LG Bonn, Urteil vom 26.09.2017 - 8 S 83/14
Fundstelle
openJur 2019, 21044
  • Rkr:
Verfahrensgang
Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Amtsgerichts Bonn vom 26.03.2013 - 101 C 194/13 - abgeändert und wie folgt neu gefasst:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits beider Instanzen werden den Klägern auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Auf die Darstellung des Tatbestandes wird gemäß §§ 540 Abs. 2, 313 a Abs. 1 S. 1 ZPO verzichtet. Da die Revision nicht zugelassen wurde und der für die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 26 Nr. 8 EGZPO erforderliche Beschwerdewert nicht erreicht wird, ist ein Rechtsmittel gegen das Urteil unzweifelhaft nicht zulässig.

II.

Die Berufung der Beklagten hat Erfolg. Den Klägern steht gegen die Beklagte ein Anspruch auf Unterlassung von Lärmbeeinträchtigungen, die von der Tochter der Beklagten ausgehen, gemäß §§ 1004 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 906 Abs. 1 S. 1 BGB nicht zu.

1.

Die Klage ist zwar zulässig. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist der Antrag nicht unbestimmt im Sinne des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO. Ein Klageantrag ist hinreichend bestimmt, wenn er den erhobenen Anspruch konkret (beziffert oder gegenständlich) bezeichnet, den Rahmen der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis (§ 308 ZPO) erkennbar abgrenzt, den Inhalt und Umfang der materiellen Rechtskraft der begehrten Entscheidung (§ 322 ZPO) erkennen lässt, das Risiko des Unterliegens des Klägers nicht durch vermeidbare Ungenauigkeit auf den Beklagten abwälzt und wenn er die Zwangsvollstreckung aus dem beantragten Urteil ohne eine Fortsetzung des Streits im Vollstreckungsverfahren erwarten lässt (Greger in: Zöller, ZPO, 31. Aufl., 2016, § 253 Rn. 13). Der streitgegenständliche Klageantrag ist zwar grundsätzlich dazu angelegt, einen Teil der Entscheidung des Rechtsstreits in das Vollstreckungsverfahren zu verlagern. Die Besonderheiten der immissionsrechtlichen Unterlassungsklage erfordern aber eine unterschiedliche Beurteilung. Wie der Bundesgerichtshof ausgeführt hat, werden in diesem Bereich Anträge mit dem Gebot, allgemein Störungen bestimmter Art, beispielsweise durch Geräusche und Gerüche, zu unterlassen, als zulässig erachtet (BGH NJW 1993, 1656). Es ist vielfach unmöglich, mit Worten das Maß unzulässiger Einwirkungen so zu bestimmen, dass der Beeinträchtigte hinreichend geschützt wird und nicht schon eine geringfügige Änderung der Einwirkung trotz einer fortdauernden nicht zu duldenden Belästigung das Verbot hinfällig macht. Danach können die Messbarkeit von Lärm und die bestehenden Richtwerte nicht die allein entscheidende Rolle spielen (BGH WM 1992, 1612, 1613). Eine Überschreitung der Richtwerte indiziert zwar eine wesentliche Beeinträchtigung nach § 906 Abs. 1 BGB, ihre Unterschreitung zwingt aber im Einzelfall nicht zur Annahme, die Lärmimmission sei unwesentlich. Maßgebend sind alle Umstände des Einzelfalles (BGH NJW 1993, 1656). Es muss deshalb hingenommen werden, dass auch der Streit über die Wesentlichkeit von Lärmimmissionen gegebenenfalls im Vollstreckungsverfahren erneut entschieden werden muss. Über die Gründe des Unterlassungsurteils erhält der Vollstreckungsrichter (§ 890 ZPO) Anhaltspunkte dafür, von welchem Maßstab sich das Prozessgericht hat leiten lassen.

2.

Die Klage ist allerdings unbegründet. Nach § 1004 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 906 Abs. 1 S. 1 BGB steht dem Grundstückseigentümer gegen einen Störer in Bezug auf Lärm- und sonstige Immissionen ein Unterlassungsanspruch insoweit zu, als er diese nicht zu dulden hat. Zu dulden hat er sie, soweit die Einwirkungen die Benutzung seines Grundstücks "nicht oder nur unwesentlich" beeinträchtigen (§ 906 Abs. 1 S. 1 BGB). Für die Frage, wann die Schwelle zur "Wesentlichkeit" überschritten ist, ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs das Empfinden eines "verständigen" Durchschnittsmenschen maßgeblich. Dies hat zur Folge, dass im Streitfall auch das in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zum Ausdruck kommende gesellschaftliche Anliegen zu berücksichtigen ist, Behinderten ein Leben frei von - vermeidbaren - Beschränkungen zu ermöglichen. Im nachbarlichen Zusammenleben mit Behinderten ist deshalb ein erhöhtes Maß von Toleranzbereitschaft zu fordern. Die Grenze der Duldungspflicht ist mithin erst dann erreicht, wenn dem Nachbarn die Belästigung "billigerweise nicht mehr zuzumuten ist" (OLG Karlsruhe FamRZ 2001, 1147-1148).

a)

Unter Anwendung dieser Grundsätze sind die von der Tochter der Beklagten ausgehenden Lärmbeeinträchtigungen allerdings als wesentlich im Sinne des § 906 Abs. 1 BGB anzusehen. Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Derartige Zweifel liegen vor, wenn eine gewisse, nicht notwendig überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass bei Wiederholung der Beweisaufnahme die erstinstanzlichen Feststellungen keinen Bestand haben werden, sich also deren Unrichtigkeit herausstellt (vgl. Thomas/Putzo/Reichold, ZPO, 31. Aufl., § 529 Rn. 1 - 3; BGH, NJW 2004, 2825). Letzteres ist nicht der Fall, wenn das Erstgericht unter Beachtung der gesetzlichen Vorgaben aufgrund freier Beweiswürdigung gemäß § 286 ZPO zu den Tatsachenfeststellungen gelangt ist (OLG München, Urteil vom 08. Januar 2014 - 7 U 866/13 -, juris). Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Beweiswürdigung nicht deshalb "falsch", weil das Amtsgericht ihre persönliche Anhörung in den Entscheidungsgründen nicht gewürdigt hat. Die Anhörung nach § 141 Abs. 1 ZPO ist nicht Beweisaufnahme im Sinne einer Parteivernehmung (§§ 445-455 ZPO), weil sie nicht der Aufklärung eines streitigen Sachverhalts dient, sondern dem besseren Verständnis dessen, was die Partei behaupten und beantragen will (Greger in: Zöller, ZPO, 31. Aufl., § 141 Rn. 1). Im Übrigen hat die Beklagte im Rahmen ihrer Anhörung eingeräumt, dass ihre Tochter jedenfalls manchmal für einen Zeitraum von 10-15 Minuten laut wird. Zweifel liegen auch nicht deswegen vor, weil der Tatrichter sich nicht in einem Ortstermin einen persönlichen Eindruck verschafft hat. Nach der Rechtsprechung des BGH (NJW 1993, 1656) sind zwar die konkreten Umstände des Einzelfalls entscheidend, die den Tatrichter in den meisten Fällen dazu zwingen, sich über einen Ortstermin einen persönlichen Eindruck zu verschaffen. Von der Beklagten wird jedoch nicht die Art der Überzeugungsbildung gerügt, sondern vielmehr, dass die Zeugen lediglich temporäre Störungen geschildert haben, diese also unwesentlich sein sollen. Die Kammer geht aufgrund der glaubhaften Zeugenaussagen davon aus, dass die Lärmbeeinträchtigungen zeitweise äußerst belastend sind und ein unbeschwertes Wohnen in der Reihenhaussiedlung - jedenfalls seit dem Versterben des Ehemanns der Beklagten - für die Kläger deutlich eingeschränkt ist. Sämtliche Zeugen haben übereinstimmend bekundet, die Tochter der Beklagten störe insbesondere auch die Nachtruhe durch laute Beschimpfungen, massive Schreie und erhebliche Schläge gegen die Wand und die Fenster. Die Zeugen haben weiterhin nachvollziehbar und detailliert bekundet, es sei auch im Garten nicht mehr möglich, während der Anwesenheit der Tochter der Beklagten zu Ruhe und Erholung zu kommen, weil es - sobald jemand im Garten sei - umgehend zu erheblichen Beschimpfungen durch die Tochter der Beklagten komme. Die Beklagte hat den von ihrer Tochter ausgehenden Lärm - wie bereits ausgeführt - in der mündlichen Verhandlung vom 29.01.2014 im Grunde auch eingeräumt, wenngleich sie bemüht war, die Beeinträchtigungen zu bagatellisieren und deren Intensität und Häufigkeit zu bestreiten. Diese beschönigende Haltung fügt sich jedoch nahtlos in das Bild, das die Sachverständige Dr. med. I im Rahmen ihres Gutachtens über die Therapierbarkeit der Behinderung der Tochter gewonnen hat. Nach den überzeugenden Feststellungen der Sachverständigen, die sich vollumfänglich mit dem Eindruck der Kammer von der Beklagten decken, scheint sie "den Ernst der Situation nicht zu erfassen". Es werde vielmehr eine erhebliche Verleugnung der Krankheit und der damit einhergehenden Unzulänglichkeiten deutlich. Nach Auffassung der Sachverständigen nehme die Beklagte die Auffälligkeiten der Tochter nicht wahr. Im Ergebnis bagatellisiere sie die Schwierigkeiten, verleugne das Ausmaß der Störungen, wobei das Verhalten der Tochter als "zügellos" bezeichnet werden könne. Vor diesem Hintergrund geht auch die Kammer davon aus, dass die von der Tochter der Beklagten ausgehenden Geräusche die Kläger rechtswidrig beeinträchtigen und diese Lärmbeeinträchtigungen als wesentlich im Sinne des § 906 Abs. 1 BGB anzusehen sind.

b)

Der Anspruch der Kläger nach § 1004 Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 906 Abs. 1 BGB ist aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls jedoch nicht durchsetzbar. Die Beklagte ist als mittelbare Störerin zwar grundsätzlich verpflichtet, gemäß § 1004 BGB gegenüber ihrer Tochter als unmittelbare Störerin alle rechtlich, wirtschaftlich und tatsächlich gegebenen Möglichkeiten auszuschöpfen, um wesentliche Lärmbeeinträchtigungen zu vermeiden (vgl. AG Braunschweig, Beschluss vom 11. September 2006 - 34 II 10/04 -, Rn. 25, juris). Die Grenze findet diese Verpflichtung jedoch dort, wo diese rechtlichen, wirtschaftlichen und tatsächlichen Maßnahmen im Verhältnis zur drohenden Beeinträchtigung unzumutbar sind (vgl. BGHZ 106, 229). In diesem Zusammenhang ist auf Seiten der Kläger zunächst Art. 14 GG betroffen, da ihr Wohnhaus aufgrund der Beeinträchtigungen an Wert verlieren dürfte und die Nutzung ihres Eigentums beschränkt ist. Vorliegend dürfte auch Art. 2 Abs. 2 GG betroffen sein, sofern die Behauptung der Kläger zutrifft, durch den von der Tochter der Beklagten ausgehenden Lärm und der damit einhergehenden dauernden Belastung sei es bereits zu Erkrankungen psychischer und physischer Art in Form von Schlafstörungen und überhöhter Schreckhaftigkeit gekommen. Auf der anderen Seite ist die Menschenwürde der Tochter der Beklagten nach Art. 1 GG und - wie bereits dargetan - das in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zum Ausdruck kommende gesellschaftliche Anliegen zu berücksichtigen, Behinderten ein Leben frei von - vermeidbaren - Beschränkungen zu ermöglichen. Dabei ist ein Eingriff in die unantastbare Menschenwürde nach Art. 1 GG grundsätzlich nicht mit Beeinträchtigungen abzuwägen, welche die Kläger erdulden müssen.

Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist es der Beklagten vorliegend nicht zumutbar und nach der von der Kammer aufgrund des Sachverständigengutachtens gewonnenen Überzeugung auch nicht möglich, dem von ihrer Tochter ausgehenden Lärm zu begegnen. Soweit die Sachverständige Dr. med. I in ihrem Gutachten festgestellt hat, es sei eine andere medikamentöse Behandlung möglich, kommen Maßnahmen durch die Beklagte bereits deshalb nicht in Betracht, weil für den Aufgabenkreis "Gesundheitsfürsorge" eine rechtliche Betreuung für ihre Tochter durch Herrn C angeordnet ist. Es kann daher offen bleiben, ob mit Blick auf die Menschenwürde eine andere medizinischtherapeutische Behandlung überhaupt eine zumutbare Möglichkeit darstellen könnte, Lärmbelästigungen im Wege einer Unterlassungsklage zu verhindern oder weitgehend zu vermeiden. Im Übrigen hat die Gutachterin festgestellt, dass aufgrund der Schwere der geistigen Behinderung eine Veränderung der medikamentösen Behandlung ohnehin nicht dazu führen würde, Lärmbeeinträchtigungen auszuschließen. Die Beeinträchtigungen stellen sich nach dem Gutachten der Sachverständigen Dr. med. I vielmehr als das Ergebnis jahrelanger Versäumnisse durch die Beklagte und ihrem verstorbenen Ehemann dar, die von ihr jedoch nicht wahrgenommen bzw. verdrängt werden. Die Sachverständige hat in ihrem ausführlichen Gutachten festgestellt, dass die Beklagte das Ausmaß der Störungen durch ihre Tochter nicht begrenzen kann, weil sie diese verleugnet und insgesamt deutlich überfordert sei. Es sei daher nicht zu erwarten, dass sie in der Lage sei, ihrer Tochter Grenzen aufzuzeigen und die Einhaltung von Regeln zu kontrollieren. Sie ordne sich dem Verhalten ihrer Tochter vielmehr unter, mit der Folge, dass es der Beklagten nicht möglich sei, auf sie einzuwirken. Die Kammer schließt sich den Ausführungen der Sachverständigen an, die von den Parteien auch nicht angezweifelt worden sind. Nach alledem sieht die Kammer im Streitfall keine Möglichkeiten, wie die 86-jährige Beklagte wirksam dem von ihrer Tochter ausgehenden Lärm begegnen könnte.

Da die Beklagte nicht effektiv auf ihre Tochter einwirken kann, verbliebe die einzige Möglichkeit, der Beklagten - die das Aufenthaltsbestimmungsrecht für die Tochter ausübt - aufzugeben, für ihre Tochter andere Lebensbedingungen (z. B. an einen anderen Ort, mit anderen Personen) zu schaffen. Zu diesem Punkt ist die Kammer zum einen der Überzeugung, dass dies auch im Interesse der Tochter ein sinnvoller und anzustrebender Weg wäre. Zum anderen ist die Kammer aufgrund der anzustellenden Abwägung aller betroffenen Rechtsgüter aber der Überzeugung, dass die gerichtliche Erzwingung einer solchen Maßnahme im Rahmen eines Nachbarschaftsstreits unverhältnismäßig wäre.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.

IV.

Für die Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO besteht keine Veranlassung. Die Sache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch ist eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich.

Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 4.000,00 EUR festgesetzt.