OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29.08.2018 - 8 B 743/18
Fundstelle
openJur 2019, 20673
  • Rkr:
Verfahrensgang
Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 17. Mai 2018 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert. Der Antrag der Beigeladenen auf Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 20. Dezember 2017 - 28 L 4250/17 - wird abgelehnt.

Die Kosten des Verfahrens beider Instanzen tragen der Antragsgegner und die Beigeladene jeweils zur Hälfte mit der Maßgabe, dass zwischen ihnen ein Ausgleich ihrer außergerichtlichen Kosten nicht stattfindet.

Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 30.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist begründet. Der Antrag der Beigeladenen auf Abänderung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts vom 20. Dezember 2017 - 28 L 4250/17 - wegen veränderter Umstände im Sinne des § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO hat keinen Erfolg. Die mit diesem Beschluss wiederhergestellte aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Genehmigung vom 30. Dezember 2016 in Gestalt des Ergänzungsbescheides vom 13. März 2018 zur Errichtung und zum Betrieb von vier Windkraftanlagen bleibt bestehen.

Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, der gemäß § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO hier entsprechend gilt, kann jeder Beteiligte bei dem Gericht der Hauptsache die Änderung oder Aufhebung eines vorhergehenden Beschlusses über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Die insoweit gebotene gerichtliche Interessenabwägung fällt zu Gunsten der Antragstellerin aus. Bei summarischer Prüfung ist derzeit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein Erfolg in der Hauptsache zu erwarten, weil die erteilte Genehmigung rechtlichen Bedenken begegnet. Zu Recht macht die Antragstellerin geltend, dass nicht hinreichend sicher sei, dass von den genehmigten Anlagen keine unzumutbaren Lärmimmissionen ausgehen.

Nach § 6 Abs. 1 BImSchG ist die Genehmigung zu erteilen, wenn sichergestellt ist, dass die sich aus § 5 BImSchG ergebenden Pflichten erfüllt werden und andere öffentlichrechtliche Vorschriften und Belange des Arbeitsschutzes der Errichtung und dem Betrieb der Anlage nicht entgegenstehen. Gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 BImSchG sind genehmigungsbedürftige Anlagen so zu errichten und zu betreiben, dass schädliche Umwelteinwirkungen (§ 3 Abs. 1 BImSchG) und sonstige Gefahren, erhebliche Nachteile und erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit und die Nachbarschaft nicht hervorgerufen werden können. Diese Anforderungen sind hier nicht erfüllt.

Ausgehend von den maßgebenden Immissionsrichtwerten (dazu 1.) ist auf der Grundlage der vorgelegten Schallimmissionsprognosen vom 26. Oktober 2017 mit Ergänzung vom 8. Februar 2018 sowie vom 23. August 2018 nicht ausgeschlossen, dass im Umfeld des Regenrückhaltebeckens E. O. von dem genehmigten Betrieb der streitbefangenen Windenergieanlagen unzumutbare Belästigungen ausgehen (dazu 2.).

1. Der Immissionsrichtwert für den Bereich nördlich der C. Straße in der näheren Umgebung des Regenrückhaltebeckens ist entgegen dem Beschwerdevorbringen zutreffend mit 60 dB(A) tagsüber und 45 dB(A) nachts angesetzt worden.

Es kann offenbleiben, ob die nächst gelegenen Immissionspunkte Nr. 23b (F), 23c (A) und Nr. 27 (G) an der C. Straße X, Y und Z im Außen- oder Innenbereich liegen. Selbst wenn sie im Innenbereich lägen, handelte es sich um ein faktisches Dorfgebiet im Sinne des § 34 Abs. 2 BauGB i. V. m. § 5 Abs. 1 BauNVO. Den Bewohnern von Dorf- und Mischgebieten (Nr. 6.1 Buchstabe d) TA-Lärm 2017 bzw. Buchstabe c) TA-Lärm) ist derselbe Lärmpegel von 60 dB(A) tagsüber und 45 dB(A) nachts zuzumuten wie Bewohnern des Außenbereichs.

Vgl. OVG NRW, Urteil vom 4. Juli 2018 - 8 A 47/17 -, juris Rn. 74 f.; Beschluss vom 20. Februar 2018 - 8 B 840/17 -, juris Rn. 62 f. jeweils m. w. N.

Nach § 5 Abs. 1 BauNVO dienen Dorfgebiete der Unterbringung der Wirtschaftsstellen land- und forstwirtschaftlicher Betriebe, dem Wohnen und der Unterbringung von nicht wesentlich störenden Gewerbebetrieben sowie der Versorgung der Bewohner des Gebiets dienenden Handwerksbetriebe, wobei auf die Belange der landwirtschaftlichen Betriebe einschließlich ihrer Entwicklungsmöglichkeiten vorrangig Rücksicht zu nehmen ist. Auch wenn diese Nutzungsarten gleichwertig nebeneinander stehen, müssen nicht alle zulässigen Nutzungsarten immer gleichrangig vertreten sein. Bei dem Dorfgebiet handelt es sich um ein "ländliches Mischgebiet", dessen Charakter grundsätzlich nicht von einem bestimmten prozentualen Mischverhältnis der zulässigen Nutzungsarten abhängt. Wesensbestimmend für ein Dorfgebiet ist die Unterbringung der Wirtschaftsstellen land- und forstwirtschaftlicher Betriebe. Der Gebietscharakter eines Dorfgebiets entfällt daher (nur), wenn die landwirtschaftliche Nutzung völlig verschwindet und auch eine Wiederaufnahme ausgeschlossen erscheint.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 10. Mai 2017 - 8 B 1081/16 -, juris Rn. 25.

Nach diesen Maßgaben weist der in Rede stehende Bereich bei summarischer Prüfung den Charakter eines faktischen Dorfgebiets und nicht eines (allgemeinen) Wohngebiets auf. Er ist nach Aktenlage durch eine Bau- und Nutzungsstruktur geprägt, die nicht unbedeutende landwirtschaftliche bzw. landwirtschaftsähnliche Nutzungen einschließt. So befinden sich nach dem nicht substantiiert in Frage gestellten Vortrag der Beigeladenen neben einer Gärtnerei (C. Str.), einem Garten- und Landschaftsbaubetrieb (C. Str.) und Gewerbebetrieben (wie Kfz-Werkstatt, Bauklempnerei u. a.) in diesem Bereich landwirtschaftstypisch genutzte Grundstücke: Hühnerhaltungsbetrieb mit Hofverkauf und Saatguthandel (C. Str.), Pferdeställe (C. Str.) sowie landwirtschaftlicher Betrieb mit Viehhaltung (C. Str.). Letzterer ist für die Art der baulichen Nutzung im Bereich der C. Straße mitprägend. Dem steht nicht entgegen, dass er sich bis in den Außenbereich über den Netter Kirchweg hinaus ausdehnen mag; denn nicht unerhebliche Teile des Betriebs liegen nach den bei timonline einsehbaren Luftbildern in dritter Reihe hinter den Grundstücken C. Straße X und Y auf dem Flurstück Z.

2. Eine unzumutbare Beeinträchtigung durch Lärmimmissionen kann nicht hinreichend sicher ausgeschlossen werden. Nach den vorliegenden Schallprognosen ist derzeit nicht sichergestellt, dass im Bereich des Immissionspunktes Nr. 23c (C. Str.) die Vorgaben der TA Lärm bei Berücksichtigung des Regenrückhaltebeckens E. O. erfüllt werden.

a) Ob unter Berücksichtigung von Nr. 3.2.1 TA Lärm ein Richtwert von 46 dB(A) eingehalten wird, steht auf der Grundlage der von der Beigeladenen vorgelegten gutachterlichen Lärmprognosen und Stellungnahmen nicht hinreichend fest.

Nach der Stellungnahme und Schallberechnung der X. H. GmbH vom 23. August 2018 soll die Gesamtbelastung am Immissionspunkt Nr. 23c 45,9 dB(A) betragen. Diese Berechnung berücksichtigt zwar die Vorbelastung durch das Regenrückhaltebecken mit 45 dB(A) und die Zusatzbelastung durch die vier neuen Windenergieanlagen mit 38,6 dB(A), nicht aber die weitere Vorbelastung durch die fünf bestehenden Windenergieanlagen in Höhe von 34,6 dB(A). Wird die Vorbelastung durch die fünf Bestandsanlagen einbezogen, liegt die Gesamtbelastung über 46 dB(A). Nach der Senatsrechtsprechung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren,

vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 22. Januar 2015- 8 B 1178/14 -, juris Rn. 27, vom 20. Oktober 2005- 8 B 158/05 -, juris Rn. 54 ff., und vom 11. Oktober 2005 - 8 B 110/05 -, juris Rn. 30 f.,

ist eine Abrundung des Lärmpegels nicht vorzunehmen.

b) Die Zusatzbelastung durch die hier in Rede stehenden vier Windenergieanlagen kann auch nicht offensichtlich als irrelevanter Immissionsbeitrag nach Nr. 3.2.1Abs. 2 TA Lärm qualifiziert werden. Nach Nr. 3.2.1 Abs. 2 Satz 2 TA Lärm ist in der Regel die von der zu beurteilenden Anlage ausgehende Zusatzbelastung als nicht relevant anzusehen, wenn sie den Immissionsrichtwert um mindestens 6 dB(A) unterschreitet. Zwar liegt die Zusatzbelastung hier 6,4 dB(A) unter dem nächtlichen Immissionsrichtwert von 45 dB(A). Da die Gesamtbelastung jedoch über 46 dB(A) beträgt, ist zweifelhaft, ob die Voraussetzungen für einen Regelfall vorliegen.

Vgl. Hansmann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. IV, Stand: Dezember 2017, Nr. 3 TA Lärm Rn. 14 ff.

Dies bedarf einer näheren Klärung im Hauptsacheverfahren.

c) Die Lärmimmissionen am Immissionspunkt Nr. 23c sind auch nicht deshalb ersichtlich zumutbar, weil es sich um seltene Ereignisse im Sinne von Nr. 7.2 TA Lärm handelt, für die nach Nr. 6.3 TA Lärm höhere Immissionsrichtwerte zulässig sind. Nach dem Vortrag des Antragsgegners und der Beigeladenen sollen (einzelne oder mehrere) Pumpen des Regenrückhaltebeckens nur bei Starkregenereignissen durchschnittlich 10 bis 12-mal im Jahr über einen Zeitraum von höchstens 100 Stunden in Betrieb sein.

Nach Nr. 7.2 TA Lärm kann eine Überschreitung der maßgeblichen Immissionsrichtwerte zugelassen werden, wenn wegen voraussehbarer Besonderheiten beim Betrieb einer Anlage zu erwarten ist, dass in seltenen Fällen oder über eine begrenzte Zeitdauer, aber nicht an mehr als zehn Tagen oder Nächten eines Kalenderjahres und nicht an mehr als an jeweils zwei aufeinander folgenden Wochenenden, die Immissionsrichtwerte nach den Nummern 6.1 und 6.2. auch bei Einhaltung des Standes der Technik zur Lärmminderung nicht eingehalten werden können. Seltene Ereignisse berechtigen nicht schon als solche zur Überschreitung der Immissionsrichtwerte nach Nummern 6.1 oder 6.2 TA Lärm. Erforderlich ist vielmehr eine Ermessensentscheidung der Behörde.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 31. Januar 2017- 8 B 44/16 -, Beschlussabdruck S. 11; Nds. OVG, Beschluss vom 11. Juli 2008 - 1 ME 120/08 -, juris Rn. 20.

Es kann offenbleiben, ob hier die Voraussetzungen für seltene Ereignisse im Sinne der Nr. 7.2 TA Lärm vorliegen. Jedenfalls ist keine behördliche Ermessensentscheidung unter Berücksichtigung der konkreten Modalitäten und der Zumutbarkeit getroffen worden, die eine Überschreitung der Immissionswerte bei seltenen Ereignissen zulassen würde.

3. Der Senat merkt ergänzend an, dass die angefochtene Genehmigung derzeit auch unter Berücksichtigung der Immissionssituation im Bereich der Kläranlage Bedenken begegnen könnte. Der Genehmigungsbescheid vom 30. Dezember 2016 (in der Fassung des Ergänzungsbescheids vom 13. März 2018) hat unter Nr. IV. 2.2 für den Immissionspunkt Nr. 27 (G; C. Straße) einen Immissionsrichtwert von 45 dB(A) nachts festgesetzt, während das Schallgutachten vom 26. Oktober 2017 in der Fassung vom 8. Februar 2018 für den Immissionspunkt im Bereich der Kläranlage E1. einen nächtlichen Pegel von 46 dB(A) prognostiziert.

Soweit die gutachterliche Prognose den Beurteilungspegel (Gesamtbelastung) für den genannten Immissionspunkt von 46,36 dB(A) auf 46 dB(A) abgerundet und daraus die Schlussfolgerung gezogen hat, der maßgebliche Immissionsrichtwert werde unter Berücksichtigung von Nr. 3.2.1 Abs. 3 TA Lärm eingehalten, weist der Senat auf seine oben zitierte Rechtsprechung hin, wonach eine Abrundung des Lärmpegels nicht vorzunehmen ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 und 3 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Der Senat orientiert sich dabei an den Ziffern 19.2 und 2.2.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Der danach im Hauptsacheverfahren je Windkraftanlage bis zu einer Obergrenze von 60.000,- Euro festzusetzende Streitwert von 15.000,- Euro ist im Hinblick auf die Vorläufigkeit der erstrebten Regelung (Ziffer 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs) auf die Hälfte zu reduzieren.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).