OLG Hamm, Beschluss vom 28.11.2017 - 1 RVs 92/17
Fundstelle
openJur 2019, 10054
  • Rkr:
Verfahrensgang
  • vorher: Az. 738 Ds 344/16

Zwar dürfte nur in einer kleineren Gruppe der Fälle des sogenannten Stalkings die genauere Prüfung von etwaigen Einschränkungen der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB geboten sein und kann nicht jedes rational unverständliche, obsessive Nachstell-Verhalten als Indiz für das Vorliegen einer psychischen Störung im Sinne von § 20 StGB angesehen werden. Eine solche Prüfung durch das - ggf. sachverständig beratene - Gericht kann aber insbesondere dann geboten sein, wenn der Angeklagte ausweislich einer früheren Verurteilung bereits zuvor ähnlich gelagerte Taten jeweils im Zustand verminderter Schuldfähigkeit begangen hat.

Tenor

Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen - mit Ausnahme der Feststellungen zu dem äußeren Tatgeschehen, die aufrechterhalten bleiben können - aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Abteilung des Amtsgerichts - Strafrichter - Dortmund zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Dortmund hat den Angeklagten am 10.07.2017 wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Hierbei hat das Amtsgericht festgestellt, dass der Angeklagte in der Vorstellung, dass er selbst der einzig richtige Mann für die Ehefrau des vorliegend Geschädigten sei, letzteren seit ungefähr 25 Jahren mit Phasen intensiver Telefonanrufe behelligt, was sich im verfahrensgegenständlichen Tatzeitraum zwischen dem 01.09.2014 und dem 19.11.2014 dahingehend steigerte, dass der Geschädigte zum Beispiel am 19.11.2014 zwischen 09:00 und 10:00 Uhr mehr als 40 anonyme Anrufe erhielt und es dann in der Zeit zwischen 18:00 Uhr und 18:50 Uhr zu weiteren mindesten 50 anonymen Anrufen sowie in der folgenden Nacht gegen 03:30 Uhr zu einem weiteren Anruf des Angeklagten kam. Dies führte bei dem Geschädigten - wie bereits bei früheren Anrufattacken des Verurteilten - zu Panikreaktionen mit erheblichen psychischen und physischen Belastungen wie Schwindel, Zittern, Steigerung des Blutdrucks und Magenkrämpfen. Im Rahmen der rechtlichen Würdigung hat das Amtsgericht insbesondere ausgeführt:

„Der Angeklagte handelte auch rechtswidrig und schuldhaft. Ausweislich des psychiatrischen Gutachtens des Sachverständigen Dr. S vom 01.02.2017 lagen bei dem Angeklagten die Eingangsvoraussetzungen der §§ 20/21 StGB nicht vor“.

Gegen dieses Urteil richtet sich das rechtzeitig eingelegte Rechtsmittel des Angeklagten, das er zunächst als Berufung bezeichnet und nach Zustellung des Urteils innerhalb der Revisionsbegründungsfrist als Sprungrevision bezeichnet und begründet hat. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts und beantragt, das angefochtene Urteil mit den getroffenen Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung und Verhandlung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Dortmund zurückzuverweisen.

Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt wie erkannt.

II.

Die zulässige Revision hat auf die Sachrüge hin vorläufig Erfolg und führt - mit Ausnahme der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zur äußeren Tat-

seite - zur Aufhebung des angefochtenen Urteils. Im Umfang der Aufhebung war die Sache nach § 354 Abs. 2 StPO zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Dortmund zurückzuverweisen.

Die Generalstaatsanwaltschaft in Hamm hat hierzu in ihrer Zuschrift vom 24.10.2017 unter anderem Folgendes ausgeführt:

„Die auf die Sachrüge gebotene Überprüfung des angefochtenen Urteils in materiellrechtlicher Hinsicht deckt einen Rechtsfehler im Zusammenhang mit den Erwägungen zur Schuldfähigkeit des Angeklagten zu dessen Nachteil auf. Die Feststellungen zum objektiven und subjektiven Tatbestand der Körperverletzung sind hingegen nicht zu beanstanden. …

Allerdings sind die Ausführungen des Amtsgerichts zur Schuldfähigkeit des Angeklagten lückenhaft. Das Amtsgericht hat ein psychiatrisches Gutachten des Sachverständigen Dr. S eingeholt und hierzu lediglich ausgeführt, dass danach bei dem Angeklagten die Eingangsvoraussetzungen der §§ 20, 21 StGB nicht vorlägen. Diese Ausführungen genügen den revisionsrechtlich zu stellenden Anforderungen nicht.

Schließt der Tatrichter sich einem Sachverständigen an, muss er sich grundsätzlich mit dem Gutachteninhalt auseinandersetzen und in den Urteilsgründen wenigstens die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und Darlegungen des Sachverständigen auf eine für das Revisionsgericht nachvollziehbare Weise wiedergegeben (Meyer-Goßner/Schmitt; StPO, 60. Aufl., § 267 Rn. 13; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 20 Rn. 65). Dies hat das Amtsgericht vorliegend unterlassen.

Das Amtsgericht konnte auf eine entsprechende Darstellung auch nicht ausnahmsweise verzichten.

Auf eine derartige Darlegung kann zwar dann verzichtet werden, wenn in einfacheren Fällen die eigene, in den Urteilsgründen wiedergegebene Würdigung des Gerichts mit der des Sachverständigen übereinstimmt. Ein derartiger Verzicht auf die Darlegung des wesentlichen Gutachteninhalts war allerdings nicht möglich, da das Amtsgericht eigene Erwägungen zur Frage der Schuldfähigkeit nicht anstellt.

Die fehlende ausreichende Beurteilung der Schuldfähigkeit des Angeklagten sowie die fehlende hinreichende Auseinandersetzung mit dem Gutachten können demnach nur dann rechtsfehlerfrei sein, wenn keine Veranlassung zu einer derartigen Beurteilung bestand. Auch dies war jedoch nicht der Fall. Ob zur Tatzeit eine schuldrelevante Störung vorgelegen hat, hat das Gericht, regelmäßig unter Zuziehung eines Sachverständigen, zu erforschen, wenn Besonderheiten der Tat oder der Täterpersönlichkeit hierzu Anlass geben (Fischer, StGB, 64. Aufl., § 20 Rn. 39a;). Dabei ist zu beachten, dass bei sogenanntem Stalking in einer kleineren Gruppe von Fällen eine genauere Prüfung einer Einschränkung der Einsichtsfähigkeit oder Steuerungsfähigkeit geboten sein kann (Fischer, StGB, 64. Aufl., § 238 Rn. 31; vgl. auch BGH NStZ-RR 2016, 40; OLG Hamm, Beschluss vom 03.03.2017 - II - 7 WF 130/16 -, juris).

Vorliegend musste sich das Amtsgericht - wie es durch die Einholung des Gutachtens auch zutreffend erkannt hat - mit der Schuldfähigkeit des Angeklagten auseinandersetzen. Es bestand die Besonderheit, dass der Angeklagte sich ohne Anlass, lediglich aufgrund eines flüchtigen Kontakts zu der Zeugin L, zu dieser hingezogen fühlte und die Zeugen L über einen sehr langen Zeitraum, nämlich ca. 25 Jahre, insbesondere mit Anrufen belästigte. Auch zwischenzeitliche Verurteilungen vermochten den Angeklagten nicht von seinem Verhalten abzuhalten. Eine für gewöhnlich zu erwartende selbstkritische Handlungs- und Impulskontrolle war bei dem Angeklagten nicht vorhanden, wie insbesondere auch die Vielzahl der in dem Urteil genannten Anrufe zeigt. Aufgrund dieser Besonderheiten bestand Anlass zur Erforschung einer ggfs. zur Tatzeit vorliegenden schuldrelevanten Störung, die das Amtsgericht nicht rechtsfehlerfrei in dem Urteil vorgenommen hat.

Die Feststellungen zu dem äußeren Sachverhalt können aufrechterhalten werden, da sie von dem Rechtsfehler nicht berührt sind.“

Diesen Ausführungen vermag sich der Senat im Ergebnis nicht zu verschließen.

Zwar teilt er die Einschätzung von Fischer (a.a.O., § 238 Rn. 31 m.w.N.), dass sich in der Mehrzahl der praktischen Fallgestaltungen des sogenannten Stalkings wohl gerade keine Probleme der Schuldfähigkeit stellen, nur in einer kleineren Gruppe dieser Fälle die genauere Prüfung von etwaigen Einschränkungen der Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit geboten sein wird und nicht jedes rational unverständliche, obsessive Nachstell-Verhalten als Indiz für das Vorliegen einer psychischen Störung im Sinne von § 20 StGB angesehen werden kann.

Über die bereits von der Generalstaatsanwaltschaft hervorgehobenen Gesichtspunkte hinaus ist vorliegend jedoch noch zu berücksichtigen, dass der Angeklagte - wie sich dem angefochtenen Urteil entnehmen lässt - wegen ähnlicher Taten zum Nachteil des auch vorliegend Geschädigten vom Amtsgericht Recklinghausen am 13.07.2000 wegen „vorsätzlicher Körperverletzung in 2 Fällen, begangen im Zustand verminderter Schuldfähigkeit“ verurteilt worden war. Angesichts dieser Feststellung zu ähnlich gelagerten, wenn auch schon lange zurückliegenden Taten des Angeklagten lag die Möglichkeit einer auch bei der vorliegend abgeurteilten Körperverletzung zumindest erheblich verminderten Schuldfähigkeit unter zusätzlicher Berücksichtigung der schon der Generalstaatsanwaltschaft angeführten Aspekte derart nahe, dass sich das Amtsgericht mit dieser Frage näher hätte auseinander setzen müssen. Die ohne nähere Ausführungen erfolgte Mitteilung, dass bei dem Angeklagten ausweislich eines psychiatrischen Gutachtens vom 01.02.2017 die Eingangsvoraussetzungen der §§ 20,21 StGB nicht vorlagen, erweist sich daher ohne konkrete Begründung als nicht hinreichend tragfähig, wobei im Übrigen in der erneuten Hauptverhandlung die Anhörung des psychiatrischen Sachverständigen naheliegen dürfte.

Daher ist das Urteil des Amtsgerichts Dortmund mit Ausnahme der Feststellungen zum äußeren Tatgeschehen, die von dem vorgenannten Rechtsfehler nicht betroffen sind (vgl. Meyer-Goßner in: Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 353 Rn. 15 m.w.N.), aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurückzuverweisen, die auch über die Kosten der Revision zu befinden hat.

III.

Für das weitere Verfahren weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass entgegen dem Revisionsvorbringen angesichts der für die Verurteilung vom 07.07.2008 maßgeblichen zehnjährigen Tilgungsfrist des § 46 Abs. 1 Nr. 2.a) BZRG gemäß § 47 Abs. 3 S. 1 BZRG auch hinsichtlich der früheren Verurteilungen des Angeklagten noch kein Verwertungsverbot (§ 51 Abs. 1 BZRG) besteht.