VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 08.03.2016 - 6 L 2383/15
Fundstelle
openJur 2019, 18512
  • Rkr:
Tenor

1. Es wird vorläufig - bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens 6 K 5042/15 - festgestellt, dass der Zurückstellungsbescheid unwirksam ist.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

2. Der Streitwert wird auf 44.100,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der wörtliche Antrag der Antragstellerin,

die aufschiebende Wirkung der von der Antragstellerin gegen den Zurückstellungsbescheid der Antragsgegnerin vom 29. Oktober 2015 erhobenen Anfechtungsklage wiederherzustellen",

der unter Berücksichtigung der Antragsbegründung der Antragstellerin gemäß § 122 Abs. 1 i.V.m. § 88 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) dahingehend auszulegen ist, dass die Antragstellerin in erster Linie die vorläufige Feststellung begehrt, dass der Zurückstellungsbescheid der Antragsgegnerin vom 29. Oktober 2015 (Az. 04084-15-09) unwirksam ist, hat Erfolg. Der zulässige Antrag ist begründet.

Ungeachtet der Erfolgsaussichten der von der Antragstellerin erhobenen Verpflichtungsklage auf Erteilung eines planungsrechtlichen Bauvorbescheids steht einer Fortführung des Genehmigungsverfahrens und einer Erteilung des begehrten Bauvorbescheides jedenfalls der angegriffene Zurückstellungsbescheid der Antragsgegnerin vom 29. Oktober 2015 nicht entgegen. Dieser wird sich im Hauptsacheverfahren aller Voraussicht nach als unwirksam erweisen.

Der Zurückstellungsbescheid hat keine Wirksamkeit erlangt, da er der Antragstellerin nicht ordnungsgemäß bekanntgegeben worden ist. Insoweit fehlt es an der Zustellung des Zurückstellungsbescheides an die Antragstellerin. Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Zurückstellung ist eine förmliche Zustellung des Zurückstellungsbescheides. Das Zustellungserfordernis in Bezug auf den Zurückstellungsbescheid folgt aus § 1 Landeszustellungsgesetz NRW (LZG NRW) in Verbindung mit § 15 Abs. 3 Satz 1 und § 17 Abs. 1 Satz 2 Baugesetzbuch (BauGB). Die Zustellung richtet sich nach den Bestimmungen des Landeszustellungsgesetzes. Zwar stellt § 1 Abs. 2 LZG NRW selbst kein Zustellungserfordernis auf - er regelt, dass zugestellt wird, soweit dies durch Rechtsvorschrift oder behördliche Anordnung bestimmt ist - und auch die §§ 14 ff. Baugesetzbuch (BauGB) enthalten ihrem Wortlaut nach keine ausdrückliche Bestimmung, dass ein Zurückstellungsbescheid zuzustellen ist. Das Zustellungserfordernis folgt jedoch aus den § 15 Abs. 3 Satz 1 und § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB, in denen der Gesetzgeber rechtserhebliche Wirkungen an die "Zustellung" der Zurückstellung geknüpft hat.

H.M., vgl. nur Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB Kommentar, Loseblatt, Stand: August 2015, § 15 Rdnr. 48; Schiller, in: Bracher/Reidt/Schiller, Bauplanungsrecht, 8. Auflage 2014, Rdnr. 2601; Sennekamp, in: Brügelmann, BauGB Kommentar, Loseblatt, Stand: Dezember 2015, § 15 Rdnr. 48; Rieger, in: Schrödter, BauGB Kommentar, 8. Auflage 2015, § 15 Rdrn. 12; vgl. auch (im Hinblick auf § 6 Abs. 1 Satz 1 AFWoG) BVerwG, Urteil vom 9. Dezember 1988 - 8 C 38.86 -, juris; anders wohl OVG Lüneburg, Beschluss vom 28. November 2006 - 1 ME 147/06 -, juris.

So beginnt gemäß § 15 Abs. 3 Satz 1 BauGB der Zeitraum, für den eine Baugenehmigungsbehörde eine Entscheidung über die Zulässigkeit bestimmter Vorhaben aussetzen kann, mit der Zustellung der Zurückstellung. § 17 Abs. 1 Satz 2 BauGB knüpft für die Anrechnung des Zeitraums einer Zurückstellung auf die Geltungsdauer einer Veränderungssperre ebenfalls an die Zustellung der Zurückstellung an.

Eine Zustellung des Zurückstellungsbescheides ist hier nicht erfolgt. Anhaltspunkte für eine förmliche Zustellung oder den Willen der Antragsgegnerin, den Zurückstellungsbescheid vom 29. Oktober 2015 förmlich zuzustellen, enthalten die von der Antragsgegnerin vorgelegten Verwaltungsvorgänge nicht. Die Antragsgegnerin hat im Laufe des vorliegenden Eilverfahrens zudem ausdrücklich den Standpunkt vertreten, einer Zustellung des Zurückstellungsbescheides habe es nicht bedurft. Der Zurückstellungsbescheid ist der Antragstellerin lediglich bekanntgegeben worden und tatsächlich zugegangen. Dies genügt den an die ordnungsgemäße Bekanntgabe eines Zurückstellungsbescheides zu stellenden Anforderungen nicht.

Das Fehlen einer förmlichen Zustellung ist auch nicht nach § 8 LZG NRW durch die Bekanntgabe des Zurückstellungsbescheides an die Antragstellerin und den tatsächlichen Zugang des Zurückstellungsbescheides geheilt worden. Eine Heilung von Zustellungsmängeln scheidet vorliegend aus. Eine solche kommt nach § 8 LZG NRW lediglich dann in Betracht, wenn ein Dokument nicht formgerecht zugestellt worden ist oder bei der Zustellung zwingende Zustellungsvorschriften verletzt worden sind. Ein solcher Zustellungsmangel liegt hier nicht vor. Vielmehr fehlt es hier bereits an einem Zustellungswillen der Antragsgegnerin. Die Antragsgegnerin hatte - wie auch die von ihr vorgelegten Verwaltungsvorgänge und ihre Ausführungen in der Antragserwiderung belegen - von Anfang an nicht den Willen, der Antragstellerin den Zurückstellungsbescheid förmlich zuzustellen. Der fehlende Wille einer Behörde, überhaupt eine Zustellung vorzunehmen, ist jedoch kein Zustellungsmangel, der einer Heilung nach § 8 LZG NRW zugänglich ist. Der Zustellungswille ist vielmehr unabdingbare Voraussetzung einer Zustellung, ohne dessen Vorhandensein auch eine Anwendung der Vorschriften über die Heilung von Zustellungsmängeln nicht in Betracht kommt.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Juni 1963 - V C 198.62 - und Beschluss vom 31. Mai 2006 - 6 B 65.05 -, beide juris; OVG NRW, Beschluss vom 24. Juli 2007 - 13 B 950/07 -, www.nrwe.de; Schlatmann, in: Engelhardt/App/Schlatmann, VwVG/VwZG Kommentar, 10. Auflage 2014, § 8 Rdnr. 1 f.; U. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, Kommentar, 8. Auflage 2014; § 41 Rdnr. 237 mit weiteren Nachweisen.

Auch wenn man in diesem Zusammenhang differenzierend auf den Zweck der die Zustellung fordernden Vorschrift abstellt,

so jetzt BGH, Urteil v. 27. November 2011- VII ZR 186/09 -, NJW 2011, für § 189 ZPO,

dürfte sich etwas anderes nicht ergeben, weil der Zweck der Zustellung des Zurückstellungsbescheides, den Beginn des Zurückstellungszeitraums exakt und zuverlässig zu dokumentieren, durch den faktischen Zugang des Bescheides nicht zwingend erfüllt wird.

Der Zurückstellungsbescheid hat auch nicht durch die bloße einfache, von einem Bekanntgabewillen der Antragsgegnerin getragene Bekanntgabe an die Antragstellerin und den tatsächlichen Zugang bei der Antragstellerin Wirksamkeit erlangt. Ist - wie hier - als Art der Bekanntgabe eine förmliche Zustellung erforderlich, richtet sich die Beurteilung der Wirksamkeit der Bekanntgabe abschließend nach den Vorgaben der Verwaltungszustellungsgesetze. Eine ergänzende Heranziehung des § 41 VwVfG NRW kommt ebenso wenig in Betracht wie eine Umdeutung der einfachen Bekanntgabe in eine Zustellung.

Vgl. Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG Kommentar, 8. Auflage 2014 § 41 Rdnr. 9; Fröhlich, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG Kommentar, 1. Auflage 2014, § 41 VwVfG Rdnr. 87.

Nach alledem existiert der Zurückstellungsbescheid der Antragsgegnerin rechtlich nicht.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 31. Mai 2006 - 6 B 65.05 -, juris; Sennekamp, in: Brügelmann, BauGB Kommentar, Loseblatt, Stand: Dezember 2015, § 15 Rdnr. 48.

Schließlich kann sich die Antragstellerin auch auf die Unwirksamkeit des Zurückstellungsbescheides berufen. Ihr insoweit bestehendes Rügerecht hat sie nicht verwirkt, da sie die Unwirksamkeit der Zurückstellung wegen fehlender Zustellung alsbald nach der Einsichtnahme in die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin ausdrücklich geltend gemacht hat.

Vgl. zu der Frage des Verlusts des Rügerechts OVG NRW, Beschluss vom 24. Juli 2007 - 13 B 950/07 -, abrufbar unter www.nrwe.de.

Ohne dass es für die Entscheidung darauf ankäme, weist die Kammer darauf hin, dass sie Zweifel daran hat, dass dem Beschluss zur Aufstellung des Bebauungsplans Nr. XXX vom 1. Oktober 2015 eine hinreichend konkrete und damit sicherungsfähige Planung zugrundeliegt. Im Hinblick auf die mit einer Zurückstellung verbundene Einschränkung der Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Grundgesetz muss jedenfalls ein Mindestmaß dessen erkennbar sein, was Inhalt des beabsichtigten Bebauungsplanes sein soll. Ausreichend ist insoweit, dass sich aus dem Planaufstellungsbeschluss, weiteren Verfahrensschritten und aus allen erkennbaren Unterlagen wenigstens ansatzweise ersehen lässt, was Inhalt des künftigen Bebauungsplanes sein soll. Erforderlich, aber auch ausreichend ist grundsätzlich, dass die Gemeinde im Zeitpunkt des Erlasses einer Veränderungssperre zumindest Vorstellungen über die Art der baulichen Nutzung besitzt, sei es, dass sie einen bestimmten Baugebietstyp, sei es, dass sie nach den Vorschriften des § 9 Abs. 1 BauGB festsetzbare Nutzungen ins Auge gefasst hat. Hinreichend konkret und damit sicherungsfähig ist die Planung dann, wenn nach § 14 Abs. 2 BauGB beurteilt werden kann, ob ein konkretes Vorhaben die Planung stören oder erschweren kann.

Vgl. Vgl. BVerwG, Urteile vom 19. Februar 2004 - 4 CN 16.03 und 4 CN 16.03 -, jeweils juris, Beschluss vom 21. Oktober 2010 - 4 BN 26.10 -, juris, in Bezug auf die Alternativen Allgemeines Wohngebiet (WA) und Mischgebiet (MI); Stock, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB Kommentar, Loseblatt, Stand: September 2015, § 14 Rdnr. 45, 46.

Die Kammer hat ernsthafte Bedenken, dass die laut Beschlussvorlage bestehende Absicht der Festsetzung entweder eines Mischgebiets (MI) oder eines Sondergebiets (SO) den Anforderungen an eine hinreichend konkrete und damit sicherungsfähige Planung genügt. Denn ohne entsprechende weitere Konkretisierung ist nicht erkennbar, welche Nutzungsarten in einem zukünftigen "Sondergebiet" nach den Planungen der Antragsgegnerin zu erwarten sind und welche konkreten Vorhaben die Planung stören oder erschweren können. Angesichts der erheblichen Bandbreite denkbarer "Sondergebiete" hätte es insoweit näherer Darlegungen bedurft.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 1 GKG. Dabei hat sich die Kammer am Streitwertkatalog der Bausenate des OVG NRW (BauR 2003, 1883) orientiert und für jeden Quadratmeter Verkaufsfläche einen Wert von 150,- Euro angesetzt. Der sich bei der hier geplanten Verkaufsfläche vom 1.176m² ergebende Betrag von 176.400,- Euro war im Hinblick darauf, dass einerseits die Zurückstellung des Antrags auf Erteilung eines Vorbescheides angegriffen wird, dass aber andererseits das Rechtsschutzbegehren im vorliegenden Fall auf eine Vorwegnahme der Hauptsache - Fortsetzung des Genehmigungsverfahrens - hinausläuft, auf ein Viertel zu reduzieren, so dass sich der festgesetzte Betrag ergibt.

Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 11. Februar 2008 - 10 B 1614/07 -, juris.