bewohnten Norden sowie im mehrheitlich schiitischen Süden als eher befriedet. Unabhängig davon ist allgemein festzustellen, dass die aus Gewaltaktionen der genannten Art entstehenden Gefährdungen gleichsam "blind" jeden treffen können. Eine Situation dieser Art ist gemäß § 53 Abs. 6 AuslG nicht schutzbegründend.

Nach den vorliegenden Erkenntnisquellen kann auch im Hinblick auf die Versorgungslage im Irak nicht von einer (extremen) existentiellen Gefährdung einzelner Rückkehrer ausgegangen werden. Nach der Wiederaufnahme des "Oil for Food"-Programms auf Grund der UN-Sicherheitsrats-Resolution Nr. 1.483 hat sich die Versorgungslage im Irak spürbar entspannt (S. 10 f des Lageberichts vom 6. November 2003). Hinzu kommt das World-Food-Programm der UN und ähnliche Programme von nicht staatlichen Hilfsorganisationen, der derzeit relativ freie Warenverkehr von und nach dem Irak sowie die Erträge der irakischen Landwirtschaft. Die Versorgung mit sauberem Trinkwasser kann zwar weiterhin örtlich problematisch sein, ohne dass es insoweit aber zu existentiellen Gefährdungen kommt. Allgemein ist festzustellen, dass im kurdischen Norden des Landes die Versorgung mit Wasser besser als im Süden funktioniert.

Angesichts dieser – zwar – nach wie vor angespannten, im Wesentlichen aber doch (landesweit) gesicherten Versorgungssituation im Irak ist mit Existenzgefährdungen Einzelner im Rückkehrfalle nicht zu rechnen. Dies gilt auch für den Kläger, der auch dann, wenn er allein in den Irak zurückkehren wird, dort wie andere gesunde Gleichaltrige leben und als Hochschullehrer beim Wiederaufbau seines Landes mitwirken kann.