VG Köln, Urteil vom 15.11.2016 - 7 K 4333/14
Fundstelle
openJur 2019, 19629
  • Rkr:
Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheids vom 25.10.2013 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheids vom 06.02.2014 verpflichtet, der Klägerin Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz zu gewähren.

Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand

Die im Juni 1961 geborene Klägerin stellte im Januar 2013 bei der Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem Conterganstiftungsgesetz (ContStiftG). Sie erklärte, ihre Mutter habe sie in ihrer Kindheit über ihre Fehlbildungen aufgeklärt und mitgeteilt, sie habe geringe Mengen Contergantabletten eingenommen, jedoch nicht am Anfang der Schwangerschaft; daher sei sie von schwerwiegenden Fehlbildungen verschont geblieben. Die Klägerin machte folgende Schäden als thalidomidbedingt geltend:

- massive LWS-Skoliose sowie

  HWS-Blockwirbel (C3/4 und C6/7) (Befundbericht Frau Steiger 2001)

- Fehlbildung der rechten Ohrmuschel bei regelrechtem Gehörgang und Mittelohr und

  Schwerhörigkeit links nach Operation am Cholesteatom (Bescheinigung HNO-Arzt

  Dr. Zerfass 2013)

- Hammer- oder Krallenzehe

- Conterganschaden rechte Hand

Hinsichtlich der Fehlbildung der rechten Hand legte die Klägerin eine Bescheinigung des Orthopäden Dr. Goldstein aus dem Jahr 2001 vor. Er diagnostiziert einen Conterganschaden der rechten Hand mit Hypomelie im Bereich Metacarpale I. Es finde sich eine Dysmelie des Daumens; ein 6. Krallenfinger sei im Alter von etwa 2 Jahren entfernt worden.

Die Beklagte legte den Fall der Medizinischen Kommission zur Beurteilung vor.

Dr. Graf hielt in seiner Stellungnahme vom 30.03.2013 einen Conterganschaden aus orthopädischer Sicht für möglich. Die Veränderungen an den Füßen hätten mit Contergan nichts zu tun. Die LWS zeige eine deutliche Skoliose ohne eindeutige Hinweise auf Blockwirbel. Die HWS weise Blockwirbel und erhebliche degenerative Schäden auf. Blockwirbel seien relativ typisch für Conterganschäden; sie kämen sonst selten vor. Die rechte Hand zeige die für eine Conterganschädigung typische Veränderung mit Hypoplasie des 1. Strahls. (Nicht eindeutig) gegen einen Conterganschaden spreche die Einseitigkeit im Bereich der oberen Extremitäten.

Die Humangenetikerin Prof. Dr. L.    führte in ihrer Stellungnahme vom 23.09.2013 aus, die Fehlbildungssymptomatik sei nicht thalidomidtypisch und spreche daher gegen eine Thalidomidembryopathie. Ähnlich geringfügig ausgeprägte Ohrmuschelanomalien kämen in der Allgemeinbevölkerung recht häufig vor. Eine einseitige Ohrmuschelvariante ohne weitere Fehlbildungen von Gehörgang und Mittelohr sei nicht typisch für eine Thalidomidembryopathie. Auch die einseitige Handfehlbildung sei nicht thalidomidtypisch. Die neben der Hypoplasie des Daumens ursprünglich vorhandene Polydaktylie an der rechten Hand, sei bei Thalidomidembryopathie nicht beschrieben. Zur Symptomatik einer Thalidomidembryopathie passe nicht, dass nur die HWS kongenitale Blockwirbelbildungen aufweise. Die daneben vorhandenen Symptome Skoliose, Kyphose, Spondylosis deformans von BWS und LWS seien als Folgeschäden der statischen Fehlhaltung zu sehen.

Mit Bescheid vom 25.10.2013 lehnte die Beklagte den Antrag ab. Sie verwies auf die Einschätzungen von Prof. Dr. L.    und Dr. H.    , soweit darin Zweifel an einer Thalidomidembryopathie geäußert worden waren. Zudem entstünden Conterganfehlbildungen nur, wenn thalidomidhaltige Präparate - anders als im Fall der Klägerin - zu Beginn der Schwangerschaft eingenommen würden.

Mit ihrem gegen diese Entscheidung gerichteten Widerspruch machte die Klägerin geltend, ihre Mutter habe definitiv Contergan eingenommen. Sie kenne nur nicht den exakten Zeitpunkt. Wahrscheinlich habe sie in ihrer kindlichen Naivität glauben  wollen, dass sie bei einer früheren Einnahme schwerere Schäden davon getragen hätte. Als sich für sie durch den Wegfall der Ausschlussfrist die Möglichkeit zur Antragstellung ergeben habe, habe sie ihre Mutter aufgrund mehrerer Schlaganfälle nicht mehr befragen können. Ihre sieben Geschwister hätten keine Fehlbildungen. Wenn Fehlbildungen in der Regel beidseitig aufträten, müsse es auch Ausnahmen geben. Im Bereich der Wirbelsäule habe sie an der LWS Keilwirbel und an der HWS neben Blockwirbeln auch zwei Synostosen. Synostosen seien ebenso wie einseitige Daumenfehlbildungen und Hypoplasien des Mittelhandknochens in der Medizinischen Punktetabelle erwähnt. Im Übrigen seien die Fehlbildungen der oberen Extremitäten keineswegs einseitig. Wie auf den übersandten Fotos ihrer Hände deutlich zu erkennen sei, entspreche die Form ihres linken Daumens eher der eines (Lang-) Fingers. Beigefügt war eine Bescheinigung der Orthopädin Steiger von November 2013. Sie führt aus, das Grundgelenk des linken Daumens sei deutlich überstreckbar. Im Endgelenk liege eine leichte Ulnardeviation vor. Der Daumenstrahl weise keine Skelettanomalie auf. Herr X.      L1.     gab in einer eidesstattlichen Erklärung vom 29.01.2014 an, er sei der Bruder der Mutter der Klägerin. Als er die Klägerin zum ersten Mal gesehen und seine Schwester auf die Fehlbildungen angesprochen habe, habe diese ihm gesagt, dass sie während der Schwangerschaft Contergan eingenommen habe.

Die Beklagte befasste den Orthopäden Prof. Dr. G.     mit dem Vorgang. Er kam in seiner Stellungnahme vom 25.05.2014 zum Schluss, dass die bei der Klägerin vorliegenden skelettalen Veränderungen zum Teil, nämlich hinsichtlich der Daumenhypoplasie, auch bei der Thalidomidembryopathie zu finden seien. Sie entspreche dem Typ II der Daumenhypoplasie. Auffallend seien die nur einseitige Handveränderung und die Ausbildung eines 6. Fingers laut Anamnese. Polydaktylie sei für die Thalidomidembryopathie nicht beschrieben. Auf den Röntgenaufnahmen und Fotos der linken Hand, die eine regelrechte Anlage des 1. Strahls zeigten, ließen sich keine thalidomidtypischen Veränderungen erkennen. Die Fehlbildungen an Hals- und Lendenwirbelsäule wiesen keine Verbindung zur Thalidomidembryopathie auf. Bei der Thalidomidembryopathie seien Fehlbildungen des Bandscheibenraums nur an der unteren Brust- und Lendenwirbelsäule gefunden worden. Eine Skoliose komme bei etwa einem Drittel der Patienten mit Thalidomidembryopathie vor, sie sei jedoch kein Beleg für eine Thalidomidembryopathie. Das Röntgenbild des linken Fußes sei vollkommen unauffällig und zeige keine Veränderungen, die im Sinne einer Thalidomidembryopathie interpretiert werden könnten. Im Hinblick auf die nicht typischen Veränderungen der rechten Hand und den Zeitpunkt der berichteten Tabletteneinnahme plädiere er für eine Antragsablehnung.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 14.07.2014 zurück. Hierbei verwies sie auf die Stellungnahme von Prof. Dr. G.     .

Die Klägerin hat am 08.08.2014 Klage erhoben.

Zur Klagebegründung wendet sie sich dagegen, dass ausschließlich Stellungnahmen von Ärzten eingeholt worden seien, die als ständige Gutachter der Medizinischen Kommission im Lager der Beklagten stünden. Ihre nicht abgewogenen Äußerungen stützten sich auf ältere Literatur, ohne die Zahl der abgewiesenen Antragsteller mit einem vergleichbaren Schädigungsbild zu berücksichtigen. Aus der unspezifischen Information, dass Contergan nicht am Anfang der Schwangerschaft eingenommen worden sei, hätten die Gutachter nicht ableiten dürfen, dass der Zeitpunkt der berichteten Tabletteneinnahme eine Antragsablehnung rechtfertige. Die Gewährung von Leistungen nach dem ContStiftG setze nicht voraus, dass eine Schädigung typisch für eine Thalidomidembryopathie oder bereits einmal beschrieben worden sei. Die gleichzeitige Missbildung von Daumen und Ohr stehe mit dem Fehlbildungszeitplan in Einklang. Es handle sich dabei auch um thalidomidtypische Fehlbildungen. Ein überzähliger dysplastischer Finger sowie die einseitige Ohrmuscheldeformierung fänden in der Medizinischen Punktetabelle Berücksichtigung. Gleichwohl habe die Beklagte es versäumt, ein HNO-spezifisches Gutachten einzuholen. Dass bestimmte Fehlbildungen in der Allgemeinbevölkerung anzutreffen seien, gelte auch für andere anerkannte Conterganschädigungen. Nach der Veröffentlichung „Conterganbedingte Schädigungen des Skelettsystems“ von Prof. Peters kämen Blockwirbel auch an der HWS vor. Dass Blockwirbel im HWS-Bereich in der von den Gutachtern der medizinischen Kommission zitierten Literatur keine Erwähnung fänden, sei unschädlich, denn die Arbeiten seien entweder nicht auf eine umfassende Auflistung orthopädischer Thalidomidschäden fokussiert, oder sie beschränkten sich auf Häufigkeitsverteilungen  bei einigen Patienten. Daraus lasse sich nicht ableiten, dass ein spezielles Schädigungsmuster keine Conterganschädigung darstelle. Für einen Zusammenhang zwischen der Conterganeinnahme und den Fehlbildungen an der Wirbelsäule sprächen thalidomidtypische Fehlbildungen an den Außenorganen. Zudem leide sie unter einer thalidomidbedingten Kieferfehlbildung, die ebenfalls in die medizinische Punktetabelle aufgenommen sei. Hierzu ist eine Bescheinigung des Zahnarztes Dr. M.            aus 2014 vorgelegt worden, wonach die Klägerin einen offenen Biss habe.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheids vom 25.10.2013 und ihres Widerspruchsbescheids vom 14.07.2014 zu verpflichten, ihr Leistungen nach den ContStiftG zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

              die Klage abzuweisen.

Sie verweist auf eine weitere Stellungnahme von Prof. Dr. L.    vom 21.01.2015, die ausführt, eine ursächliche Verbindung zwischen den Fehlbildungen bei der Klägerin und einer Thalidomideinwirkung lasse sich nicht daraus schließen, dass die Geschwister gesund geboren seien. Soweit die Klägerin sich darauf berufe, dass überzählige Finger in der medizinischen Punktetabelle genannt würden, sei darauf hinzuweisen, dass die einseitige Hypoplasie des Daumens in Kombination mit einem zusätzlich ausgebildeten radialseitigen Krallenfinger bei Thalidomidgeschädigten nicht beschrieben sei. Liege eine LWS-Skoliose ohne weitere thalidomidtypische Auffälligkeiten an den Wirbelkörpern vor, spreche dies nicht für eine Thalidomidembryopathie, denn solche Skoliosen würden auch in der Allgemeinbevölkerung beobachtet. Prof. Dr. G.     erwähne keine Keilwirbel in seinem Gutachten. Auch fehlten ventrale Verknöcherungsstörungen an den Wirbelkörpern der LWS, wie sie für eine Thalidomidembryopathie typisch seien. Sie bleibe dabei, dass die Ausbildung von Blockwirbeln an der HWS kein thalidomidtypisches Symptom sei; In der Literatur finde sie keine Erwähnung. Die Genese eines „offenen Bisses“ sei heterogen und keine thalidomidtypische Fehlbildung.

Auf Nachfrage, welche Fallgestaltungen überzähliger Finger bei Thalidomidgeschädigten beobachtet worden sind, hat die Beklagte erklärt, es seien drei Geschädigte mit überzähligen Fingern beidseits (Diagnoseziffer 094) und sechs Geschädigte mit einer einseitigen Ausbildung eines zusätzlichen Fingers (093)  anerkannt worden. Bei zwei der beidseits Betroffenen seien an jeder Hand fünf dreigliedrige Finger vorhanden und zusätzlich ein rudimentärer Daumen an der radialen Seite beschrieben (002); bei ihnen seien ausschließlich orthopädische Schäden anerkannt worden. Der dritte Fall habe einen Daumenschaden zweigliedrig (004) und zusätzlich multiple Schäden am Kiefer, an den Augen und des HNO-Bereichs aufgewiesen. Von den sechs Fällen einseitiger Mehrfingrigkeit seien bei fünf Personen beide Hände geschädigt, bei ihnen sei die Mehrfingrigkeit mit der Ausbildung eines dreigliedrigen Daumens einhergegangen; zusätzlich wiesen an dieser Seite Radius und Ellbogen Schäden auf.

In einem ergänzend eingeholten Gutachten vom 02.11.2015 führt die HNO-Ärztin Dr. X1.       aus, bei der Thalidomidembryopathie gebe es durchaus einseitige Fehlbildungen der Ohrmuschel. Im Einzelfall seien diese auch ohne Gehörgangsveränderungen und ohne Einbeziehung des Mittelohrs zu finden. Allerdings seien Ohrmuschelveränderungen recht häufig und ließen nicht den Umkehrschluss zu, dass es sich um einen Thalidomidschaden handle. Die Fehlbildung bei der Klägerin vermindere die Größe nicht unter 2/3 der Norm, so dass man keine Schadenspunkte vergeben würde.

Mit Beschlüssen vom 06.02.2015 und 26.02.2015 hat die Kammer der Klägerin Prozesskostenhilfe bewilligt  und die Prozessbevollmächtigten beigeordnet.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der von der Beklagten vorgelegten Vorgänge Bezug genommen.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid der Beklagten vom 25.10.2013 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheids vom 14.07.2014 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem ContStiftG zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

Gemäß § 12 Abs. 1 Satz 1 ContStiftG setzt die Gewährung von Leistungen nach § 13 ContStiftG voraus, dass der Antragsteller Fehlbildungen aufweist, die mit der Einnahme thalidomidhaltiger Präparate der Grünenthal GmbH, Aachen, durch die Mutter während der Schwangerschaft in Verbindung gebracht werden können. Der Kreis der Anspruchsberechtigten ist weit gefasst, um zugunsten etwaiger Betroffener dem Umstand Rechnung zu tragen, dass eine über jeden Zweifel erhabene Kausalitätsfeststellung unmöglich ist,

vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 02.12.2011 - 16 E 723/11 -, vom 25.03.2013     - 16 E 1139/12 - und vom 14.01.2015 - 16 E 435/13 -,

weil sowohl die Aufklärung einer Thalidomideinnahme durch die Mutter während einer mehrere Jahrzehnte zurückliegenden Schwangerschaft als auch die eindeutige Feststellung eines naturwissenschaftlichen Zusammenhangs zwischen der Einnahme und einer Fehlbildung an Grenzen stoßen. Allerdings reicht es für die Zuerkennung der Leistungsberechtigung nicht aus, dass Thalidomid als mögliche Ursache von Fehlbildungen nicht auszuschließen ist. Ansonsten ließe sich der anspruchsberechtigte Personenkreis, der nach dem Willen des Gesetzgebers aus dem Stiftungsvermögen profitieren soll, nicht verlässlich eingrenzen. Angesichts der theoretisch vielfältigen und wohl noch nicht bis ins Letzte ergründeten Ursachen für kongenitale Missbildungen muss gerade die Einwirkung von Thalidomid während der Embryonalentwicklung wahrscheinliche Ursache der Fehlbildungen des Antragstellers sein,

vgl. OVG NRW, Beschluss vom 30.12.2015 - 16 A 1852/15 -; VG Köln, Urteil vom 24.02.2015 - 7 K 4608/13 -.

Dies zugrunde gelegt, lassen sich bei der Klägerin erkennbare Fehlbildungen mit einer Thalidomideinnahme durch ihre Mutter in Verbindung bringen.

Die Einnahme von Contergantabletten während der Schwangerschaft, von der die Mutter der Klägerin nach ihren Angaben als Kind erzählt hat, wird von dem Bruder der Mutter bestätigt. Die Kammer hat keine Bedenken gegen die Glaubhaftigkeit dieses Vorbringens. Die Klägerin hat die Einnahme dargelegt, wie sie in ihrer Familie überliefert worden ist. Ferner hat sie nachvollziehbar geschildert, weshalb sie keine näheren Angaben dazu machen kann, wann genau die Mutter die Tabletten eingenommen hat. Dass die Mutter ihr damals erklärt haben soll, eine Einnahme sei nicht „am Anfang der Schwangerschaft“ erfolgt, führt nicht zu der Annahme, die Mutter habe die Tabletten außerhalb des für Thalidomidschädigungen sensiblen Zeitraums von knapp 20 Tagen genommen. Die Angabe ist in ihrer zeitlichen Abgrenzung äußerst vage. Die Dauer einer Schwangerschaft beträgt etwa 38 Wochen ab dem - der Schwangeren meist nicht genau bekannten - Zeitpunkt der Befruchtung. Angesichts der Länge dieses Zeitraums kann „am Anfang“ durchaus die Phase der ersten Monate oder auch die allerersten, vor der teratogenen Phase liegenden Tage bedeuten. Dass die teratogene Phase der Schwangerschaft im Herbst 1960 in den Vertriebszeitraum von Thalidomid fällt, lässt zwar für sich genommen nicht den Schluss auf eine Thalidomideinnahme zu, passt jedoch zu dem plausiblen Vorbringen der Klägerin.

Ist danach eine Conterganeinnahme während der Schwangerschaft wahrscheinlich, ohne dass sich nach so langer Zeit die Einnahme gerade während des thalidomidsensiblen Zeitraums sicher feststellen lässt, führt eine Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung des Erscheinungsbildes der Fehlbildungen zu der Annahme, dass die Fehlbildungen der Klägerin zumindest mit Wahrscheinlichkeit mit einer Thalidomideinnahme durch die Mutter zusammenhängen. Hiervon hat sich die Kammer nach Auswertung sämtlicher ärztlicher Stellungnahmen, insbesondere der von der Beklagten eingeholten Stellungnahmen überzeugt.

Maßgebend für die Überzeugungsbildung der Kammer in diesem Einzelfall ist, dass das bei der Klägerin anzutreffende Schädigungsbild eine für die Thalidomidschädigung typische Fehlbildung aufweist (dazu 1.), die mit anderen häufig oder nur vereinzelt bei Thalidomidgeschädigten auftretenden weiteren Schäden zusammentrifft, welche selbst zwar nicht charakteristisch für die Thalidomidembryopathie sind, aber durchaus mit - ihrer aus der typischen Fehlbildung abgeleiteten -  Annahme in Einklang stehen (dazu 2.). In dem Gesamtbild der Fehlbildungen hat die Kammer schließlich Gegebenheiten, die mit einer Thalidomidembryopathie nicht vereinbar sind und daher das aus der typischen Fehlbildung ableitbare Indiz entkräften, nicht eindeutig feststellen können (dazu 3.).

An dieser auf dem herabgesetzten Kausalitätsmaßstab fußenden Einschätzung sieht sich die Kammer nicht durch die Beurteilung von Prof. Dr. L.    gehindert, es seien nicht sämtliche einzelnen Fehlbildungen und deren Gesamtbild für die Thalidomidembryopathie typisch. Die daraus und aus der Thalidomidanamnese abgeleitete Folgerung, Thalidomid sei als Ursache der Fehlbildungen unwahrscheinlich, verlässt den Bereich medizinischen Fachwissens und betrifft die vom Gericht zu beantwortende Rechtsfrage, welche Anforderungen an das Beweismaß bei der Prüfung anzuwenden sind, ob die in § 12 Abs. 1 Satz 1 ContStiftG genannten Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen.

1. Die Klägerin weist an der rechten Hand mit der Daumenhypoplasie vom Typ II eine Fehlbildung des 1. Strahls auf, wie sie für die Thalidomidembryopathie typisch ist. Dies entnimmt die Kammer den orthopädischen Stellungnahmen, die sich mit den Erkenntnissen aus anderen Verfahren decken. Diese Typik gibt für sich betrachtet einen deutlichen Hinweis auf einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Thalidomideinnahme und der Körperschädigung.

2. Mit der Annahme eines Thalidomidschadens zumindest vereinbar sind weitere Elemente des bei der Klägerin vorhandenen Schadensbilds.

Dabei handelt es sich zum einen um Schäden, die mitunter mit der Thalidomidembryopathie einhergehen, aber wegen ihres häufigen Vorkommens auch in der Allgemeinbevölkerung selbst kein aussagekräftiges Indiz für eine Thalidomidembryopathie sind. Dies gilt für die Skoliose der Klägerin, die entsprechend der Stellungnahme von Prof. Dr. G.     etwa ein Drittel der thalidomidgeschädigten Patienten zeigen (vgl. Ruffing, Die Wirbelsäule bei der Thalidomid-Embryopathie  in: Fortschritte der Medizin 1980, S. 406). Auch die bei der Klägerin am rechten Ohr anzutreffende Ohrmuschelfehlbildung ohne Gehörgangsveränderungen kommt bei der Thalidomidembryopathie (vgl. etwa Nowack, Die sensible Phase bei der Thalidomid-Embryopathie, Humangenetik 1, 1965, S. 516, 527) wie auch in der Allgemeinbevölkerung vor, wie die Stellungnahmen von Prof. Dr. L.    und Dr. X1.       zeigen.

Zum anderen stehen auch Ausprägungen des bei der Klägerin vorhandenen Schadensbildes, die nur in Einzelfällen bei Thalidomidgeschädigten beobachtet wurden, der aus der typischen Fehlbildung des rechten Daumenstrahls abgeleiteten Annahme eines wahrscheinlichen Kausalitätszusammenhangs nicht entgegen, sondern sind damit in Einklang zu bringen.

Dazu zählt zunächst der Umstand, dass die am rechten Daumen der Klägerin und an ihrer rechten Ohrmuschel vorliegenden Fehlbildungen nicht auch auf der linken Seite anzutreffen sind. Der linke Daumen wirkt zwar auf den vorgelegten Fotos ungewöhnlich lang. Jedoch weist das Röntgenbild des linken Daumenstrahls nach dem Befund von Prof. Dr. G.     wie auch von Frau T.       keinerlei Skelettanomalie auf. Die Schäden an Ohr und Daumen sind demnach einseitig.

Angesichts der Wirkungsweise von Thalidomid begegnet es Bedenken, einseitig ausgeprägte Fehlbildungen einschränkungslos auf eine Thalidomideinnahme zurückzuführen. Denn ein Teratogen erreicht den Embryo über den konstanten Blutstrom der Mutter zur Plazenta und wirkt dort in den jeweils anstehenden Entwicklungsphasen. Dementsprechend ist nachvollziehbar, dass ausgeprägt einseitige Fehlbildungen, also solche, bei denen die allein betroffene Seite erhebliche Schädigungen aufweist, gegen eine teratogene Schädigung durch Thalidomid sprechen,

vgl. VG Köln, Urteil vom 15.04.2015 – 7 K 1778/13 -; in diese Richtung auch OVG NRW, Beschluss vom 28.12.2015 – 16 A 1124/15 -.

Aus Sicht der Kammer schließt das Wirkprinzip von Thalidomid nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand jedoch nicht in jedem Fall das Vorkommen einseitiger Thalidomidschäden aus. Wie die Kammer aus diesem wie auch aus verschiedenen anderen Verfahren ersehen kann, hat selbst die Medizinische Kommission der Beklagten, der das ContStiftG die Untersuchung von Schadensfällen auf eine Thalidomidembryopathie hin zuweist und deren Mitglieder durchweg langjährige Erfahrung mit Thalidomidschäden besitzen, zu dieser Frage noch keine einheitliche Haltung finden können. Mehrere Mitglieder der Kommission vertreten die Auffassung, dass einseitige Fehlbildungen mit der Annahme eines Thalidomidschadens im Einzelfall vereinbar sein können. So betont Dr. X1.       im vorliegenden Fall, dass explizit die einseitige Ohrmuscheldysplasie durchaus bei der Thalidomidembryopathie vorkommt. Dr. H.    hält einen Conterganschaden auch vor dem Hintergrund der einseitigen Daumenhypoplasie für möglich.

Nach Auswertung der Fachquellen, auf die sich Prof. Dr. L.    für den Ausschluss einseitiger Thalidomidschäden stützt, kommt die Kammer zu dem Schluss, dass jedenfalls die bei der Klägerin anzutreffende Form der Einseitigkeit der Annahme eines Thalidomidschadens nicht entgegensteht. Ihre Fehlbildungen an der rechten Hand und am rechten Ohr sind dadurch gekennzeichnet, dass sie extrem milde ausfallen. Den Stellungnahmen von Prof. Dr. L.    und Dr. X1.       ist zu entnehmen, dass die Ausformung der rechten Ohrmuschel der Klägerin nur gering auffällig erscheint, wobei die Grundstruktur mit Helix, Antehelix, Ohrläppchen und Eingang zum äußeren Gehörgang erhalten ist, die Größe der Muschel nicht nennenswert vom Normalmaß abweicht und innere Bereiche des Ohrs nicht betroffen sind. Bei der Hypoplasie des rechten Daumens handelt es sich ebenfalls um eine geringfügige Ausprägung einer Fehlbildung der oberen Extremität. Der Daumentyp ist die mildeste Form der Dysmelie, d.h. der Extremitätenfehlbildung (vgl. Henkel/Willert, Dysmelia, A classification and a Pattern of Malformation in an Group of Congenital Defects of the Limbs, 1969). Eine wissenschaftliche Quelle, die derart geringfügige einseitige Fehlbildungen Thalidomid als Ursache ausdrücklich ausschließt, hat die Kammer nicht finden können. Soweit Prof. Dr. L.    sich auf Smithells/Newman, Recognition of thalidomid defects, J Med Genet 1992, 29: 716 - 719 bezieht, ist dort lediglich ausgeführt, dass bei der Ausbildung paariger Körperteile die rechte und die linke Seite sich „mehr oder weniger parallel“ entwickelten; obwohl es schwierig sei sich vorzustellen, dass ein Stoff, der den Embryo über den Blutstrom erreiche, nur auf einer Seite wirke, und man daher erwarten würde, dass zweiseitige Strukturen mehr oder weniger symmetrisch betroffen wären, seien Variationen anzutreffen. Bezogen auf die oberen Extremitäten weisen Smithell/Newman nur darauf hin, dass die Wahrscheinlichkeit einer stofflichen Ursache (wie Thalidomid) mit der Zunahme der Unterschiede zwischen beiden Seiten abnehme, ohne dass klare Grenzen gezogen werden könnten. Auch Lenz/Knapp, Die Thalidomid-Embryopathie, Deutsche medizinische Wochenschrift 1962, S. 1232 ff. und Nowack, Die sensible Phase bei der Thalidomid-Embryopathie, Humangenetik 1, 1965, S. 516 ff. schließen Fälle milder Einseitigkeit von der Thalidomidembryopathie an keiner Stelle aus. Ihre Arbeiten werten einige hundert Fälle fehlgebildeter Kinder aus, die zu Beginn der sechziger Jahre auffielen und bei denen die Thalidomideinnahme durch die Mutter einschließlich deren Zeitpunktes noch konkret erhoben werden konnten. Diese Auswertung war die maßgebliche Grundlage für die Entdeckung der Thalidomidembryopathie und prägt bis heute das Wissen über Missbildungen infolge Thalidomideinnahme durch die Mutter. Gerade in diesen Arbeiten sind jedoch nicht nur eine Mehrzahl deutlich asymmetrischer Fehlbildungen an den oberen Extremitäten (Bsp. Fall 61 10 23 M.W. „Linker Arm Stummel mit 3 Fingern. Rechter Arm verkürzt, Klumphandstellung 4 Finger...“) erwähnt. Es sind dort auch einzelne Fälle einseitiger Daumen- oder Ohrfehlbildungen dokumentiert (Bsp. Fall 61 11 28 U.P. „Anotie beidseits. Daumenagenesie rechts. Facialisparese rechts“; Fall 62 05 28 K.S. Linke Ohrmuschel nicht richtig ausgebildet...“, Fall 62 03 14 R.S. „Missbildung der rechten Ohrmuschel...“; Fall 61 06 00 „...Missbildung des rechten Daumens und Zeigefingers“). Auch die an anderer Stelle von der Beklagten angeführte Arbeit von Henkel/Willert, Dysmelia, S, 410, 411 fand bei 287 Kindern mit Extremitätenschäden die Fälle oberer Extremitätenfehlbildungen zweiseitig vor mit Ausnahme von 14 Personen, die geringgradige einseitige radiale Schäden aufwiesen.

Vor diesem Hintergrund vermag sich die Kammer nicht davon zu überzeugen, dass die denkbar milde ausgeprägte Ohrmuschel- und Daumenfehlbildung auf der einen Seite bei normaler Ausprägung der anderen Seite, wie sie bei der Klägerin vorliegt, eine Thalidomidembryopathie ausschließt. Vielmehr ist hier der Unterschied zwischen beiden Seiten derart geringfügig und deutlich kleiner als bei zahlreichen anerkannten asymmetrischen Thalidomidschäden, dass bei Berücksichtigung des herabgesetzten Kausalitätsmaßstabs hierin kein Ausschlussgrund zu sehen ist, wenn andere Merkmale des Erscheinungsbilds eine Typik für die Thalidomidembryopathie aufweisen.

Auch der an der rechten Hand der Klägerin ursprünglich vorhandene sechste Finger passt in das Bild einer aus der Daumenhypoplasie abgeleiteten Annahme eines wahrscheinlichen Thalidomidschadens. Entgegen der ursprünglichen Stellungnahme von Prof. Dr. L.    und der Äußerung von Prof. Dr. G.     sind solche Fälle von Polydaktylien der Hände in der Fachliteratur beschrieben. Lenz/Knapp a.a.O. und Nowack a.a.O. erwähnen bereits in ihren grundlegenden Arbeiten zur Thalidomidembryopathie mehrere Fälle derartiger Polydaktylie (Bsp. Fall 60 12 13 „Links sechs Finger...“; Fall 61 12 13 J:H: „...links 6 Finger; Fall 61 05 11 W.H. „... Rechts 6 Finger...“) Nowack beschreibt Polydaktylie der Finger allgemein als eine mögliche Ausprägung von Strahldefekten der Arme (a.a.O. S. 527). Mit dieser Quellenlage in Einklang steht, dass sowohl die Diagnosetabelle für die Bewilligungsbescheide unter 093 und 094 den überzähligen Finger einseitig bzw. beidseitig erfasst als auch die Medizinische Punktetabelle, die den Richtlinien der Beklagten für die Gewährung von Leistungen wegen Contergan-Schadensfällen als Anlage beigefügt ist, unter 1.3.1 den überzähligen dysplastischen Finger berücksichtigt. Zwar kann die Punktetabelle keine Auskunft darüber geben, ob eine Schädigung – insbesondere ohne gleichzeitiges Auftreten von thalidomidtypischen Fehlbildungen – stets als Conterganschaden anzusehen ist,

              vgl. OVG NRW, Beschluss vom 28.12.2015 - 16 A 750/15 -.

Sie lässt jedoch erkennen, dass aus Sicht der Beklagten Polydaktylien an den Händen mit einem aus anderen Fehlbildungen abgeleiteten Thalidomidschaden mitunter einhergehen können. In Konsequenz dieses Umstands hat die Beklagte mehrere Fälle, bei denen - einseitige oder beidseitige - Mehrfingrigkeit weitere Fehlbildungen begleitete, ursächlich einer Thalidomidembryopathie zugeordnet.

Die Vereinbarkeit des überzähligen Fingers mit der Annahme eines Thalidomidschadens wird auch nicht schlüssig durch die Aussage von Prof. Dr. L.    in Frage gestellt, zumindest sei die Kombination eines zusätzlichen radialseitigen „Krallenfingers“ mit der einseitigen Hypoplasie des Daumens bei Thalidomidgeschädigten nicht beschrieben. Die bei der Klägerin anzutreffende Fehlbildung an der Hand ähnelt zumindest derjenigen zweigliedrigen Daumenschädigung mit überzähligem Finger, die die Beklagte bereits als thalidomidbedingt anerkannt hat. Lässt sich aber der einseitige Daumenschaden der Klägerin mit einer Thalidomideinnahme in Verbindung bringen und hat die Beklagte bereits Fälle einseitiger Polydaktylie der Finger wie auch die Kombination einer zweigliedrigen Daumenhypoplasie mit Mehrfingrigkeit bei Thalidomidgeschädigten beobachtet, ist weder durch die sachverständige Stellungnahme plausibel gemacht noch sonst für die Kammer erkennbar, aus welcher wissenschaftlichen Erwägung heraus die bei der Klägerin anzutreffende Zusammensetzung dieser Elemente einer Handfehlbildung nicht mit einer Thalidomidschädigung einhergehen kann. Insbesondere hat keiner der Sachverständigen den Standpunkt vertreten, die Fehlbildungssymptomatik sei mit einer Thalidomidembryopathie nicht in Einklang zu bringen, weil sie ihr innewohnenden Schädigungsmustern bzw. sonstigen Gesetzmäßigkeiten zuwiderlauft. Angesichts der erheblichen Vielfalt, mit der einzelne Fehlbildungen bereits in den von Lenz/Knapp und Nowack dokumentierten Fällen miteinander kombiniert sind, sieht die Kammer keinen Grund, weshalb ein komplexes Schadensbild bis in jede Einzelheit so schon anderweitig beobachtet und beschrieben worden sein muss, um es mit einer Thalidomideinnahme in Verbindung bringen zu können.

3. Schließlich vermag die Kammer auch keinen Aspekt im Gesamtschadensbild zu erkennen, der die Thalidomideinnahme als wahrscheinliche Ursache für die Fehlbildungen der Klägerin ausschließt.

Insbesondere hat die Kammer keine eindeutigen Anhaltspunkte dafür, dass die Lage der Blockwirbel an der Halswirbelsäule ein solches Ausschlusskriterium darstellt. Dr. H.    sieht Blockwirbel als relativ typisch für Conterganschäden an, ohne diesen Befund auf bestimmte Bereiche der Wirbelsäule zu beschränken. Die von der Klägerin angeführte Übersicht von Dr. Peters weist Blockwirbel an der Halswirbelsäule ausdrücklich den Thalidomidschäden zu, ohne dies wissenschaftlich zu untermauern. Prof. Dr. G.     und Prof. Dr. L.    gehen davon aus, dass thalidomidbedingte Blockwirbelbildungen an der Halswirbelsäule nicht beschrieben sind. Die von ihnen herangezogenen Fachquellen äußern sich überwiegend nicht dazu, inwieweit die Lage von Blockwirbeln Thalidomid als deren ursächlichen Faktor nahelegt oder ausschließt. Marquardt, The total treatment of the limb deficient child, 1969, S.19 sowie Edwards/Nichols, The spinal abnormalities in Thalidomide, Acta orthop 48, 273, 275 sprechen die Fusion von Wirbelkörpern an, ohne die Halswirbelsäule auszunehmen. Smithells/Newman a.a.O. S. 720 stellen angeborenen Schäden am Kreuzbein „spätere Veränderungen“ der Wirbelsäule, wie etwa Verknöcherungen von Wirbelkörpern, die grundsätzlich den unteren Brust- und Lendenwirbelbereich beträfen, gegenüber. Rathke/Rompe, Untersuchungen über angeborene Formveränderungen in der Wirbelkörperreihe und ihre Beziehungen zu Wirbelsäulenverbiegungen, S. 559 haben bei 100 röntgenologischen Beobachtungen in 26 Fällen Wirbelverblockungen gesehen, die sich über 78 Wirbel erstreckten; an 21 Wirbelsäulen wurden Halbwirbel gefunden, die zwischen dem 7. Halswirbel und dem 5. Lendenwirbel vorkamen. Diese Quelle verhält sich allgemein zu angeborenen Veränderungen der Wirbelsäule und weist keinen Bezug zu Thalidomid als Schadensursache  auf. Ausdrücklich äußern sich Rathke/Rompe noch nicht einmal zu der Lage angeborener Blockwirbel. Sollten Prof. Dr. G.     und Prof. Dr. L.    diese Quelle zitiert haben, weil die Verortung von Halbwirbeln im Brust- und Lendenwirbelbereich wegen deren Verschmelzungstendenz mittelbar auch auf eine entsprechende Lage von Blockwirbeln hinweist, wäre damit allenfalls die Aussage verbunden, dass angeborene Blockwirbel generell, also unabhängig von ihrer Genese nur unterhalb des 7. Halswirbels auftreten. Dann würde jedoch die Lage der Blockwirbel keinen Rückschluss darauf zulassen, dass gerade Thalidomid als Ursache in Betracht kommt oder auszuschließen ist, sondern lediglich darauf, ob diese Wirbelmissbildung angeboren oder erworben ist. Dies würde wiederum die Aussagekraft der weiteren von Prof. Dr. G.     und Prof. Dr. L.    zitierten Quelle relativieren. Soweit Ruffing a.a.O. S.406 Wirbelverblockungen auf den Bereich zwischen D6/D7 und L4/L5 begrenzt, wäre dies ein Indikator für das Angeborensein, nicht aber für die Art der kongenitalen Entstehungsursache.

Sollten die zitierten Arbeiten dahin zu verstehen sein, dass angeborene Blockwirbel nur im Brust- und Lendenwirbelbereich vorkommen, wäre für die Klägerin in den Raum zu stellen, dass ihre Blockwirbel nicht angeboren, sondern erworben sind. Dann ließe sich aber aus der Lage der Blockwirbel weder etwas für noch gegen die Annahme eines wahrscheinlichen Thalidomidschadens herleiten. Insgesamt lässt sich dem zusammengetragenen Quellenmaterial keine belastbare eindeutige Aussage dahin entnehmen, dass die Blockwirbel an der Halswirbelsäule der Klägerin die aus der thalidomidtypischen  Daumenfehlbildung abgeleitete Annahme einer Thalidomidembryopathie durchgreifend erschüttert.

Schließlich ist auch eine andere wahrscheinliche Ursache für das bei der Klägerin vorliegende Schadensbild, die geeignet wäre, die Indizwirkung der thalidomidtypischen Fehlbildung am rechten Daumen zu entkräften, nicht ersichtlich.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 188 Satz 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.