ArbG Hamm, Beschluss vom 06.06.2018 - 3 BV 2/18
Fundstelle
openJur 2019, 13965
  • Rkr:
Tenor

Der Antrag wird abgewiesen.

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten über die Frage der Nachwirkung einer Betriebsvereinbarung.

Die Arbeitgeberin ist ein großer Getränkehersteller. Sie beschäftigt am Standort I mehr als 20 wahlberechtigte Arbeitnehmer. Der Antragsteller ist der für den Standort I gebildete Betriebsrat, dessen Vorsitzender Herr Q ist.

Am 01.01.2013 schlossen die Betriebsparteien eine Betriebsvereinbarung "Zuwendung aus besonderen Anlässen" (Bl. 3 f d. GA). Diese sieht anlässlich von Jubiläen, Geburtstagen, Hochzeit, Weihnachten etc. die Gewährung von Zuwendungen in Form von Waren, (Waren-)Gutscheinen oder Geldleistungen vor. Im Übrigen ist - soweit im Streitfall von Interesse - folgendes geregelt:

"§ 4 Schlussbestimmungen

Diese Betriebsvereinbarung tritt mit Wirkung zum 01.01.2013 in Kraft.

Sie kann mit einer Frist von drei Monaten zum Ende eines Kalenderjahres, erstmals zum 31.12.2013, gekündigt werden.

Bei ordentlicher Kündigung wirkt die Betriebsvereinbarung bis zum Abschluss einer neuen Vereinbarung nach.

(...)"

Wegen der weiteren Einzelheit wird auf die mit Antragsschrift als Anlage 1 in Kopie zur Akte gereichte Betriebsvereinbarung verwiesen.

Mit Schreiben vom 26.09.2017 (Bl. 5 d. GA) kündigte die Arbeitgeberin die Betriebsvereinbarung fristgemäß zum 31.12.2017 und gewährt seit Jahresbeginn 2018 ihren Mitarbeitern keine Leistungen mehr daraus.

Mit seinem am 24.01.2018 bei Gericht eingegangenen und der Arbeitgeberin am 26.01.2018 zugestellten Antrag begehrt der Betriebsrat die Feststellung, dass die Betriebsvereinbarung nachwirkt.

Er ist der Auffassung, aufgrund der in § 4 Abs. 3 der Betriebsvereinbarung getroffenen Regelung wirke die Vereinbarung über die am 31.12.2017 abgelaufene Kündigungsfrist hinaus nach, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werde. Dementsprechend sei die Arbeitgeberin auch weiterhin zur Gewährung von Zuwendungen nach der Betriebsvereinbarung verpflichtet.

Es handele sich um eine teilmitbestimmte Betriebsvereinbarung, nach der lediglich das "wie", also die Verteilungsgrundsätze, nicht aber das "ob" der Leistungsgewährung mitbestimmungspflichtig sei. Zwar entfalle nach der gesetzlichen Grundkonstellation im Falle der - wie hier - ersatzlosen Einstellung der auf Grundlage einer teilmitbestimmten Betriebsvereinbarung gewährten Leistungen die Nachwirkung. Im Streitfall sei aber in § 4 der Betriebsvereinbarung ausdrücklich eine Nachwirkung vereinbart worden, weil den Betriebsparteien bewusst gewesen sei, dass ohne gesonderte Regelung die Betriebsvereinbarung nicht nachwirke. Der Wortlaut sei insoweit eindeutig und mache nur Sinn, weil die Parteien vom gesetzlichen Regelfall hätten abweichen wollen.

Der Betriebsrat beantragt,

festzustellen, dass die Regelungen der Betriebsvereinbarung "Zuwendung aus besonderen Anlässen" vom 01.01.2013 nach Ablauf der Kündigungsfrist am 31.12.2017 weiter gelten bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden.

Die Arbeitgeberin beantragt,

den Antrag abzuweisen.

Sie meint, die streitgegenständliche teilmitbestimmte Betriebsvereinbarung wirke nicht nach. Ihre Kündigung sei mit dem Ziel erfolgt, sämtliche Zuwendungen mit Ablauf der Kündigungsfrist vollständig und ersatzlos einzustellen. Damit verblieben keine finanziellen Mittel mehr, über deren Verteilungsgrundsätze der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitzubestimmen hätte, mit der Folge, dass in diesem Fall die Nachwirkung entfalle.

Dementsprechend sehe die Betriebsvereinbarung eine Nachwirkung auch nur für den Fall vor, dass eine neue Regelung über die Verteilung der Zuwendungen zu verhandeln gewesen wäre, was aber bei vollständiger Einstellung der Zuwendung mangels Regelungsgegenstand nicht gegeben sei.

Vor diesem Hintergrund sei § 4 der Betriebsvereinbarung gerade nicht so zu verstehen, dass die Regelungen unter allen Umständen nachwirken sollten. Lediglich für den Fall, dass noch Verhandlungsmasse verblieben wäre, über deren "wie" der Verteilung noch zu verhandeln gewesen wäre, sollte die Betriebsvereinbarung nachwirken.

Wegen des übrigen Vortrages der Beteiligten wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

II.

1. Der Antrag ist zulässig.

Der Betriebsrat hat seinen Antrag zutreffend im arbeitsgerichtlichen Beschlussverfahren nach den §§ 2 a, 80 Abs. 1 ArbGG geltend gemacht. Die Antragsbefugnis des Betriebsrats und die Beteiligung der Arbeitgeberin ergeben sich aus den §§ 10, 83 Abs. 3 ArbGG.

Der Betriebsrat hat auch ein rechtliches Interesse an der beanspruchten Feststellung, § 256 Abs. 1 ZPO. Der Antrag zielt auf die Feststellung, dass die Regelungen der Betriebsvereinbarung vom 01.01.2013 über den 31.12.2017 hinaus weiter gelten. Der Antrag bezieht sich daher auf ein betriebsverfassungsrechtliches Rechtsverhältnis, nämlich die Nachwirkung einer Betriebsvereinbarung nach § 77 Abs. 6 BetrVG. Dieser Streit kann durch die Entscheidung über den gestellten Feststellungsantrag beigelegt werden.

2. Der Antrag ist jedoch unbegründet.

Die Betriebsvereinbarung "Zuwendungen aus besonderen Anlässen" vom 01.01.2013 hat aufgrund der Kündigung der Arbeitgeberin vom 26.09.2017 am 31.12.2017 geendet. Denn sie wirkt nicht nach.

a) Die streitgegenständliche Betriebsvereinbarung unterfällt nicht der gesetzlichen Nachwirkung gem. § 77 Abs. 3 BetrVG.

Danach gelten die Regelungen einer Betriebsvereinbarung in Angelegenheiten, in denen ein Spruch der Einigungsstelle die Einigung zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat ersetzen kann, weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden.

Betriebsvereinbarungen über Gegenstände, die nicht der zwingenden Mitbestimmung unterliegen, entfalten kraft Gesetzes keine Nachwirkung. Betriebsvereinbarungen mit teils erzwingbaren, teils freiwilligen Regelungen wirken grundsätzlich nur hinsichtlich der Gegenstände nach, die der zwingenden Mitbestimmung unterfallen. Dies setzt allerdings voraus, dass sich die Betriebsvereinbarung sinnvoll in einen nachwirkenden und einen nachwirkungslosen Teil aufspalten lässt. Andernfalls entfaltet zur Sicherung der Mitbestimmung die gesamte Betriebsvereinbarung Nachwirkung (str. Rspr. vgl. nur BAG Beschluss vom 05.10.2010 - 1 ABR 20/09, juris, Rdnr. 18).

Betriebsvereinbarungen über finanzielle Leistungen des Arbeitgebers, die dieser ohne eine vertragliche oder sonstige rechtliche Verpflichtung erbringt, sind regelmäßig teilmitbestimmt. Während der Arbeitgeber den Dotierungsrahmen mitbestimmungsfrei vorgeben kann, bedarf er für die Ausgestaltung, also für den Verteilungs- und Leistungsplan nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG, der Zustimmung des Betriebsrats. Die Nachwirkung derart teilmitbestimmter Betriebsvereinbarungen hängt im Falle ihrer Kündigung durch den Arbeitgeber davon ab, ob die gesamten freiwilligen Leistungen ersatzlos beseitigt oder lediglich reduziert werden sollen (BAG a. a. O., Rdnr. 19).

Will ein Arbeitgeber mit der Kündigung einer teilmitbestimmten Betriebsvereinbarung seine finanziellen Leistungen vollständig und ersatzlos einstellen, tritt keine Nachwirkung ein, da im Falle einer vollständigen Einstellung der Leistungen keine Mittel verbleiben, bei deren Verteilung der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitzubestimmen hätte (BAG a. a. O., Rdnr. 20).

Vor dem Hintergrund dieser Grundsätze handelt es sich um Streitfall um eine teilmitbestimmte Betriebsvereinbarung. Ohne rechtliche Verpflichtung entschied sich die Arbeitgeberin auf der Grundlage der Betriebsvereinbarung vom 01.01.2013 zu besonderen Anlässen wie Jubiläum, Geburtstag, Hochzeit, Weihnachten usw. ihren Arbeitnehmern freiwillig besondere Zuwendungen in Form von Waren, (Waren-)Gutscheinen oder Geldleistungen zu gewähren. Sie gab damit den Dotierungsrahmen, das "ob", mitbestimmungsfrei vor, während die Verteilungsgrundsätze, das "wie", der Mitbestimmung des Betriebsrates gem. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG unterlag.

Mit Schreiben vom 26.09.2017 kündigte die Arbeitgeberin die Betriebsvereinbarung fristgemäß zum 31.12.2017 mit dem Ziel, die Zuwendungen mit Ablauf der Kündigungsfrist vollständig und ersatzlos einzustellen. Damit verbleiben keine finanziellen Mittel mehr, über deren Verteilungsgrundsätze verhandelt werden könnte. Ist somit mangels Verteilungsmasse das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG nicht (mehr) betroffen, entfällt die gesetzliche Nachwirkung gem. § 77 Abs. 6 BetrVG.

b) Entgegen der Auffassung des Betriebsrates wirkt die Betriebsvereinbarung auch nicht aufgrund der in § 4 Abs. 3 der Betriebsvereinbarung getroffenen Regelung nach.

Die Vereinbarung der Nachwirkung einer freiwilligen Betriebsvereinbarung ist zulässig. Da sie nicht zu einer Perpetuierung des nachwirkenden Zustandes führen darf, wirkt sie in diesem Falle jedenfalls bis zum Spruch der Einigungsstelle nach (BAG Beschluss vom 28.04.1998 - 1 ABR 43/97, juris, Rdnrn. 43 ff.). Welche Bedeutung der Vereinbarung der Nachwirkung zukommt (deklaratorisch oder konstitutiv) ist durch Auslegung zu ermitteln. Dabei ist im Zweifel vom gesetzlichen Regelfall auszugehen. Soll eine gesetzlich nicht vorgesehene Nachwirkung vereinbart werden, so muss dies unmissverständlich erklärt werden (BAG Beschluss vom 21.08.2001 - 3 ABR 44/00, juris, Rdnrn. 47, 48; ErfKom./Kania, 17. Aufl., § 77 BetrVG, Rdnr. 106).

Betriebsvereinbarungen sind wegen ihres normativen Charakters nach den für Tarifverträge und Gesetze geltenden Regeln auszulegen. Auszugehen ist danach vom Wortlaut der Bestimmungen und dem durch ihn vermittelten Wortsinn. Insbesondere bei unbestimmtem Wortsinn sind der wirkliche Wille der Betriebsparteien und der von ihnen beabsichtigte Zweck zu berücksichtigen, soweit sie im Text ihren Niederschlag gefunden haben. Abzustellen ist ferner auf den Gesamtzusammenhang und die Systematik der Regelungen. Im Zweifel gebührt derjenigen Auslegung der Vorzug, die zu einem sachgerechten, zweckorientierten, praktisch brauchbaren und gesetzeskonformen Verständnis der Bestimmung führt (BAG Urteil vom 22.10.2015 - 8 AZR 168/14, juris, Rdnr. 20).

Dies zugrunde gelegt versteht die erkennende Kammer die Nachwirkungsklausel in § 4 Abs. 3 der Betriebsvereinbarung dahingehend, dass trotz bestehender Möglichkeit, eine Nachwirkung abweichend vom gesetzlichen Regelfall zu vereinbaren, im Streitfall lediglich die gesetzliche Regelung bezweckt und gewollt war.

Die gewillkürte Vereinbarung einer Nachwirkung hat in erster Linie dann einen Sinn, wenn es um eine in vollem Umfang freiwillige Betriebsvereinbarung geht, denn eine Betriebsvereinbarung, die in vollem Umfang der erzwingbaren Mitbestimmung unterliegt, wirkt bereits kraft Gesetzes nach. Unstreitig gehen beide Betriebsparteien von einer teilmitbestimmten Betriebsvereinbarung aus. Anders als bei einer freiwilligen Betriebsvereinbarung, die Kraft Gesetz keiner Nachwirkung unterliegt, weshalb die Vereinbarung einer Nachwirkung nur konstitutiven Charakter haben kann, ergibt sich im Falle einer teilmitbestimmten Betriebsvereinbarung aus dem Umstand der Nachwirkungsvereinbarung nicht ohne Weiteres, dass diese über die gesetzliche Regelung hinausgehen soll, weil bei teilmitbestimmter Betriebsvereinbarung die Nachwirkung gerade nicht in jedem Fall nach Gesetz ausscheidet, nämlich dann nicht, wenn noch ein zu verteilender Dotierungsrahmen verbleibt. Vor diesem Hintergrund bedarf es gerade in Fällen teilmitbestimmter Betriebsvereinbarungen konkreter Anhaltspunkte dafür, dass die Betriebspartner nicht lediglich die gesetzliche Regelung nachzeichnen, sondern konstitutiv eine davon abweichende Regelung treffen wollten (vgl. LAG Baden-Württemberg Beschluss vom 20.07.2017 - 17 TaBV 2/17, juris, Rdnr. 83).

Hiervon vermocht die erkennende Kammer im Streitfall nicht auszugehen.

Zwar sprechen sowohl die vom Gesetzeswortlaut abweichende Kündigungsregelung als auch der Wortlaut der Nachwirkungsregelung selbst für ein bewusstes Abweichen von der gesetzlichen Konzeption. Allerdings war im Hinblick auf die abweichende Kündigungsregelung zu berücksichtigen, die lediglich eine Kündigung zum Jahresende mit 3montiger Frist vorsieht, dass schon unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung allen Arbeitnehmern gleichermaßen die Zuwendungen gewährt werden, und einzelnen Arbeitnehmern durch Kündigung im Laufe eines Jahres z. B. Geburtstags- oder Jubiläumzuwendungen nicht abgeschnitten werden sollten.

Auch ist der Wortsinn der Nachwirkungsregelung selbst: "bis zum Abschluss einer neuen Vereinbarung" der gesetzlichen Regelung in § 77 Abs. 6 BetrVG - "bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden" - nachgebildet. Zwar wird vom Wortlaut des Gesetzestextes abgewichen, dennoch bleibt der Wortsinn erhalten. Denn mit "Abschluss einer neuen Vereinbarung" wird "eine andere Abmachung" erzielt. Jedenfalls sprechen im Zweifel diese Abweichungen nicht unmissverständlich für eine gewillkürte Nachwirkung (vgl. so auch LAG Baden-Württemberg Beschluss vom 20.07.2017 - 17 TaBV 2/17, juris, Rdnr. 85). Der Abschluss einer anderen Vereinbarung macht schließlich nur dann Sinn, wenn hinsichtlich des mitbestimmungspflichtigen Teils der Betriebsvereinbarung, also für der Frage der Verteilung, nach der insoweit mitbestimmungsfreien Entscheidung der Arbeitgeberin, die freiwillig gewährten Leistungen zu verändern, noch Mittel verbleiben, die es zu verteilen gilt. Die Zurverfügungstellung des Dotierungsrahmens ist im Streitfall gerade nicht erzwingbar. Entfällt dieser in Gänze, ist nicht davon auszugehen, dass über die gesetzliche Regelung hinaus eine Nachwirkung gewollt war. Der Wortlaut der Betriebsvereinbarung gibt dafür zumindest keine konkreten Anhaltspunkte her. Das gilt umso mehr als dass nach der streitigen Betriebsvereinbarung für eine Veränderung bzw. Verringerung des Dotierungsrahmes in jeder Hinsicht umfangreich Spielraum war, der somit der Mitbestimmung unterfallen wäre. Die Formulierung, dass die Betriebsvereinbarung bis zum Abschluss einer neuen Vereinbarung nachwirkt, spricht vor diesem Hintergrund eher für ein deklaratorisches Verständnis. Die Betriebsparteien haben seinerzeit bei Abschluss der Vereinbarung offensichtlich eine komplette Einstellung der Leistung gerade nicht in Betracht gezogen, was dafür sprechen könnte, dass sie lediglich entsprechend der gesetzlichen Regelung von einer Nachwirkung ausgegangen sind.

Zusammenfassend waren keine eindeutigen Hinweise für ein bewusstes Abweichen von der gesetzlichen Regelung ersichtlich, so dass die Kammer im Zweifel davon ausgeht, dass der Nachwirkungsregelung lediglich deklaratorischer Charakter zukommt, mit der Folge, dass die Betriebsvereinbarung keine Nachwirkung entfaltet.

Der Antrag war deshalb abzuweisen.