OLG Hamm, Beschluss vom 23.11.2018 - 7 U 35/18
Fundstelle
openJur 2019, 20416
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 4 O 315/17

1.

Von einem Vorfahrtsverzicht ist nur auszugehen, wenn der Berechtigte den Verzichtswillen in unmissverständlicher Weise zum Ausdruck bringt.

2.

Allein aus dem Umstand, dass der Berechtigte an der Kreuzung abgestoppt hat, lässt sich kein Vorfahrtsverzicht ableiten, zumindest wenn dies auf dem Umstand beruht, dass der Berechtigte seinerseits anderen Verkehrsteilnehmern Vorfahrt gewähren müsste.

3.

Eine Mithaftung unter dem Gesichtspunkt "halbe Vorfahrt" kommt nur in Betracht, wenn der Zusammenstoß durch eine zu hohe Geschwindigkeit des Vorfahrtsberechtigten mitverursacht worden ist.

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 12.03.2018 verkündete Urteil des Einzelrichters der 4. Zivilkammer des Landgerichts Essen (Az. 4 O 315/17) wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Das angefochtene Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 14.000,- EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Gemäß § 522 Abs. 2 S. 2 ZPO wird wegen der tatsächlichen Feststellungen auf diejenigen im angefochtenen Urteil und die Ausführungen im Senatsbeschluss vom 24.07.2018 Bezug genommen.

Mit vorgenanntem einstimmig gefasstem Beschluss hat der Senat auf seine Absicht, die Berufung gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, hingewiesen.

Hierzu hat die Klägerin innerhalb der verlängerten Frist mit Schriftsatz vom 06.09.2018 ergänzend Stellung genommen.

II.

Die Berufung des Klägers unterliegt gemäß § 522 Abs. 2 ZPO wegen offensichtlich fehlender Erfolgsaussicht und des Fehlens der Voraussetzungen der Nummer 2 und 3 des § 522 Abs. 2 ZPO nach einstimmigem Votum des Senats der Zurückweisung, ohne dass es der Anberaumung einer mündlichen Verhandlung bedarf.

Zur Begründung wird zunächst vollumfänglich auf den Beschluss des Senats vom 24.07.2018 verwiesen. Die Ausführungen der Klägerin im Schriftsatz vom 06.09.2018 rechtfertigen keine andere Beurteilung.

1.

Insbesondere ist daran festzuhalten, dass die Klägerin entgegen ihrer Verpflichtung aus § 8 Abs. 1 S. 1 StVO das Vorfahrtsrecht des Beklagten zu 2) verletzt hat. Entgegen der Auffassung der Klägerin hat der Senat ausreichend berücksichtigt, dass es sich um eine T-Einmündung handelte.

§ 8 Abs. 1 StVO regelt die Vorfahrt an Kreuzungen und Einmündungen. Dabei ist eine Straßeneinmündung jedes - rechtwinklige oder schräge - Zusammentreffen zweier oder mehrerer Straßen mit nur einer Straßenfortsetzung (sog. T-Kreuzung) (Spelz in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 8 StVO, Rn. 11 - juris; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Auflage, § 8 Rn. 34.). Eine einfache T-Kreuzung - wie sie auch hier vorliegt - stellt somit einen der typischen von § 8 Abs. 1 StVO umfassten Fälle dar. Zudem ereignete sich der gegenständliche Unfall in einer verkehrsberuhigten Zone mit guten Sichtverhältnissen. Besondere Erschwernisse bei der Beurteilung der Frage nach dem Vorfahrtsrecht ergeben sich aus der Art der zu beurteilenden Verkehrsführung sowie der konkreten vorliegenden Gegebenheiten daher gerade nicht.

2.

Ein Sorgfaltsverstoß des Beklagten zu 2) ist dagegen nicht festzustellen.

a)

Allein das Anhalten des Beklagten zu 2) durfte die Klägerin - wie bereits in dem Senatsbeschluss vom 24.07.2018 ausgeführt - nicht in der Weise auslegen, dieser habe auf das ihm zustehende Vorfahrtsrecht verzichtet. Das Anhalten des Beklagten zu 2) erklärte sich - auch für die Klägerin - aus der dem Beklagten zu 2) obliegenden Pflicht, sich seinerseits hinsichtlich des ihm gegenüber bevorrechtigten Verkehrs vergewissern zu müssen, und nicht vor dem Hintergrund, gegenüber der Klägerin auf sein eigenes Vorfahrtsrecht verzichten zu wollen. So hat es der hinter der Klägerin befindliche Zeuge y auch ohne weiteres verstanden und sein Fahrzeug im Gegensatz zu der Klägerin daher angehalten.

b)

Soweit die Klägerin im Weiteren der Auffassung ist, die konkreten Umstände - Anhalten des Beklagten zu 2) an einer nach ihrer Ansicht rege befahrenen, recht kleinen Kreuzung mit damit einhergehenden Unsicherheiten über die Reihenfolge der Fahrrechte - hätten unter Berücksichtigung verkehrsstatistischer Daten zur Häufigkeit der Ursächlichkeit von Vorfahrtsverletzungen für Unfälle den Beklagten zu 2) in der Gesamtschau erkennen lassen müssen, dass sein Fahrverhalten als Vorfahrtsverzicht missdeutet werden könne, weswegen er die Fortsetzung seiner Fahrt hätte zurückstellen müssen, ist dieser Auffassung eine Absage zu erteilen. Es war nämlich in erster Linie an der Klägerin, sich von dem Vorliegen der Voraussetzungen für ein ihr ausnahmsweise, von der Regel des § 8 StVO abweichendes Recht, zuerst fahren zu dürfen, in aller Eindeutigkeit zu vergewissern. Gerade, wenn sich die Klägerin über den Vorfahrtsverzicht unsicher war, war sie als Wartepflichtige gehalten, sich ebenso wie der Zeuge y verhalten und anzuhalten, statt ohne sichere Gewissheit über den geltenden Vorrang, die Fahrt fortzusetzen. Denn selbst wenn die unfallstatischen Daten Vorfahrtsverletzungen als eine der Hauptursachen für Verkehrsunfälle ausmachten, kann daraus nicht abgeleitet werden, dass der Vorfahrtsgrundsatz zu entkräften ist. Im Gegenteil: Gerade weil eine Vorfahrtsverletzung generell einen schwerwiegenden Verkehrsverstoß darstellt (OLG Karlsruhe, Urteil vom 12.01.2012, Az.: 9 U 169/10, Rn. 18 - juris) und der Anscheinsbeweis gegen den Vorfahrtsverletzter spricht, sind die Sorgfaltsanforderungen nicht umzuverteilen. Wer wartepflichtig ist, darf sich nicht darauf berufen dürfen, dass der Vorfahrtsberechtigte mit potentiellem Fehlverhalten zu rechnen hat. Bei "Irritationen" muss sich vielmehr der Wartepflichtige eindeutig verhalten, sowie wie es die Regelung aus § 8 StVO von ihm verlangt.

c)

Der Beklagte zu 2) durfte daher auf das Anhalten der ohnehin langsam fahrenden Klägerin vertrauen und anfahren. Dass er bei Erkennen der Gefahrensituation bzw. des Fehlverhaltens der Klägerin verspätet reagiert hätte und sie daher frontal erfasst hat, ist weder dargetan noch sonst ersichtlich. Allein aus der von der Klägerin aufgestellten Behauptung, sie sei frontal von dem Fahrzeug des Beklagten zu 2) erfasst worden, ergibt sich eine verspätete Reaktion des Beklagten zu 2) nämlich nicht, weswegen dem Beweisangebot zur Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht nachzugehen war. So trägt die Klägerin nur vor, wegen der frontalen Erfassung sei davon auszugehen, dass der Beklagte zu 2) in der konkreten Situation losgefahren sei, ohne sich erneut nach vorn bzw. nach unmittelbar links zu vergewissern. Es sei vielmehr zu vermuten, dass er lediglich nach rechts geschaut habe. Er hätte jedoch nach vorn schauen müssen, um den Unfall zu verhindern. Eine solche Verpflichtung bestand jedoch gerade nicht. Der Beklagte zu 2) handelte nicht sorgfaltswidrig, weil er den Abbiegevorgang nach rechts vornahm, ohne sich noch mal nach vorne oder links darüber zu vergewissern, ob die ihm gegenüber wartepflichtigen Verkehrsteilnehmer, darunter die Klägerin, das ihm zustehende Vorfahrtsrecht beachten. Davon durfte er - wie der Senat bereits in seinem Hinweisbeschluss vom 24.07.2018 dargestellt und auch vorstehend unter Berücksichtigung der weiteren Einwendungen der Klägerin begründet hat - auf Grund des im Straßenverkehr geltenden Vertrauensgrundsatzes (König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Auflage, § 8 Rn. 50) ausgehen.

d)

Weiter rechtfertigt der Verweis auf die Vorschrift des § 3 Abs. 2a StVO keine andere Beurteilung. Dabei kann dahinstehen, ob die 79-jährige Klägerin nach den äußerlich erkennbaren Merkmalen als eine ältere Person erkennbar gewesen ist, wie es die Vorschrift voraussetzt (OLG Hamm, Beschluss vom 10.04.2018, Az.: 7 U 5/18, Rn. 49/50 - juris; OLG Rostock, Urteil vom 21.10.2005, Az.: 8 U 88/04, Rn. 24).

Für die Pflicht zu erhöhter Rücksichtnahme kommt es nämlich auf die konkrete Verkehrssituation an. Befindet sich eine ältere Person in einer Lage, in der für sie nach der Lebenserfahrung keine Gefährdung zu erwarten ist, so braucht ein Kraftfahrer nicht allein schon wegen ihres höheren Alters ein Höchstmaß an Sorgfalt einzuhalten. Der besondere Schutz des § 3 Abs. 2 a StVO greift nur ein, wenn der ältere Mensch sich in einer Verkehrssituation befindet, in der erfahrungsgemäß damit gerechnet werden muss, dass er aufgrund seines Alters das Geschehen nicht mehr voll werde übersehen und meistern können (BGH, Urteil vom 19.4.1994, Az. VI ZR 219/93). Ein Kraftfahrer hat daher nur dann besondere Vorkehrungen zur Abwendung der Gefahr zu treffen, wenn das Verhalten der besonders geschützten Person oder die Situation, in der sie sich befindet, Auffälligkeiten zeigen, die zu Gefährdungen führen könnten (BGH, Urteil vom 23.4.2002, Az. VI ZR 180/01, NZV 2002, 365, 366; OLG Schleswig, Urteil vom 9.2.2011, Az. 7 U 44/10, MDR 2011, 846; Saarländisches Oberlandesgericht Saarbrücken, Urteil vom 13.2.2014, Az. 4 U 59/13, NJW-RR 2014, 1056; OLG Hamm, Beschluss vom 8.1.2016, Az. 9 U 125/15; OLG Hamm, Beschluss vom 10.04.2018, Az.: 7 U 5/18, Rn. 51/51, - juris).

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Der Unfall hat sich in einer einfachen Vorfahrtssituation mit einer grundsätzlich an nicht beschilderten Einmündungen und Kreuzungen geltenden Rechtsvor-Links Regelung ereignet. Die Klägerin hatte gute Sicht auf die Verkehrssituation. Sie fuhr mit einer langsamen und damit - auch für den Beklagten zu 2) erkennbaren - angemessenen Geschwindigkeit. Es lagen damit keinerlei Auffälligkeiten vor, die die Annahme gerechtfertigt hätten, dass die Klägerin die Verkehrssituation nicht überblickt und ihre Fahrt unter Verletzung der Vorfahrt des Beklagten zu 2) fortsetzt.

3.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713, 26 Nr. 8 EGZPO.

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